Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Einzigartige Bildnisse als Zeugnisse der NS-Grausamkeit

Von Maike Rotzoll

„Man kann eine zwölf Jahr lang anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern architektonisch nicht gliedern. Man kann Statistik nicht komponieren.“ So begründet es Erich Kästner im Jahr 1961, keinen Roman über die NS-Zeit geschrieben zu haben. Doch wo Kästner dem Versuch eines „kolossalen Zeitgemäldes“ misstraut, da gilt seine Skepsis nicht den „kleinen Bildern aus dem großen Bild“; und er veröffentlicht sein Tagebuch aus der Zeit des Kriegsendes unter dem Titel „Notabene 1945“.

44 kleine Bilder wiederum hat Wilhelm Werner hinterlassen, ein bislang unbekannter Psychiatriepatient aus der unterfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Werneck. 1940 starb er in einer der Tötungsanstalten des nationalsozialistischen Krankenmordes, in Pirna-Sonnenstein. Doch seine Zeichnungen haben überlebt. Ein ehemaliger Verwaltungsangestellter aus Werneck hat sie aufbewahrt; und so konnten sie kürzlich von der Heidelberger Sammlung Prinzhorn erworben und gezeigt werden – eine Sensation.

In dichter Abfolge wurden Werners Bleistiftzeichnungen als Kabinettausstellung in der Sammlung präsentiert. Es sind helle, nur auf den ersten Blick unspektakuläre Blätter: Buchseiten auf dem düsteren Hintergrund der dunkel gestrichenen Wände, eng zusammengerückt und in drei Zeilen angeordnet. Tatsächlich hatte Werner, der sich selbst „Kunstmaler“, aber auch „Volksredner“ und „Theaterrekesör“ nannte, die Zeichnungen als Buch angelegt und sie dem Thema „Sterelation“ gewidmet.

Zuvor hatte er selbst, wie zahlreiche Mitpatientinnen und Mitpatienten aus Werneck und wie etwa 400 000 Menschen im Deutschen Reich insgesamt, die traumatisierende Erfahrung dieser Operation durchleben müssen.

Außer seinem Werk hat Werner kaum Spuren hinterlassen. Alle über ihn angelegten Akten scheinen verloren, nur eine Zeile im Aufnahmebuch der Anstalt Werneck hat sich erhalten. Danach wurde Werner 1898 im fränkischen Nordheim bei Gerolzhofen geboren, war katholisch, ledig und ohne Ausbildung. 1919 nahm man ihn in Werneck auf. Er erhielt die Diagnose „Idiotie“. Und blieb bis Oktober 1940 dort.

Zwang I1

Wahrscheinlich war er arbeitsfähig und hatte einen gewissen Aktionsradius, denn ohne „Fortpflanzungsgefahr“ hätte man ihn kaum sterilisiert. Bei der recht plötzlichen Räumung der Anstalt Werneck im Oktober 1940 – sie wurde zu einem Umsiedlerlager umfunktioniert – wurde fast die Hälfte der Patientinnen und Patienten direkt oder auf Umwegen in Tötungsanstalten der Vernichtungsaktion „T4“ verlegt, darunter Wilhelm Werner.

Seine kleinen Bilder sind einzigartig. Ohnehin sind kaum Werke von Insassen psychiatrischer Anstalten aus der NS-Zeit erhalten. Bilder, in denen das Trauma der Zwangssterilisation thematisiert wird, sind bisher überhaupt nicht bekannt geworden.

Die Figuren in Werners Zeichnungen, deren Köpfe meist im Profil erscheinen, erinnern an Marionetten, da die Arme nur an einem Punkt an den stets voluminösen Körpern befestigt und die Hände oft schematisch wie Fäustlinge gestaltet sind. In den Bildern des „Theaterrekesörs“ treten auf: Ordensschwestern im Habit mit Hauben und Halsbinden, eine bekleidete Frau, Männer in Anzügen, nackte Männer, Clowns mit kugeligen Körpern, teils bekleidet, teils nackt, sowie nackte Knaben.

Werner inszeniert auf seinen Zeichnungen häufig Begegnungen; meist treten Ärzte und Pflegepersonal dem Opfer eines operativen Eingriffs gegenüber. Dabei wird den Ärzten die Rolle von Beobachtern und Kontrolleuren gegeben, während Ordensschwestern oder anonyme Hände an den Geschlechtsteilen der betroffenen Männer und Knaben manipulieren.

Die Sympathie Werners gehört zweifellos den Opfern. Im Gegenüber zu den Tätern stellt er sie hilflos und bemitleidenswert dar. Besonders beeindrucken die runden Clowns, die zwar lustig gekleidet scheinen, aber mit ernstem Blick den Eingriff erdulden oder mit operativ entfernten Organen Kunststücke vorführen. Zugleich werden Ärzte und Pflegerinnen nicht eindeutig als böse charakterisiert: Die einzelnen Männer oder Ordensschwestern, die Werner in Halb- oder Ganzfigur wie als Kniestück vorstellt und die offenbar durchweg als Porträts gemeint sind (auch wenn nur ein Mann wiederholt durch eine Beischrift identifiziert wird: der Schweinfurter Chefchirurg Dr. Hans Weinzierl), strahlen ruhige Würde und Autorität aus.

Immer wieder zeigt Werner, wie Männern, kindhaften Gestalten oder Clownsfiguren kugelig schematisierte Hoden entfernt werden. Es geht hier also um Kastration, um „Entmannung“ mit Entfernen des paarigen Organs. Dies entsprach nicht dem damals üblichen Vorgehen; das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sah grundsätzlich die Unfruchtbarmachung, also die Durchtrennung der Samenleiter beim Mann und der Eileiter bei der Frau vor.

Zwang I2

Es spricht nichts dafür, dass Werner tatsächlich einer Kastration im medizinischen Sinne unterzogen wurde. Offenbar hat er jedoch den Eingriff als „Entmannung“ erlebt und für dieses innere Erleben die Entfernung der Hoden als Motiv gewählt. Solches Symbolisieren wurde wahrscheinlich durch die Bildwelt der katholisch geprägten Umgebung inspiriert.

Neun seiner Zeichnungen hat Werner den chirurgischen Instrumenten gewidmet – betitelt: „(Für) Sterelationssache“. Viele erinnern an klassische Instrumentendarstellungen aus chirurgischen Lehrbüchern und zeigen Schalen, Haken, Spritzen oder Sterilisatoren (zur Entkeimung der Instrumente), wie sie Werner vor und während der Operation gesehen haben kann. Denn eine allgemeine Betäubung war weder bei der Sterilisation, noch bei der Kastration des Mannes üblich – „die örtliche genügt vollkommen“.

Auf zwei weiteren Blättern wird Schritt für Schritt veranschaulicht, wie man solche Instrumente bei der Operation der Hoden einsetzt. Die Akteure sind auf Hände und angeschnittene Arme reduziert.

Werners Annäherung von Organischem und Technischem scheint mit einer Ambivalenz in der Darstellung von technischen Apparaten auf seinen Zeichnungen in Zusammenhang zu stehen. Zweimal beherrschen hier komplizierte Apparate mit Leitungen, die das Bildfeld verspannen, das Umfeld der Figuren, einmal erscheint ein Clownskopf eingeschlossen in eine Maschine, einmal tritt ein Apparat zwischen Ordensschwester und winzige Clownspuppe. Sind Menschen zum einen ohnmächtig gegenüber der Technik gezeigt, so werden die Details der Apparate andererseits nicht dämonisiert. Vielmehr gestaltet sie Werner geradezu liebevoll detailliert aus. Es scheint, als verkörperten sie für den Zeichner eine vertrauenswürdige Ordnung, die durchaus ästhetische Aspekte hat.

Die bislang ermittelten Fakten zum Leben Wilhelm Werners werfen genauso wie seine Zeichnungen eine Fülle von Fragen auf. Bei der Suche nach Antworten geht es nicht nur um weitere Erkenntnisse zu dem Einzelschicksal eines Patienten der Anstalt Werneck, der zeichnete.

Werners Bilder geben auf einzigartige Weise Einblick in das subjektive Erleben eines entwürdigenden operativen Eingriffs, während die „große Chronik“ nach Kästner nur „Zahlen nennt“ und „Bilanzen zieht“, den Menschen jedoch verbirgt. Werners Zeichnungen machen es möglich, „zurückzublicken, ohne zu erstarren“; sie sind konkrete Kristallisationskerne der Erinnerung an das Unrecht der Zwangssterilisation und des Krankenmordes, „Zündstoff für das kollektive Gedächtnis“.

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