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Meinungen

"Wer heute Millionen an den Geisteswissenschaften spart, muss morgen Milliarden für die Sanierung der Gesellschaft zahlen"

Prof. Dr. Tonio HölscherProf. Dr. Michael Ursinus
Prof. Dr. Tonio Hölscher (links) und Prof. Dr. Michael Ursinus kommentieren den Abbau der Geisteswissenschaften am Beispiel der Universität Tübingen.

Die Universität Tübingen ist seit Jahrhunderten nicht nur eine Hochburg geisteswissenschaftlicher Forschung, sondern hat mit bedeutenden Vertretern der Geisteswissenschaften die Gesellschaft, Politik und Kultur in Deutschland nachhaltig geprägt. Die Leitung der Universität Tübingen hat durch langfristige Verpflichtungen und einseitige Prioritätensetzungen im Bereich von Biologie und Informatik eine Umschichtung von dramatischem Ausmaß in Gang gesetzt, die in der Geschichte der deutschen Universitäten einmalig ist: Etwa die Hälfte der dafür zusätzlich vorgesehenen 73 Stellen für Wissenschaftler sind von den Geisteswissenschaften, der Theologie sowie den Sozial- und Rechtswissenschaften aufzubringen. Dies wird unausweichlich dazu führen, dass insbesondere in den Geisteswissenschaften viele Fächer, die international bis in die Gegenwart einen hohen Rang einnehmen und dabei sehr geringe Kosten verursachen, zu Gunsten von weitaus kostspieligeren Fächern zur Bedeutungslosigkeit reduziert oder ganz ausgelöscht werden.

Derart drastische Eingriffe einer Universität sind nicht ohne Konsequenzen für die allgemeine akademische Landschaft, vor allem für Lehre und Forschung an den anderen Universitäten des Landes. Die Mobilität der Studierenden, die Möglichkeiten für gemeinsame Forschungsprojekte und die Chancen des wissenschaftlichen Nachwuchses werden dadurch beträchtlich eingeschränkt.

Es ist unbestreitbar, dass die Universitäten sich auf die neuen Entwicklungen in den Natur- und Technologiewissenschaften einstellen müssen. Aber es ist eben so sicher, dass die Entwicklungen der Zukunft höchste Anforderungen an kulturelle und ethische Kompetenz stellen werden, ohne die die 'Fortschritte' der Gegenwart immer leichter in Katastrophen umschlagen werden. Die weltpolitischen Vorgänge der letzten Monate wie auch die aktuellen Fragen der Gentechnologie machen diesen Bedarf offensichtlich.

Es ist grundsätzlich verfehlt, die Geistes- und Sozialwissenschaften an dem Maßstab der unmittelbaren Nutzanwendung zu messen, der vielfach in den Natur- und Technologiewissenschaften angelegt wird. In einer Zeit, die einerseits immer stärker von weltweiten Kontakten und Konflikten verschiedener Kulturen, andererseits von einer rapiden Veränderung der Vorstellungen von der Natur und vom Menschen geprägt ist, kommt den Geistes- und Sozialwissenschaften eine eminente mittel- und längerfristige Bedeutung zu. In diesem Sinn bedeutet die Reduzierung der Geisteswissenschaften eine verhängnisvolle, irreversible Entscheidung, für die die Verantwortung nicht einer einzelnen Universität überlassen werden darf.

Für einen richtigen Beschluss ist es nie zu spät. Die Leitung der Universität Tübingen kann die getroffenen Entscheidungen immer noch revidieren und dabei berücksichtigen, dass

  • die Natur- und Technologiewissenschaften bessere Möglichkeiten haben, neue Entwicklungen aus dem eigenen Bereich zu bestreiten, und dass
  • die Geisteswissenschaften entsprechend ihrer steigenden gesellschaftlichen Aktualität erhalten und weiter entwickelt werden müssen.
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