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Wie das Nervensystem entsteht

Prof. Klaus Unsicker, Sprecher eines neuen Sonderforschungsbereichs der Universität Heidelberg, im Gespräch mit Michael Schwarz, Pressesprecher der Universität Heidelberg

Prof. Unsicker 

Herr Professor Unsicker, im Januar 2000 hat der neue Sonderforschungsbereich für Molekulare Entwicklungsneurobiologie seine Arbeit aufgenommen. Dieser "SFB 488" untersucht zukunftsträchtige Fragen: Wer wüsste nicht gern, wie Denken, Sprache und Gefühle entstehen? An Sie als den Sprecher die Frage: Womit beschäftigt sich der neue SFB?

Unsicker: Der SFB 488 will Beiträge leisten zum Verständnis von neuralen Funktionen. Vereinfacht gesagt, geht es darum zu verstehen, wie wir fühlen, handeln, denken, uns freuen. Das sagt sich leicht, aber schon alle molekularen Einzelheiten zu verstehen, die ein kleines Netzwerk von Nervenzellen funktionieren lassen, ist eine gigantische und noch ungelöste Aufgabe. Daran arbeiten in Deutschland unter anderem Wissenschaftler in etwa 20 von der DFG geförderten Sonderforschungsbereichen und in vielen weiteren Programmen. Der SFB 488 ist der erste neurobiologische SFB, der sich ganz der Entwicklung des Nervensystems verschrieben hat. Wir möchten verstehen, wie schrittweise zunächst scheinbar grobe, dann immer detailliertere Baupläne vom Gehirn molekular entworfen und realisiert werden, wie die verschiedenen Zelltypen festgelegt werden, wie Zellen wandern und ihre Fortsätze miteinander verschalten, schließlich, wie sie miteinander zu kommunizieren beginnen. Und: Warum sterben viele von ihnen, bevor ein Lebewesen überhaupt geboren ist?

Die Universität Heidelberg arbeitet seit Jahren daran, ihr "Profil zu schärfen": Durch den SFB 488 sind die Neurowissenschaften am Standort Heidelberg gestärkt worden – nachdem bereits die Gründung des Interdisziplinären Zentrums für Neurowissenschaften in diese Richtung zielte. Warum Entwicklungsneurobiologie in Heidelberg, warum ein SFB?

Unsicker: Heidelberg hat eine traditionsreiche Vergangenheit, aber auch eine sehr lebhafte Gegenwart als Standort für die molekularen und zellulären Neurowissenschaften. Bereits in den letzten Förderperioden des SFB 317 "Molekulare Neurobiologie" ab 1994 zeichnete sich ab, dass Heidelberg Forscher anzog, deren Schwerpunkte auf verschiedenen Gebieten der Entwicklungsneurobiologie lagen. Gutachter der DFG forderten deshalb im SFB 317 einen Projektbereich, der zur Keimzelle für den SFB 488 wurde. Nur das langfristige Förderinstrument eines Sonderforschungsbereichs kann ein festes Fundament für dieses Thema liefern.

Was bringt der Sonderforschungsbereich der Universität Heidelberg?

Unsicker: Ganz direkt gesagt: Geld, neue Strukturen, Kristallisationszentren, Expansionsmöglichkeiten, mehr Profil, und hoffentlich auch viele Wissenschaftler, die durch Förderung, Kooperation und Kompetition besser werden, als sie es ohne SFB sein könnten. Zur finanziellen Attraktivität aus Sicht der Universität und des Landes gehört, dass SFBs zu 75 Prozent vom Bund finanziert werden, während andere Förderinstrumente der DFG mit 50 Prozent vom Land bezuschusst werden müssen. Der SFB 488 wird in den nächsten drei Jahren von der DFG immerhin rund 2,7 Millionen Mark erhalten.

Wie profitieren Studierende von dem SFB?

Unsicker: Erheblich. Und das nicht nur durch die neuen Doktorandenstellen, sondern auch durch ein breiteres Seminar- und ein differenzierteres Unterrichtsangebot.

Kann die Medizin von entwicklungsneurobiologischer Forschung profitieren?

Unsicker: Ja, sie kann... könnte, muss ich eigentlich sagen. Viele molekulare und zelluläre Kaskaden, die bei degenerativen und regenerativen Prozessen im Gehirn ablaufen – zum Beispiel bei der Parkinsonschen und Alzheimerschen Krankheit oder der Multiplen Sklerose (MS) –, erscheinen uns in verschiedener Hinsicht als Wiederholungen von entwicklungsneurobiologischen Prozessen. Nehmen Sie beispielsweise die Neubildung von Markscheiden bei der MS. Dazu müssen Vorläuferzellen von so genannten Oligodendrocyten sich teilen, wandern und die ganze Batterie von spezifischen Eiweißen und Fetten der Markscheiden neu bilden und in sinnvolle, sehr komplizierte Strukturen einbauen.
Wir meinen also, dass klinische Medizin von entwicklungsneurobiologischer Forschung profitieren kann. Neurobiologische SFBs in Tübingen, Würzburg, Berlin und anderen Orten zeigen exemplarisch, wie neurobiologische Grundlagenforschung mit klinischen Fächern wie Neurologie, Augen- und Ohrenheilkunde verknüpft werden kann. Für Heidelberg und den SFB 488 haben die Gutachter sehr unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die Ansätze gestärkt werden müssen, hochkarätige klinische Forschung einzubeziehen.

Dem neuen SFB gehören Arbeitsgruppen der Universitäten Heidelberg und Jerusalem, des Deutschen Krebsforschungszentrums, des Max-Planck-Instituts für Medizinische Forschung und des Europäischen Molekularbiologischen Laboratoriums an. Mehrere dieser Arbeitsgruppen waren bereits Mitglieder in dem sehr erfolgreichen SFB 317. Sie, Herr Professor Unsicker, möchten an die Erfolge anknüpfen und sind zuversichtlich, dass das gelingen wird. Können Sie eine Vision wagen, wo die Forschung in 15 Jahren steht?

Unsicker: Ich wage die Vision. Zunächst hoffen wir und arbeiten daran, dass dem SFB 488 eine möglichst lange Existenz beschieden sein möge. Neurowissenschaften werden eine, wenn nicht die Leitdisziplin in den Biowissenschaften im nächsten Jahrzehnt sein. In zehn Jahren wird sehr wahrscheinlich das komplette Genom des Menschen und der wichtigsten Modellorganismen, von der Fruchtfliege bis zur Maus, bekannt sein. Wie alle 100 000 Gene, die im Gehirn des Menschen exprimiert sind, miteinander kooperieren, um komplexe Strukturen und Funktionen zu erlauben, wird vermutlich noch nicht vollständig verstanden werden. Viele Gene, die an der Regulierung normalen und abnormen Verhaltens beteiligt sind, werden bekannt sein, vielleicht auch von außen beeinflusst werden können. Bereits vorhandene Technologien, wie der rasche Vergleich der gleichzeitigen Regulation von Tausenden von Genen, rasant schnelle Eiweißanalysen, Netzwerkbeobachtungen und Bioinformatik werden uns im Verständnis höherer Hirnfunktionen weit nach vorn gebracht haben.

Welche Forschungsprojekte gibt es im Einzelnen? Mit welchen Methoden arbeitet der SFB?

Unsicker: Methodisch sind kaum Grenzen gesetzt. Das würde man von einem modernen biowissenschaftlichen SFB auch nicht anders erwarten. Der SFB 488 verfügt über ein breites Spektrum von genetischen, molekularen, biochemischen, zellulären, physiologischen und morphologischen Methoden und über fast alle relevanten Modelle, vom Nematoden C. elegans bis zu genetischen Mausmutanten. Gegliedert ist der SFB in vier Projektbereiche. Im ersten werden molekulare Grundlagen der neuralen Induktion, Musterbildung und Zelldeterminierung untersucht. Der zweite Bereich arbeitet an den Grundlagen von Wachstum und Wegfindung von neuronalen Zellfortsätzen. Drittens geht es um die Differenzierung von Nervenzellen. Und schließlich untersucht Projektbereich D die molekularen Grundlagen der Bildung von Synapsen und neuronalen Netzwerken.

Wie ist der SFB mit anderen neurobiologischen Forschungsinitiativen im Heidelberger Raum verzahnt?

Unsicker: Sie sprachen schon das Interdisziplinäre Zentrum für Neurowissenschaften der Universität Heidelberg an, das DKFZ, Max-Planck-Institut, EMBL... Hinzu kommen die Graduiertenkollegs Neuro- und Entwicklungsbiologie, die DFG-Forschergruppe "Aminerge Systeme", die Neurologische Klinik und, last not least, verschiedene Biotechnologie-Firmen im Groß-Heidelberger Raum.

Wie beurteilen die Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft den SFB, was sind Stärken, was sind Schwächen?

Unsicker: Die Stärken des SFB 488 sind sicher seine starken molekular-zellulären Wurzeln, kompetente universitäre Gruppen, aber auch die maßgeblichen Beiträge des DKFZ, des MPI, des EMBL. Die außeruniversitären Institutionen signalisieren gleichermaßen Stärke und Schwäche des SFB – darin ist er von manch anderem Heidelberger SFB nicht so sehr verschieden. Forscher an der Heidelberger Universität sind nun häufig einmal sehr gut und begehrt. Zwischen dem Zeitpunkt, zu dem wir die Initiative bei der DFG eingebracht haben und der endgültigen Antragstellung – also innerhalb eines Jahres – wurde rund ein Drittel der Projektleiter wegberufen. Diese Lücken müssen erst einmal gefüllt werden – und das sollte eigentlich mit der Dynamik und Kompromisslosigkeit US-amerikanischer Institutionen geschehen. Das ist leider nicht der Fall. Dennoch: Die Noten der DFG-Gutachter für den neuen SFB waren sehr gut, und es gab Anlässe, bei denen unser Sonderforschungsbereich außerhalb Heidelbergs bereits als "Spitzen"-SFB gelobt wurde. Ich persönlich würde gern noch einige Jahre beim Understatement bleiben.

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