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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

müssen Doktoranden lernen? Die Promotion attestiert die Befähigung zu selbstständiger wissenschaftlicher Arbeit. So oder ähnlich steht es wohl in jeder Promotionsordnung. Das Attribut "selbstständig" ist dabei durchaus der Forderung nach wissenschaftlichem Arbeiten gleichzusetzen. Da ist der Gedanke an formalisierte Lehrprogramme – wie sie derzeit in vielen Graduiertenkursen und – schulen entstehen – kritisch zu betrachten.

Die klassische Vorlesung vermittelt (hoffentlich) didaktisch gut aufbereiteten Stoff, der die Lernenden von der mühsamen und zeitaufwendigen Suche in der Originalliteratur weitgehend entbindet. Diese sehr effektive und aus Sicht der Lernenden ökonomische Methode der Stoffvermittlung verhindert jedoch, sich mit Inhalt und Stil wissenschaftlicher Originalarbeiten intensiv zu beschäftigen – eine Tätigkeit, die sicher zu den Kernaufgaben eines Doktoranden zählt. Vorlesungen laufen darüber hinaus meistens nach einem vorgegebenen Zeitraster während des Semesters ab. Den promovierenden Hörern wird so die Freiheit genommen, längere Aufenthalte an Gastinstituten oder externen Forschungseinrichtungen während der Semesterzeiten zu planen.

Diese Argumente werden regelmäßig vorgebracht, wenn es um die Einrichtung von Graduiertenkursen und -schulen geht. Aber natürlich gibt es auch die andere Sicht der Dinge.

Zuallererst ist die beängstigend schnell fortschreitende Spezialisierung in vielen Gebieten der Wissenschaften zu nennen. Selbstverständlich müssen Doktoranden auf ihrem eigenen Arbeitsgebiet die Originalliteratur lesen, verstehen und regelmäßig aktiv mit eigenen Publikationen oder Konferenzbeiträgen beitragen. Hier erfolgt das traditionell bewährte Training durch den Wissenschaftsbetrieb selbst. Problematisch wird mehr und mehr der "Blick über den Zaun", sei er auch noch so niedrig.

In den Fakultäten mit klassischem Rigorosum wissen die Prüfer oft ein Lied davon zu singen. Selbst glänzende Promovenden haben häufig die größten Schwierigkeiten bei Fragen, die nur geringfügig über das eigene, engere Fachgebiet hinausgehen. Hier ist noch nicht einmal die viel beschworene Interdisziplinarität gemeint – selbst die eigene Disziplin ist nicht mehr in wünschenswerter Breite präsent.

Neben dem schlichten Vergessen des vor der Graduierung erarbeiteten Stoffes bleibt während der Doktorarbeit natürlich auch nicht die Zeit, aktuelle Entwicklungen in der gewählten Disziplin über den eigenen Arbeitsbereich hinaus zu verfolgen. Das dies dennoch wünschenswert ist, steht außer Frage. Häufig steht nach der Promotion ein Wechsel der engeren Fachrichtung an. Wer dann nur mit lückenhaften, drei Jahre alten Fachkenntnissen aufwarten kann, wird sich nur schwerlich neu orientieren können. Es scheint mir deshalb die Notwendigkeit für ein "akademisches Training" während der Doktorarbeit gegeben.

Die zeitliche Belastung durch Lehrveranstaltungen muss jedoch moderat bleiben, um die Konzentration auf die eigene Forschung nicht zu gefährden. Der zu Anfang erwähnte Vorlesungsstil ist zu diesem Zweck durchaus gut geeignet. Die für einen aktiven Forscher eher ungünstige Verteilung der Vorlesungen über die Zeit des Semesters kann durch die Einführung zwei- bis dreiwöchiger Blockveranstaltungen kompakter gestaltet werden. Eine solche Lösung empfiehlt sich besonders dann, wenn als Dozenten für das akademische Training auch Mitarbeiter externer Forschungsinstitute gewonnen werden können, die zum gegenseitigen Nutzen ihre Erfahrungen in der aktuellen Forschung weitergeben.

Trotz der bewusst an den Anfang gestellten Argumente, die gegen das "Lernen für Doktoranden" sprechen, möchte ich deshalb die eingangs gestellte Frage mit einem entschiedenen "Ja" beantworten.

Ihr
Signatur
Karlheinz Meier
Prorektor

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