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Fünf Bewährungsproben für das Recht in Europa

Ein Bürger der Europäischen Union ist nicht Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Europa, sondern Menschenrechtsträger in einem Verbund europäischer Staaten. Paul Kirchhof vom Institut für Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht beschreibt die originäre und erstmalige Organisationsform der Europäischen Union als eine Gemeinschaft von Verfassungsstaaten und nennt fünf Bewährungsproben für die Entwicklung des Rechts in Europa.

Europa findet seine Identität in der Einheit seiner Kultur und der Vielheit seiner Staaten. Das moderne Verfassungsrecht wird durch die europäische Idee der Würde jedes Menschen geprägt, dieses radikalen Satzes von der Gleichheit in der Freiheit, ebenso aber auch durch dessen Konkretisierung in den historisch gewachsenen Staaten. Auf dieser Grundlage ist die Geschichte des Rechts in Europa stets auch eine Geschichte der Staatenbündnisse, die den Frieden in Europa, den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch, die unbehinderte Begegnung der Menschen, insbesondere auch die europaweite Zusammenarbeit der Wissenschaft gewährleisten und organisieren. Der Verbund der Hansestädte, die Wirtschaftseinheit im Römischen Recht, der familiäre Zusammenhalt europäischer Adelsgeschlechter bei der Ausübung staatlicher Herrschaft, der maßstabgebende Einfluß der Kirche auf die Hoheitsträger und die berufsständische Wanderschaft von Handwerkern, Studenten und Wissenschaftlern durch Europa zeigen Organisationsformen der Zusammenarbeit, die kulturelle Einheit und staatliche Vielfalt nicht als Gegensatz, sondern als wechselseitig bedingt ausweisen.
Gegenwärtiger Ausgangspunkt dieser europäischen Kooperation sind die Staaten, die den Staatsvölkern ihre politische Organisationsform geben, in dieser Legitimation Frieden sichern und Menschenrechte gewährleisten.

Die Staatsvölker

Der Verfassungsstaat findet heute fast überall in Europa als Form zur Organisation und Begrenzung politischer Herrschaft Anerkennung. Nur in wenigen Gebieten Europas ist es bisher nicht gelungen, einem Volk seinen Staat zu geben, seine politische, wirtschaftliche und rechtliche Zugehörigkeit zu seinem Staat zu festigen, um Demokratie zu ermöglichen und eine Friedensordnung zu schaffen.
Europakarte Zugleich verlangen die staatenübergreifend tätigen Wirtschaftsunternehmen eine internationale Organisation der kollektiven Sicherheit, Wanderungsbewegungen in ganz Europa, eine Technik ohne Grenzen, aber auch Aufgaben der Besteuerung oder der Kriminalitätsbekämpfung, Kooperationen unter den Staaten, die Rechtsverantwortlichkeiten in einem Geflecht von Verträgen begründen oder auch auf eine zwischenstaatliche Organisation übertragen. Deshalb haben – anfangs sechs, nunmehr 15 und demnächst nahezu 20 oder mehr – Mitgliedstaaten die Europäische Union gegründet, in der sie sich verpflichten, einige ihrer Befugnisse gemeinsam auszuüben.
Die Europäische Gemeinschaft schafft Organe, die unmittelbar geltendes Recht setzen, eigene Gemeinschaftsbelange, insbesondere durch Rechtsetzung und Rechtskontrolle wahrnehmen und Recht zur Wahrung dieses Europarechts sprechen. Die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt durch Organe der Europäischen Union wird inzwischen auch in der Europäischen Währungsunion augenfällig, die das nationale durch ein europäisches Zahlungsmittel ersetzt, den hoheitlichen Garanten des Geldeinlösungsvertrauens austauscht und insoweit die mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften vergemeinschaftet. Auch diese gemeinsame Ausübung von Hoheitsbefugnissen in einem Staatenverbund findet jedoch in dem jeweiligen Staat ihren Anlaß, ihre Rechtfertigung und ihren Verantwortungsträger. Der Unionsvertrag wird durch Vereinbarung der Mitgliedstaaten und mit Erteilung des Rechtsanwendungsbefehls durch das parlamentarische Zustimmungsgesetz in dem jeweiligen Mitgliedstaat verbindlich. Das Grundgesetz begrenzt die Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union durch eine Struktursicherungsklausel, die Grundlagenanforderungen an die Europäische Union stellt (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG), durch eine Identitätsgarantie für den Mitgliedstaat im Rahmen der Europäischen Union (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG), die in einer Gewährleistung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch Art. F Abs. 1 EUV (Art. 6 Abs. 3 EUV Amsterdam) bestätigt wird, sowie in dem Erfordernis eines Zustimmungsgesetzes (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) in der Regel mit verfassungsändernder Mehrheit (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG). Der EG-Vertrag und die Vertragsorgane entstehen nicht in der Autorität und im Geltungsgrund der Europäischen Gemeinschaft, sondern im Vertrags- und Parlamentswillen des jeweiligen Mitgliedstaates mit Wirkung für diesen Staat. Die gemeinsame Ausübung von Hoheitsrechten durch die Europäische Union stellt damit nicht die ihr angehörenden Staaten in Frage, erweitert und verändert aber die Handlungsbefugnisse der Mitgliedstaaten. Der einzelne Mitgliedstaat gewinnt insbesondere im europäischen Binnenmarkt und in der Währungsunion Handlungsbefugnisse über sein Gebiet hinaus, wirkt an der Rechtsetzung für fremde Staatsgebiete und fremde Staatsvölker mit, tritt gegenüber anderen Staaten und Staatsorganisationen mit dem verstärkten Gewicht des Staatenverbundes auf.

Künftige Beährungsproben

Diese Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten hat zur Voraussetzung und zur Folge, daß der Mitgliedstaat insoweit eigene Hoheitsbefugnisse in diesen Staatenverbund einbezieht, dort insbesondere im Geltungsbereich des Mehrheitsprinzips auch fremdbestimmte Rechtsakte im Rahmen des von ihm vereinbarten EG-Vertrages und des parlamentarischen Zustimmungsgesetzes anerkennt.
Die zukünftige Entwicklung des Europarechts steht vor fünf Bewährungsproben:
  1. Ein Staat stützt sich nach europäischem Verständnis auf ein Staatsvolk, ist also ein demokratischer Staat. Die Europäische Union hingegen baut derzeit nicht auf einem europäischen Staatsvolk auf, kann sich deshalb gegenwärtig nicht zu einem europäischen Staat entwickeln. Etwaige Gesten und Organisationformen, die eine Annäherung des Staatenverbundes an einen Staat andeuten, verfehlen die Basis eines Staatsvolkes als staatsbegründende und verfassunggebende Gewalt. Der Unionsbürger ist nicht Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Europa, sondern Menschenrechtsträger in einem Verbund europäischer Staaten. Diese originäre und erstmalige Organisationsform des Staatenverbundes ist rechtlich und politisch durch die eigenständigen, aber europaoffenen Mitgliedstaaten weiter zu entfalten.
  2. Der Staatenverbund handelt im wesentlichen durch die Regierungen seiner Mitgliedstaaten. Deshalb trifft die Europäische Union im Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten Sitz und Stimme haben, ihre wesentlichen Entscheidungen. Auch das Recht der Europäischen Union wird in diesem Exekutivorgan gesetzt; das Europäische Parlament, das jeweils durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten gewählt wird, ist nicht Rechtsetzungsorgan, sondern an der Rechtsetzung lediglich beteiligt. Es hat nicht einmal ein originäres Recht zur Gesetzesinitiative.
    Demokratie aber setzt voraus, daß die wesentlichen Entscheidungen im Parlament getroffen und insbesondere die Gesetze dort beschlossen werden. Je mehr Rechtsetzungsgewalt auf die Europäische Union übergeht, desto mehr muß die Rechtsetzungstätigkeit des Rats in den Parlamenten der Mitgliedstaaten gerechtfertigt werden. Deshalb sind Organisationsformen zu entwickeln, die diese Parlamente über ihre Regierungen an der Rechtsetzung des Rates beteiligen. Die Faszination der europäischen Integration darf das Prinzip parlamentarischer Demokratie nicht verdrängen.
  3. Die Europäische Union ist als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet worden und im Kern bis heute eine Gemeinschaft des freien Marktes geblieben. Gegenwärtig steht sie vor der Aufgabe, für ihre nichtökonomischen Aufgabenbereiche Handlungsmaßstäbe zu entwickeln, die sich deutlich von den Prinzipien der Marktfreiheit und des Wettbewerbs abheben. So richtig die freiheitliche Distanz zwischen Staat und wirtschaftlichem Markt ist, so verfehlt wäre sie für den Lebensbereich von Forschung und Lehre, von Wissenschaft und Kunst, die vielfach auf staatliche Organisation und Beihilfe angewiesen sind. Je mehr die Wettbewerbsgleichheit für alle Wirtschaftskonkurrenten gelten muß, umso weniger darf sie auf caritative Wirtschaftsinitiativen angewandt werden, die mit ihren Sammlungen und Leistungsangeboten nicht den Maximen des Erwerbs, sondern denen der Nächstenhilfe folgen, nicht Erwerbs- und Berufsfreiheit, sondern Religionsfreiheit in Anspruch nehmen. Der gegenwärtig vorbereitete Menschenrechtskatalog der Europäischen Union bietet die Chance, die Maßstäbe für das Handeln der Unionsorgane zu differenzieren und auf die Eigenheiten des jeweiligen Lebensbereichs auszurichten, die bisherige Gemeinschaft des Wirtschaftsmarktes und Wirtschaftswettbewerbs zu einer für die Eigenheiten und Verschiedenheiten der Lebensbereiche geöffneten Gemeinschaft zu machen.
  4. Die Europäische Union ist grundsätzlich auf ein in allen Mitgliedstaaten einheitlich geltendes europäisches Recht angelegt, hat aber nunmehr mit der Gründung einer Währungsunion für elf Mitgliedstaaten innerhalb einer Gemeinschaft von 15 Mitgliedstaaten dieses Prinzip in einem wesentlichen Gemeinschaftsbereich aufgegeben. Wenn nunmehr weitere Mitgliedstaaten hinzukommen, die wegen ihrer bisher noch unterschiedlichen Rechts- und Wirtschaftsstandards ein langfristiges Übergangsrecht benötigen, außerdem weitere Staaten aufgrund von Assoziierungsabkommen sich auf eine Mitgliedschaft und damit die Annäherung an das geltende Europarecht vorbereiten, entstehen unterschiedliche Europarechtskreise, die sich in der Dichte und Reichweite der europarechtlichen Bindungen jeweils unterscheiden. Die politische These von der gleichzeitigen Verdichtung und Erweiterung der Europäischen Union wird damit mehr und mehr zum Wunschtraum. Selbstverständlich verdient die Europäische Union ihren Namen "Europäisch" nur, solange sie grundsätzlich für eine Mitgliedschaft aller europäischen Staaten offen ist; gerade Deutschland wird wegen seiner geographischen Lage in Mitteleuropa auch auf die Erweiterung der Union nach Osten drängen. Der notwendige und berechtigte Preis dieser Entwicklung aber ist ein nach Inhalt und Geltung differenzierendes Europarecht.
  5. Die Gestaltungsbefugnisse hoheitlicher Zwangsmittel und der Finanzmacht stehen den Mitgliedstaaten, nicht der Europäischen Union zu. Während die Mitgliedstaaten oft bei der Verteilung von rund 50 Prozent des Bruttosozialprodukts mitwirken, verteilt die Europäische Union deutlich weniger als zwei Prozent des in der Union erwirtschafteten Bruttosozialprodukts. Zudem liegt die Steuerhoheit ausschließlich bei den Staaten. Das Europarecht wird auch in Zukunft Vorsorge treffen, daß diese Teilung der Rechtsverantwortlichkeit je nach Sachbereichen, insbesondere zwischen Rechtsetzung und Rechtsvollzug, zwischen Aufgabenzuweisung und Finanzierbarkeit als ein Element moderner Gewaltenteilung gewahrt und bekräftigt wird.
Die Entwicklung der Staaten in Europa ist gegenwärtig im Umbruch. Mit jedem neuen Verfassungsstaat, der entsteht, steigt die Chance von Frieden und Menschenrechten in Europa. Wo Völker und Nationen sich noch nicht zu einem Verfassungsstaat zusammengefunden haben, wächst – wie in Jugoslawien – die Gefahr der Unfriedlichkeit und der Menschenrechtsverletzung. Für die Gemeinschaft unter Staaten hat die Europäische Union die neue Rechtsform eines Staatenverbundes unter selbständigen, demokratischen Verfassungsstaaten entwickelt. Im Zusammenwirken der Organisationsprinzipien von Verfassungsstaat und Staatenverbund kommt der Europäischen Union die Aufgabe zu, das Handeln ihrer Mitgliedstaaten zu koordinieren und teilweise zu regulieren. In diesem Staatenverbund bietet Europa die Organisationsform des kooperationsoffenen Verfassungsstaates, die Form politischer, rechtlich gebundener Herrschaft für die Zukunft.

Autor:
Prof. Dr. Paul Kirchhof,
Institut für Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht,
Friedrich-Ebert-Anlage 6-10, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 74 57

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