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Kurzberichte junger Forscher

Wie eine Hofchronik zum heiligen Text Chinas wurde


"Wer nach China geht, tut das entweder, um zu missionieren, oder um sich bekehren zu lassen", so formulierte einst ein Sinologe das Grundmotiv jeden Chinainteresses. Dieser Satz lässt sich in alle möglichen Richtungen weiter denken. Er reflektiert die Geschichte des Faches Sinologie, dessen Grundlagen in der Jesuitenmission liegen und das momentan stark von der neuen Vision geprägt ist, nicht die chinesischen Seelen, sondern den chinesischen Markt zu erobern. Zwischen diesen beiden Zeiten, welche von der "missionarischen" Haltung dominiert waren und sind, gab es Perioden, in denen die Beschäftigung mit China von einer anderen Seite her motiviert war. Die verklärende Bewunderung des fernen idealen Reiches der Mitte durch aufklärerische Philosophen wie Leibniz und Wolff, das Lösungen eigener Probleme und Fragen versprach, findet in der rezenten Geschichte ihr Spiegelbild sowohl im Strukturalismus wie dem Poststrukturalismus, der maoistischen Bewegung als auch in der New Age-Szene.

Die Arbeit an dem Forschungsfeld, das im Folgenden vorgestellt wird, gehört der zweiten Art der Beschäftigung mit China an. Die zunächst einfache Frage, warum eine trockene annalistische Hofchronik zum zentralen heiligen Text Chinas werden konnte, führt zu weiteren Fragen nach der Funktion antiker Historiographie und deren Zusammenhang mit anderen hochspezialisierten Wissensbereichen wie der Ritualistik, dem Kalenderwesen, der Astronomie-Astrologie, der divinatorischen Hermeneutik, dem Recht sowie ganz grundsätzlich nach der Auffassung von "Text" und "Sprache" im frühen China. Es erweist sich, dass nur ein Verständnis der Verwobenheit dieser Bereiche eine Einsicht in die spezifische Lesart und Texthermeneutik ermöglicht, welche der Kanonisierung der Hofchronik zu Grunde liegt.

Im Zeitraum von 722 bis 481 vor dem Beginn des christlichen Kalenders wurden in China verschiedene Arten von Ereignissen aufgezeichnet, die in ein Werk Eingang fanden, das uns heute als "Frühlings- und Herbstannalen" oder "Chunqiu" überliefert ist. Die in diesem Werk verzeichneten Ereignisse sind vielfältig. Es finden sich Zeugnisse diplomatischen Verkehrs, militärische Unternehmen, Angelegenheiten der Herrscherhäuser, rituelle Feiern oder Naturphänomene. Die knapp 1900 annalistischen Einträge des Chunqiu bestehen meist aus einem kurzen Aussagesatz, an dessen Anfang sich oftmals Datum und Ort des betreffenden Ereignisses finden wie etwa jene aus der Regierungszeit des ersten Herzogs, Yin: "Im Sommer im fünften Monat drangen Leute aus Ju in Xiang ein", "Im Herbst im achten Monat am Tage gengchen schloss der Herzog ein Eidbündnis mit den Rong in Tang", "Im neunten Monat kam Lie Xu aus Ji, um seine Braut zu empfangen", "Im dritten Jahr im Frühling im zweiten Monat des königlichen Kalenders am Tage jisi gab es eine Sonnenfinsternis."

Als eine Hofchronik des Lehensstaates Lu der Dynastie der Zhou, welche von Konfuzius kompiliert worden sein soll, wird das Chunqiu in der frühen Han-Zeit (206 v. bis 22 n.Chr.) zum wichtigsten Klassiker der Dynastie erhoben, in welchem die gesamte Weisheit und tiefgründige Botschaft des Konfuzius an die Nachwelt verborgen liegen soll. In der Folge werden auf der Grundlage dieses Werkes über Hunderte von Jahren politische Rechtsfälle entschieden und Richtlinien für rechtes Handeln abgeleitet. Dieser hohe Status des Werkes stellt sich angesichts des so trocken wirkenden Textes nicht nur der chinesischen Tradition schon sehr früh als ein "Problem" dar. Auch die Europäer lesen es von Anfang an mit kritischer Distanz. Inmitten des weiterhin anhaltenden Streits um die Bedeutung des Chunqiu kann sicher nur gesagt werden, dass wir heute nicht mehr wissen, warum diese Ereignisse ursprünglich aufgezeichnet wurden, und dass wir auch nicht wissen, wie, wann, wo und warum das Chunqiu seine Form erhielt, wie viele und was für Quellen ihm zu Grunde lagen.

Die Frage nach dem Ursprung der chinesischen Historiographie ist nicht neu. Es gibt eine Menge von Forschungsliteratur zu diesem Thema – und wegen des spärlichen Quellenmaterials sind auch die Antworten darauf ebenso vielfältig. Die Vielfalt der Thesen zeigt den spekulativen Stand der Forschung, sie zeigt aber dabei auch einen Konsens darüber, dass es sich beim Chunqiu offensichtlich nicht um ein Werk gehandelt haben kann, dessen Sinn darin bestand, einfach nur historische Daten festzuhalten und zu überliefern. Eine solche Geisteshaltung hat in der Sphäre der Schriftlichkeit der Chunqiu-Zeit (770 bis 476) offenbar nirgendwo einen Platz und auch keinen Sinn.Vielmehr wird die Funktion des Werkes in allen Fällen in weiteren Kontexten und im Bezug auf nicht rein historiographische Sphären, besonders denjenigen der Machtpolitik und des Kultes, erklärt – zwei Sphären, die in der Chunqiu-Zeit sicher noch nicht voneinander zu trennen sind.

Das oben genannte "Problem" entsteht also offenbar erst in dem Moment, in dem die exegetischen Prämissen der traditionellen Lesart in Frage gestellt werden und erst vor dem Hintergrund der neuen Annahme, dass es sich bei dem vorliegenden Text um ein Geschichtsbuch handele, das folglich "historisch" zu lesen sei. Wenn die adäquate Lesung auch nicht bekannt ist, so scheint sie vor dem historischen Kontext jedenfalls doppelbödig und exegesebedürftig, von Anfang an esoterisch, spezialisiert und elitär wie eine eigene Wissenschaft. Und es ist folglich sehr nahe liegend, dass das Chunqiu ursprünglich nie so eindimensional und blutleer geschrieben und so flach gelesen wurde, wie die spätere zweifelnde Perspektive es vermutete. Jede Exegese desselben ist daher a priori höchst plausibel.

Wie die Einträge des Chunqiu zu lesen seien, war anscheinend aber schon zu der Zeit ungewiss, in der die ersten Kommentare dazu geschrieben wurden. Wir können uns daher von einer Untersuchung des Kommentars im Hinblick auf die "Wahrheit" des Textes nicht viel versprechen. Der Kommentar gibt uns aber einen Einblick in eine ganz andere zentrale Frage, nämlich, auf welche Weise es möglich ist, aus einer solchen Hofchronik einen so wichtigen Weisheitstext zu machen.

Dieser Frage wird in der Arbeit eingehend nachgegangen. Die grundlegende exegetische Methode des kanonischen Gongyang-Kommentars (3. Jhd. v. Chr.) wird analysiert und nach kulturellen Vorgaben und strukturellen Vorläufern dieser Exegese wird gesucht, um die Grundlage der Plausibilität dieser Lesung zu verorten. Dabei stellt sich heraus, dass sich strukturelle Parallelen dieser Textinterpretation in der divinatorischen Hermeneutik der Orakeldeutung und Astrologie finden lassen. Der annalistische Text wird also ähnlich gelesen wie die Textur des Himmels und der Naturerscheinungen. Daraus folgt, dass in den Augen des Kommentators Konfuzius durch diesen Text auf analoge Weise spricht wie der Himmel durch die Erscheinungen in der Welt.

Dies wird durch eine äußerst raffinierte Exegese plausibilisiert, welche aus den Eintragsformen des Chunqiu ein Regelwerk etabliert, das seine Grundlage in der rituellen Expertise seiner Zeit hat. In diesem Kommentar findet sich also ein Zusammenfluss der für uns schwierig zusammenzudenkenden Bereiche von Historiographie, Divination und ritueller Expertise. In der Folge dieses Kommentars und dessen weiterer Subkommentierung, welche dann die Kanonisierung des Chunqiu bewirkt, wird das rituelle Regelwerk des Gongyang-Kommentars dann exegetisch im Feld der Rechtsprechung für konkrete Anwendungen in Strafprozessen umgedeutet. Das Chunqiu wird auf diese Weise zur grundlegenden Schrift für wichtige Rechtsentscheidungen der frühen Han-Zeit (206 bis 22 n.Chr.), einer Zeit, in der die institutionellen Grundlagen des chinesischen Kaiserreichs geschaffen werden.

Autor:
Joachim Gentz studierte Sinologie,
Religionswissenschaften und Philosophie in Berlin, Nanjing und Heidelberg
und ist Träger des Ruprecht-Karls-Preises der Universität Heidelberg.

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