Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der kälteste Krieg der Welt

Der höchstgelegene und kälteste Kriegsschauplatz der Welt liegt am Siachen-Gletscher im Norden Kaschmirs: Dort stehen sich seit 1984 indische und pakistanische Militärposten bis in Höhen von über 6500 Metern gegenüber (Fotos: Nüsser). Die extremen Bedingungen des Hochgebirges bergen die Gefahr von Lawinen, Stürzen in Gletscherspalten oder Erfrierungen, sorgen für logistische Schwierigkeiten bei der Versorgung und bringen immense Kosten mit sich. Daher wurde das umkämpfte Areal bislang lediglich als Sinnbild für die Absurdität des Konflikts gesehen.

Geographen der Universität Heidelberg haben nun auf der Grundlage einer detaillierten Konfliktanalyse bisher vernachlässigte Aspekte des lang andauernden Stellungskrieges herausgearbeitet. Sie kamen zu dem Schluss, dass gerade die extreme Topographie für eine Fortdauer dieses „Coldest War“ auf dem „Dach der Welt“ sorgt. Demnach wird das Hochgebirge von den Konfliktparteien wie eine Art Trainingsgelände für zukünftige Gebirgskriege in der Region genutzt. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Political Geography“ veröffentlicht.

Eingerahmt von weit über 7000 Meter aufragenden Massiven bildet der rund 73 Kilometer lange Siachen-Eisstrom den längsten Gletscher des Karakorum-Gebirges, das als höchster Gebirgsraum der Welt angesehen wird. In den Hochlagen können die Temperaturen bis auf minus 40 Grad Celsius fallen. „In dieser spektakulären Hochgebirgsarena am äußersten Rande dauerhafter menschlicher Existenz findet seit nunmehr 31 Jahren ein extrem aufwändiger, kostenintensiver und vielfach als absurd bezeichneter Stellungskrieg statt; er wird durch geostrategische Erwägungen, nationales Prestigedenken und den Wunsch nach Zugang zu bestimmten Ressourcen motiviert“, erklärt Prof. Dr. Marcus Nüsser vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg.

Gemeinsam mit Dr. Ravi Baghel, der am Exzellenzcluster „Asien und Europa im globalen Kontext“ der Ruperto Carola forscht, hat Nüsser die Zusammenhänge der bewaffneten Auseinandersetzung analysiert, die am 13. April 1984 begann und Teil des Kaschmir-Konflikts zwischen Indien und Pakistan ist. Im April 2012 rückte eine große Lawine, die ein pakistanisches Militärcamp traf und mehr als 100 Menschen verschüttete, den nahezu vergessenen Konflikt wieder in den Blick der Medien.

„Unsere Analyse hat unerwartete Zusammenhänge zwischen den besonderen Umweltbedingungen, der historisch entstandenen geopolitischen Konstellation, den bergsteigerischen Ambitionen und national aufgeladenem Heroismus auf beiden Seiten offengelegt“, sagt Marcus Nüsser. So sehen die Wissenschaftler eine Verbindung zwischen der speziellen Topographie des Kriegsschauplatzes und der Fortdauer des Konflikts. „Vor dem Hintergrund, dass hier ein Gebirgskrieg geübt werden kann, sollte man den Siachen-Konflikt weniger als groteskes militärisches Überbleibsel einer vergangenen Ära ansehen sondern eher als Übungsplatz für kommende Kriege im Hochgebirgsgrenzraum entlang der Südgrenze des tibetischen Plateaus“, erläutert Ravi Baghel.

Die Wissenschaftler verweisen hier auch auf den Konflikt um den Grenzverlauf zwischen Indien und China im Himalaya. Der Einsatz neuer Technologien wie etwa Drohnen wird nach Einschätzung der Heidelberger Forscher ebenfalls dafür sorgen, dass der Konflikt weiter anhält. Professor Nüsser: „Die Lawinenkatastrophe 2012 hat trotz kurzer Hoffnung auf Truppenabzug letztlich zur Verfestigung des Status quo beigetragen.“

Bei ihrer Auswertung zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und internationaler Medienberichte zum Siachen-Konflikt stellten Marcus Nüsser und Ravi Baghel zudem fest, dass es durchgängige Leitmotive gibt, die den Konflikt am Leben halten. Dazu gehören zum Beispiel Heroismus oder Territorialität. Auf Grundlage einer vergleichenden kartographischen Analyse, für die die Forscher auch historische Daten und Satellitenbilder verwendeten, konnten sie die Genese und einige spezifische Elemente der Auseinandersetzung herausarbeiten, zu denen die „kartographische Aggression“ zählt. Dabei handelt es sich um eine indische Charakterisierung einer Grenzlinienführung, die nicht dem Wasserscheidenprinzip entspricht. Eine Rolle spielt ferner die „Oropolitik“ – der Begriff steht für die Vergabe von Genehmigungen für Gipfelbesteigungen an internationale Bergsteiger, um dadurch nationale Zuständigkeit für das Territorium zu dokumentieren.

Baghel, R., & Nüsser, M. (2015). Securing the heights: The vertical dimension of the Siachen conflict between India and Pakistan in the Eastern Karakoram. In: Political Geography, 48, 24–36. doi:10.1016/j.polgeo.2015.05.001