Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Wikipedia-Beitrag statt Hausarbeit

Von Oliver Fink

Zu den üblichen Leistungsnachweisen an der Universität gehört die Hausarbeit, mit der das wissenschaftliche Schreiben geübt werden soll. In einem Seminar an der Universität Heidelberg wurde nun eine Alternative erprobt: Statt der klassischen Hausarbeit konnten die Studierenden einen Artikel für die Online-Enzyklopädie Wikipedia verfassen.

„(Schreib-)Maschinen und Gesellschaft: Philosophische und soziologische Perspektiven auf ‚Neue Medien‘ und ihre Technik“ lautete das Thema des Seminars, das Philosophiedozent Christian Vater (rechtes Bild, Foto: Fink) gemeinsam mit Friederike Elias (Foto: Fink) vom Institut für Soziologie im vergangenen Wintersemester angeboten hatte. In einer dazugehörigen AG wurden die Studierenden im Umgang mit der Wikipedia und ihren Spielregeln geschult. Unterstützung erhielten die beiden Dozenten von dem Heidelberger Geschichtsstudenten und erfahrenen Wikipedianer Heiko Fischer (zweites Bild von links, Foto: Fink): „Die Mitarbeit bei Wikipedia hat mich bereits vor dem Studium mit wissenschaftlichen Schreibtechniken vertraut gemacht. Dass auch an der Uni Heidelberg jetzt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Online-Enzyklopädie begonnen hat, begrüße ich sehr.“

Einer der Studenten, die sich im dem Seminar für das Schreiben eines Wikipedia-Artikels entschieden hatten, ist Daniel Stil (Foto: Fink). Der Philosophiestudent verfasste einen Beitrag zu dem amerikanischen Technik-Philosophen Langdon Winner, von dem ein Essay im Seminar behandelt wurde und zu dem es noch keinen Wikipedia-Eintrag gab: „Sehr überrascht war ich über das große Spektrum der Diskussionsbeiträge als Reaktion auf meinen Artikel. Kommentiert wurde inhaltlich, teilweise auf hohem Niveau, und formal bis hin zur Rechtschreibung. Bei einer klassischen Hausarbeit gebe ich einen Text ab, auf dessen Beurteilung ich dann kaum noch einen Einfluss habe. Bei meinem Wikipedia-Beitrag konnte ich stattdessen immer wieder reagieren, mich zum Beispiel für bestimmte Dinge rechtfertigen oder aber auch konstruktive Kritik umsetzen.“

Diese auf der Wikipedia-Seite ebenfalls dokumentierte Diskussion, die in der Regel um ein Vielfaches umfangreicher ist als der eigentliche Artikel, war auch für die beiden Dozenten des Seminars sehr aufschlussreich. „Dort hatten wir Einblick, wie die Studierenden wissenschaftlich argumentieren oder warum sie sich für eine bestimmte Darstellungsweise entschieden haben“, betont Christian Vater. Daniel Stil konnte mit seiner Arbeit schließlich nicht nur seine Dozenten überzeugen – sein Beitrag wurde von den Wikipedianern sogar mit dem Attribut „lesenswert“ versehen.

Dass sich Lehre und Wikipedia gut verbinden lassen, bestätigt Friederike Elias: „Die Motivation der Studierenden, einen Beitrag für ein größeres Publikum zu schreiben und dementsprechend auch ein öffentliches, nicht selten auch ein kritisches Feedback zu bekommen, war sehr groß. Als Wissenschaftler sind wir nah an der aktuellen Forschung. Deswegen finde ich es wichtig, dass aus der Universität heraus Impulse zur Weiterentwicklung der Wikipedia und ihrer Einträge kommen, zum Beispiel über die Mitarbeit unserer Studierenden.“ Die Heidelberger Soziologin bietet daher auch in diesem Wintersemester im Zuge ihres Bachelor-Seminars, das sich mit Wirtschaft und Gesellschaft in Argentinien beschäftigt, eine Wikipedia-Übung für die Studierenden an – auch für Studentinnen und Studenten aus anderen Fachbereichen.

Wikipedia in der Wissenschaft

Ganz sicher ist Wikipedia das meist genutzte Lexikon der Welt. Was man bei der Nutzung – nicht zuletzt im Studium – aber beachten sollte, darüber gibt Christian Vater vom Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ Auskunft:

Welche Rolle spielt die Wikipedia in der Wissenschaft?

„Wikipedia-Artikel sind nicht zitierfähig, weder in wissenschaftlichen Aufsätzen noch in studentischen Hausarbeiten! Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Beiträge namentlich nicht gekennzeichnet sind und damit die Identität sowie die fachliche Qualifikation der Autoren nicht sichergestellt werden kann. Ungeachtet dessen weisen viele Artikel dennoch eine hohe wissenschaftliche Qualität auf. Und deshalb werden auch in der Universität von Studierenden, aber sicher auch von vielen Dozenten, Wikipedia-Artikel gerne genutzt, etwa um sich einen ersten Überblick über ein Thema zu verschaffen.“

Wer sind die typischen Wikipedia-Autoren?

„Ein Muster gibt es nicht. Es gibt Studierende und Doktoranden, die Artikel verfassen, aber auch Schüler und Lehrer. Im medizinischen Bereich etwa tragen viele Ärzte als Autoren oder zumindest als Kommentatoren zur Qualitätssicherung bei und verstehen das übrigens als Teil der Erfüllung ihres hippokratischen Eides.“

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der Online-Enzyklopädie?

„Manche fordern, dass die Wikipedia darauf hinarbeiten sollte, den Status einer wissenschaftlich zitierfähigen Enzyklopädie zu erlangen wie beispielsweise die Stanford Encyclopedia of Philosophy, die ebenfalls im Internet frei zugänglich ist. Ob das der richtige Weg ist, wird sich zeigen. Als Wissenschaftler und Dozent plädiere ich grundsätzlich für einen offenen, kooperativen, professionellen und zugleich kritischen Umgang mit der Wikipedia.“

Wikipedia wurde 2001 als frei verfügbares Online-Lexikon gegründet. Die Finanzierung erfolgt durch Spenden. Momentan existieren über 39,5 Millionen Artikel in annähernd 300 Sprachen, die von den Autoren aus eigenem Antrieb verfasst wurden. Darüber hinaus werden die Lexikonbeiträge nach dem Prinzip des kollaborativen Schreibens fortwährend bearbeitet und diskutiert. Die Organisationsstruktur wird hauptsächlich durch informelle Netzwerke bestimmt. In solche Netzwerke eingebundene Wikipedianer betreuen dabei als Redakteure auch einzelne Fachbereiche wie etwa „Chemie“ oder „Altertum“.

Anfang Oktober hatten der Sonderforschungsbereich „Materiale Textkulturen“ und das Institut für Klassische Archäologie der Universität Heidelberg gemeinsam mit Wikimedia Deutschland erstmals zu einer Schreibwerkstatt auch für Universitätsmitglieder eingeladen. Dabei ging es auch darum, einzelne Exponate der Antikensammlung der Ruperto Carola (Foto: Institut für Klassische Archäologie) in Wikipedia-Artikeln sichtbar zu machen.