Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Krieg gegen einen Pazifisten

Von Mirjam Mohr

Während der Weimarer Republik galt die Universität Heidelberg als liberale und weltoffene Hochschule. Doch der „Fall Gumbel“, der die Ruperto Carola von 1924 bis 1932 beschäftigte, zeigte bereits deutlich den „deutschen Un-Geist“, der mit Beginn der NS-Zeit den „lebendigen Geist“ für lange Zeit verdrängen sollte. Am 5. August 1932 entzog das Kultusministerium in Karlsruhe auf Antrag der Hochschule dem Statistik-Professor Emil Gumbel die Lehrerlaubnis. Er habe sich „in einer das nationale Empfinden verletzenden Weise geäußert“ und sei von der „Struktur seiner Gesamtpersönlichkeit“ her nicht geeignet, dem Lehrkörper weiter anzugehören.

1991, im Jahr des 100. Geburtstags Gumbels, stellte die Ruperto Carola schließlich klar: „Die Universität handelte falsch und beging Unrecht, als sie Gumbel ausschloss.“ Wer war Emil Julius Gumbel und was führte vor 80 Jahren nach neun Jahren Lehrtätigkeit an der Hochschule zu seiner Entlassung?

Als Gumbel 1923 nach Heidelberg kam, war er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch als politischer Autor und Justizkritiker bekannt: Veranlasst vom Terror der rechtsgerichteten Freikorps zu Beginn der Weimarer Republik hatte der Mathematiker in mühevoller Kleinarbeit die juristische Verfolgung aller politischen Morde seit der Novemberrevolution 1918 recherchiert. 1921 erschien sein Buch „Zwei Jahre Mord“, mit dem er nachwies, dass die weit überwiegende Zahl der politisch motivierten Morde im Zeichen des Rechtsterrorismus begangen worden war, diese aber wesentlich weniger hart bestraft wurden als Morde der politischen Linken oder häufig sogar ungesühnt blieben.

Gumbel IlTrotz einer erweiterten Neuauflage 1922 mit dem Titel „Vier Jahre politischer Mord“ blieben Gumbels (Foto: Universitätsarchiv) Veröffentlichungen ohne politische Konsequenzen – ihm selbst brachten sie aber Prozesse wegen Landesverrats ein. Gleichwohl waren seine wissenschaftlichen Leistungen unumstritten, so dass Gumbel ab dem Sommersemester 1923 einen Lehrauftrag als Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften und Statistik der Ruperto Carola bekam. Doch schon bald sorgte der entschiedene Republikaner und Sozialist, der wie viele junge Männer seiner Generation begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen und als Pazifist zurückgekehrt war, auch an der Universität für Unruhe: Im Juli 1924 rief er in der Heidelberger Stadthalle auf einer Veranstaltung der Deutschen Friedensgesellschaft zu einer Schweigeminute für die Kriegstoten auf, die „ich will nicht sagen auf dem Feld der Unehre gefallen sind, aber doch auf grässliche Weise ums Leben kamen“.

Das „Feld der Unehre“ beschwor einen Sturm der Empörung bei national-konservativen Akademikern herauf. Nach scharfen Protesten auch aus der national gesonnenen Studentenschaft beschloss die philosophische Fakultät, ein Untersuchungsverfahren zur Entziehung der venia legendi zu beantragen. „Die Universität sah offenbar eine Gelegenheit gekommen, sich des längst umstrittenen, obendrein jüdischen Dozenten wieder zu entledigen“, schreibt der langjährige Leiter des Heidelberger Universitätsarchivs, Prof. Dr. Werner Moritz.

Der Untersuchungsausschuss kam allerdings zum Ergebnis, dass die Beurteilung Gumbels „offenbar von politischer Partei- und Weltanschauung abhängig und keineswegs einheitlich ist“. Die Fakultät beschloss daher, lieber ein derart „unerfreuliches“ Mitglied zu ertragen als Gefahr zu laufen, „das kostbare, in einer langen Geschichte herausgebildete Prinzip der freien Lehre, der freien Vertretung aller Weltanschauungen“ zu verletzen. Auch weitere Disziplinarverfahren in den folgenden Jahren blieben erfolglos.

1930 verlieh das Kultusministerium Gumbel ohne Befragung der Fakultät den Titel außerordentlicher Professor, der ihm nach mehrjähriger Lehrtätigkeit zustand, was erneut einen breiten Sturm der Entrüstung auslöste (Repro: Universitätsbibliothek). Die Fakultät erklärte, sie könne die Ernennung nicht gutheißen. Auch die Angriffe der inzwischen einflussreichen nationalsozialistischen Studentenschaft auf Gumbel wurden stärker und schärfer. Mit einer Unterschriftensammlung, die auch Heidelberger Bürger einbezog, sollte er aus dem Amt entfernt werden, was der Senat allerdings missbilligte.

Neben den zunehmenden Angriffen auf Gumbel gab es aber auch Solidaritätsbekundungen. So erklärte der junge Student Golo Mann in einem Leserbrief an das „Heidelberger Tageblatt“: „Man zerschlägt die Idee der Universität, deren Lehrfreiheit man durch den Kampf gegen einen Dozenten, nur um seiner Gesinnung willen, auf das gröblichste verletzt, (...) man sucht das Leben eines Menschen zu zerstören, dessen ganze Sünde es ist, in seiner Gesinnung ebenso radikal zu sein, wie seine Gegner es sind, und eben eine eigene Meinung, nicht diejenige seiner Gegner zu haben.“

Albert Einstein sprach Gumbel ebenfalls seinen Respekt für dessen wissenschaftliche Leistung und seine Persönlichkeit aus: „Das Verhalten der akademischen Jugend gegen ihn ist eines der traurigsten Zeichen der Zeit, welche das Ideal der Gerechtigkeit, Toleranz und Wahrheit so wenig hochhält. Was soll aus einem Volke werden, das solche Zeitgenossen brutal verfolgt und dessen Führer dem gemeinen Haufen keinen Widerstand entgegensetzen?“, schrieb Einstein im November 1930, rund zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, an den Heidelberger Jura-Professor und ehemaligen Reichsjustizminister Gustav Radbruch, einen der wenigen Unterstützer Gumbels an der Hochschule.

Gumbel Radbruch IrIn dieser aufgeheizten Stimmung löste 1932 eine weitere Äußerung Gumbels ein neues, diesmal erfolgreiches Disziplinarverfahren aus: Auf einer Versammlung der Sozialistischen Studentenschaft erklärte er in Anspielung auf die Hungerjahre des Ersten Weltkriegs, dass eine „riesige Kohlrübe“ ein geeigneteres Kriegerdenkmal sei als „eine leichtbekleidete Jungfrau mit der Siegespalme in der Hand“. Auf einen mit Zustimmung des Engeren Senats der Universität gestellten Antrag der Philosophischen Fakultät hin eröffnete das Kultusministerium eine Untersuchung gegen Gumbel, dessen Verteidigung Radbruch (Foto: Universitätsbibliothek) übernahm.

Der Untersuchungsausschuss erklärte, nicht Gumbels politische Überzeugung sondern die „Struktur seiner Gesamtpersönlichkeit“ lasse sein Verbleiben im Lehrkörper unvereinbar mit Würde und Ansehen der Universität erscheinen. Die Fakultät schloss sich dem Gutachten an und betonte, dass „nunmehr endgültig ihre Geduld, die sie gegen Prof. Dr. Gumbel bis zum äussersten bewahrt habe, erschöpft sei und die Fakultät es für unerträglich halte, etwa noch weiterhin abzuwarten, ob sich Prof. Dr. Gumbel trotz allem in Zukunft bewähren werde“.

Gumbel selbst erklärte in seiner Verteidigungsschrift: „In einem Lande, das entsprechend dem Kellogg-Pakt den Krieg geächtet hat, besteht für niemanden und gewiß nicht für einen Lehrer, dessen Unterricht nach der Reichsverfassung im Geiste der Völkerversöhnung zu geschehen hat, eine Verpflichtung, dem Krieg anders als mit Grauen gegenüberzustehen.“ Doch es nützte nichts: Am 5. August 1932 wurde ihm die Lehrerlaubnis entzogen.

Nach der Machtergreifung Hitlers emigrierte Gumbel 1933 zunächst nach Paris, noch im gleichen Jahr wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und es wurden seine Schriften verboten. 1940 gelang ihm nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich die Flucht in die USA, wo er zwar Sicherheit fand, aber erst 1953 eine Festanstellung als Akademiker. 1955/56 erhielt er Wiedergutmachungszahlungen und es wurde ihm die Pension eines Ordinarius gewährt. 1966 starb er in New York – in Deutschland war er außerhalb mathematischer Fachkreise inzwischen weitgehend vergessen.

Da Emil Gumbel bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten (Foto des Universitätsplatzes in der NS-Zeit: Stadtarchiv Heidelberg) entlassen worden war, steht sein Name nicht auf der Gedenktafel der Ruperto Carola für ihre während der NS-Zeit vertriebenen Hochschullehrer. Doch 1991 rehabilitierte ihn die Universität zu seinem 100. Geburtstag mit einer akademischen Gedenkfeier, bei der die Unrechtmäßigkeit seiner Entlassung ausdrücklich festgestellt wurde. „Dass die inkriminierten, mit der Forschungs- und Lehrtätigkeit von Gumbel in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehenden politischen Aktivitäten aus heutiger Sicht keinen hinreichenden Grund zu einer derartigen Entscheidung geben würden, steht für mich vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich geschützten allgemeinen Meinungsäußerungsfreiheit außer Zweifel“, stellte der damalige Universitätsrektor Prof. Dr. Peter Ulmer heraus.

Der Historiker Prof. Dr. Eike Wolgast erklärte, trotz aller Gegenbeteuerungen habe die Universität damals ein Werturteil absolut gesetzt und „letztlich nicht die öffentliche Artikulation der politischen Gesinnung ihres Kollegen – und selbst darüber stand ihr kein Urteil zu – sondern die Gesinnung selbst“ bestraft. Einer der Nachfolger Gumbels auf dem Lehrstuhl für Statistik, Prof. Dr. Hartmut Kogelschatz, betonte, seine wissenschaftlichen Leistungen – nach ihm ist beispielsweise die „Gumbel-Verteilung“ benannt – machten deutlich, „welchen großen Verlust die deutsche Wissenschaft durch den Entzug seiner venia legendi an der Universität Heidelberg im Jahre 1932 erlitt.”

Auch wenn Emil Gumbel selbst diese Rehabilitierung nicht mehr erlebte, blieb er seinen politischen Überzeugungen, die ihn Amt und Würde gekostet hatten, bis zum Lebensende treu: Als überzeugter Pazifist engagierte er sich an der amerikanischen Columbia-Universität noch kurz vor seinem Tod gegen den Vietnam-Krieg.

Siehe auch: „Ruhestörer und Friedensbrecher des akademischen Gemeinschaftslebens“