Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„SpeechAct!“: Studierende bestimmen Seminarthema selbst

Von Maria Becker, Evi Schedl, Katharina Jacob und Maria Mast

Wie können wir Einfluss auf unsere Gesellschaft nehmen? Und was können wir konkret zu unserer Gesellschaft beitragen? In der Seminar- und Forschungswerkstatt „SpeechAct!“ des Germanistischen Seminars wurde im vergangenen Wintersemester versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden – und zwar ganz praktisch und konkret. Unter Anleitung von Dr. Friedemann Vogel betrieben Studierende und Promovierende „linguistische Gesellschaftsanalyse“.

Ausgangspunkt waren Themen, die viele bewegen und interessieren. Während der ersten Sitzungen wurde diskutiert, welche konkreten Fragestellungen bearbeitet werden sollten. Das Thema der Untersuchung bestimmten die Studierenden also selbst in der Diskussion mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen – ein Novum. Im Ergebnis entstanden drei eigenständige Projektgruppen rund um das Thema „Sprache und Wirtschaftskrise“.

Eine der Gruppen stellte Untersuchungen zu der Verwendung von Metaphern in der Wirtschaftsberichterstattung an. Ausgehend von der Beobachtung, dass in Beiträgen über die Weltwirtschaftskrise und die Finanzkrise Griechenlands häufig sprachliche Bilder wie „wirtschaftlicher Tsunami“ oder der allzu bekannte „Rettungsschirm“ eingesetzt werden, analysierten die Studierenden die Funktion und Verwendung solcher Metaphern. Die qualitative und quantitative Untersuchung der vier Medien Bildzeitung (BILD), Die Welt, Tageszeitung (taz) und Financial Times Deutschland ergab eine bestimmte Systematik hinter dem metaphorischen Sprachgebrauch in der Medienberichterstattung. So lassen sich die Metaphern vier großen Kategorien zuordnen: Krankheit und Heilung und Rettung, Natur und Physik, Krieg und Kampf und Konflikt sowie Märchen und Mythologie und Religion.

Die Rede ist dabei von einem „von allen Seiten bandagierten Euro“ (Die Welt, 8. November 2011), dem „Sog der Krise“ (Tageszeitung, 4. November 2011) oder auch der „Feuerkraft des Rettungspakets“ (7. November 2011). Die „Goldreserven der Bundesbank“ sind außerdem so heilig, dass sie nicht mit in den „Rettungstopf“ geworfen werden können, um das „Euroland“ (Die Welt, 7. November 2011) zu retten. Die Metaphern waren der Untersuchung zufolge nicht nur zahlreich vertreten, sie hüllten häufig auch den gesamten Text in eine Art Allegorie. Sie eröffneten ein zusammenhängendes Bild (die „Wirtschaftskrise“ zum Beispiel als „Märchen“ des Kampfes zwischen Riesen und Zwergen), in dem der verhandelte Sachverhalt sprachlich perspektiviert und zubereitet wurde. Jede Metapher schien außerdem eine pointierte Bewertung in sich zu bündeln, die weitere Analysemöglichkeiten eröffnen könnte: In welcher Metaphernkategorie wird vermehrt auf welche Weise bewertet? Und inwiefern beeinflusst die Wahl der Metapher die Wahrnehmung des Lesers?

Eine weitere Gruppe ging der Frage nach, ob die Rezeption eines Artikels in den Printmedien entscheidend durch das dazugehörige Bildmaterial geprägt wird. Die Gruppe nahm dazu eine stichprobenartige Umfrage an der Universität vor. Ihre Hypothese lautete: Ein Bild, welches die Beziehung zwischen zwei Akteuren veranschaulicht, beeinflusst die Textrezeption; wobei ein Bild, das die Beziehung positiv darstellt, zu einer positiveren Textrezeption führt, ein negatives zu einer negativeren.

Thema der Umfrage war das deutsch-französische Verhältnis im Kontext der Finanzkrise. Die Probanden erhielten dazu den gleichen Text, der die Zusammenarbeit von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy in der Eurokrise zum Inhalt hatte. Den Artikeln wurde bei einer der Probandengruppen ein Bild beigelegt, das Merkel und Sarkozy in stark kooperativer Haltung zeigte. Eine zweite Gruppe erhielt mit dem Beitrag ein Foto, das das Verhältnis der beiden Politiker eher negativ beleuchtete. Die dritte Gruppe bekam den Text ohne ein Bild. In einem Fragebogen sollten die Probanden anschließend eine Einschätzung des Verhältnisses vornehmen. Nach Berechnung der Mittelwerte, Standardabweichungen und Korrelationen und unter Berücksichtigung von Verzerrungsvariablen konnte gezeigt werden, dass das Bild tendenziell einen Einfluss auf die Textrezeption ausübte. Wobei sich zwar ein positiver Einfluss des positiven Bildes ausmachen ließ, jedoch kein negativer des negativen.

Dem Emotionsgehalt und Gewaltpotenzial von Nutzerkommentaren in Nachrichtenforen im Internet rund um die Finanz- und Wirtschaftskrise widmete sich eine dritte Gruppe. Schon zu Beginn der Untersuchung wurde deutlich, dass sich viele Internetnutzer nicht primär an einer Diskussion über den jeweiligen Artikel beteiligen wollen, sondern die Kommentare vielmehr verfassen, um ihrem persönlichen Unmut über das politische und wirtschaftliche Geschehen, über bestimmte Politiker oder ethnische Gruppen Luft zu machen. Aufgrund der Anonymität des virtuellen Raumes und der damit einhergehenden fehlenden sozialen Kontrolle treten alltägliche Normen des höflichen Umgangs außer Kraft, sodass beleidigende, diskriminierende und provokative Kommentare wie folgender (web.de) keine Seltenheit sind: „Diese Hirnakrobaten und Finanzclowns haben NICHTS zur Lösung aufzuzeigen – können nur dumm rumschwafeln, mit den absurdesten ‚Finanz-Zaubertricks‘ (Hebelwirkung und anderer Schwachsinn) die Leute verarschen, sich selber beweihräuchern. Und allen voran das Merkel!!!“

Zwischen den einzelnen Foren ließen sich allerdings deutliche Unterschiede feststellen, so die Studierenden über das Ergebnis ihrer Untersuchung: Die heftigsten verbalen Angriffe, sei es auf Politiker, auf „die Griechen“ oder auf andere Forennutzer, fänden sich bei bild.de und web.de mit ihrem sehr breiten Leserpublikum. Doch auch in den Foren von Spiegel-Online und dem Handelsblatt seien emotionale und gewaltsame verbale Ausbrüche keine Seltenheit. Lediglich die Kommentare in den transparent zensierten Foren von zeit.de erfüllten die angedachte Funktion von Nachrichtenkommentaren – eine sachorientierte, basisdemokratische Auseinandersetzung über das politische Geschehen.

Am Ende des Seminars hatten die Studierenden nicht nur die konkrete Untersuchungsfrage beantwortet. Sie hatten auch ein Stück weit verstanden, dass jeder von uns durch seine kritische Beobachtung unserer sozialen Welt und durch das methodische und begriffliche Werkzeug, das ihm die Wissenschaftsdisziplin an die Hand gibt, zum Verständnis, zur Bewertung und damit zur Veränderung der Welt beitragen kann. In einem freien, offenen und begleiteten Rahmen, in dem von Dr. Friedemann Vogel viel Raum für Eigeninitiative gewährt wurde, konnten die Studierenden praxisorientiert arbeiten – das heißt an einem Thema, das sie selbst beschäftigte, und auf eine Art und Weise, die sie selbst wählten. Insbesondere die „Umfrage-Gruppe“ profitierte von der Möglichkeit, Verfahren zu erproben, die sonst nicht Teil des Studienprogramms der Germanistik sind. Die gemeinschaftliche Arbeit innerhalb der jeweiligen Gruppen sowie der intensive und kooperative Austausch untereinander ermöglichte es nach allgemeinem Tenor, eine für viele völlig ungewohnte Art der wissenschaftlichen Betätigung im Team zu praktizieren.

SpeechAct! Linguistische Gesellschaftsanalyse II“: Ab Montag, 16. April, 9.15 Uhr, Karlstraße 2, Raum 004.