Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Tapeten mit Ausführungen zur Differential- und Integralanalyse

Von Mirjam Mohr

Mit einem Anteil von etwa 13 Prozent sind in Deutschland Professorinnen in Mathematik und Naturwissenschaften noch immer deutlich unterrepräsentiert. Dabei erhielt bereits vor beinahe 125 Jahren, nämlich 1889, mit der Russin Sofja Kovalevskaja die weltweit erste Frau eine ordentliche Professur für Mathematik – allerdings nicht in Deutschland sondern im schwedischen Stockholm. Ihr Weg dorthin war steinig, denn sie musste sich ihr Wissen zu einer Zeit aneignen, in der Frauen in der Regel noch nicht zum Studium zugelassen waren.

Ihre ersten Erfahrungen an einer Hochschule sammelte Kovalevskaja an der Universität Heidelberg, an der sie ab dem Sommersemester 1869 inoffiziell an Vorlesungen teilnehmen durfte – als erste Frau, die an der Ruperto Carola eine Zulassung als Hörerin erhielt. Ihr Präzedenzfall, dem in den folgenden drei Jahrzehnten weitere Ausnahmefälle folgen sollten, führte dazu, dass sich schließlich namhafte Vertreter der 1890 neu eingerichteten Naturwissenschaftlich-Mathematischen Fakultät für das inzwischen in anderen Ländern Europas mögliche Frauenstudium aussprachen.

Am 19. Januar 1900 beschloss der Senat der Universität Heidelberg dann, Frauen zum Studium zuzulassen; am 28. Februar ermöglichte das Großherzogtum Baden als erstes deutsches Land per Erlass Frauen den vollen Zugang zu Universitätsstudien. Zum Sommersemester 1900 begannen in Heidelberg die ersten vier Frauen ganz offiziell ihr Studium – 31 Jahre nach Kovalevskajas wegweisender Rolle als erste Heidelberger Hörerin.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Mathematikerin bereits elf Jahre zuvor als Professorin in Stockholm gelehrt. Dies war nur möglich, weil sich die 1850 geborene Tochter eines Offiziers der zaristischen Armee, bei der sich schon früh eine mathematische Begabung zeigte, mit Mut und Beharrlichkeit ihre Karriere erkämpft hatte. Zwar bekam sie zunächst keinen Unterricht in Mathematik, da aber die Wände ihres Kinderzimmers mangels Tapeten mit Seiten aus Michail Ostrogradskis Ausführungen zur Differential- und Integralanalyse beklebt waren, führte ein „Tapetenstudium“ die Elfjährige in das Gebiet der Infinitesimalrechnung ein. Danach brachte sie sich selbst Trigonometrie bei, bevor ein Nachbar – selbst Mathematiker – ihren Vater überzeugte, dass sie Unterricht erhalten sollte.

Der Heidelberger Marktplatz gegen Ende des vorvergangenen Jahrhunderts.
Foto: Universitätsbibliothek

Mit 18 Jahren ging Sofja eine Scheinehe mit dem Paläontologen Vladimir Kovalevsky ein, um ohne Zustimmung ihres Vaters ins Ausland reisen und dort – soweit möglich – studieren zu können, was in Russland auch als Gasthörerin nicht möglich war. Im Sommersemester 1869 begann sie in Heidelberg unter anderen bei Hermann von Helmholtz ein Studium der Mathematik und Naturwissenschaften. Zusammen mit ihrer Schwester Anja und ihrem Mann wohnte sie in der Unteren Straße; heute steht an dieser Stelle ein Studentenwohnheim.

Nach drei Semestern wechselte Sofja Kovalevskaja nach Berlin und wurde dort Studentin des damals bekanntesten deutschen Mathematikers Karl Weierstraß. Dieser gab der jungen Frau zunächst eine besonders schwierige mathematische Aufgabe, in der Erwartung, dass sie diese nicht lösen könne. Doch nach bestandener Bewährungsprobe durfte sie sich trotz der Fürsprache des Hochschullehrers als Frau nicht immatrikulieren oder zumindest, wie in Heidelberg, Vorlesungen hören. Daraufhin unterrichtete Weierstraß sie drei Jahre lang privat.

1874 kontaktierte Weierstraß seinen ehemaligen Schüler Lazarus Fuchs, einen Professor in Göttingen, um Kovalevskaja eine Promotion in absentia zu ermöglichen, also ohne mündliche Prüfung. Ihre Dissertation „Zur Theorie der Partiellen Differentialgleichungen“ wurde mit „summa cum laude“ bewertet. Im Anschluss an die Promotion kehrte sie zunächst mit ihrem Mann nach Russland zurück, wo 1878 eine Tochter geboren wurde. 1881 kam sie wieder nach Berlin, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte.

„Ein weiblicher Mathematikprofessor ist eine gefährliche und unerfreuliche Erscheinung,
man kann ruhig sagen, eine Ungeheuerlichkeit.“

Dank Vermittlung des mit Weierstraß befreundeten schwedischen Mathematikers Gösta Mittag-Leffler erhielt Kovalevskaja 1884 eine Stelle als Privatdozentin in Stockholm, was nicht überall auf Zustimmung stieß. So schrieb der Schriftsteller August Strindberg: „Ein weiblicher Mathematikprofessor ist eine gefährliche und unerfreuliche Erscheinung, man kann ruhig sagen, eine Ungeheuerlichkeit. Ihre Einladung in ein Land, in dem es so viele ihr weit überlegene männliche Mathematiker gibt, kann man nur mit der Galanterie der Schweden dem weiblichen Geschlecht gegenüber erklären.“

Sofja Kovalevskaja ließ sich indes nicht entmutigen. 1888 wurde sie für ihre Arbeit „Über einen besonderen Fall des Problems der Rotation eines schweren Körpers um einen festen Punkt“ mit dem „Prix Bordin“ der französischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. 1889 erhielt sie als erste Frau eine Mathematik-Professur sowie den Preis der schwedischen Akademie der Wissenschaften. Zwei Jahre später starb Kovalevskaja vier Wochen nach ihrem 41. Geburtstag in Stockholm an den Folgen einer Lungenentzündung.

Nach der Vorkämpferin für Frauen in der Wissenschaft ist unter anderem der Sofja Kovalevskaja-Preis der Humboldt-Stiftung benannt – einer der höchst dotierten deutschen Wissenschaftspreise, mit dem herausragende Forschertalente gefördert werden.