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"Wunderbare Gegebenheiten": Biomolekulare Maschinen

Biomolekulare Maschinen sind kleine Wunderwerke der Natur, nur hundert millionstel Millimeter groß. Sie zu erforschen, hat sich eine neue Netzwerk-Initiative auf die Fahnen geschrieben, die Wissenschaftler der Universität Heidelberg und viele weitere Arbeitsgruppen aus der Bioregion Rhein-Neckar jetzt gründeten. Ziel ist die quantitative Analyse und Modellierung von "Biomolekularen Maschinen" außerhalb der Zelle und in der lebenden Zelle selbst. Dabei kommt neuen Verfahren der lichtoptischen Analyse und des Wissenschaftlichen Rechnens eine wesentliche Bedeutung zu. Was die Zukunftsvisionen der beteiligten Forscher sind und wo praktische Anwendungen liegen könnten, führt Koordinator Professor Christoph Cremer aus dem Kirchhoff-Institut für Physik der Universität Heidelberg im Gespräch mit Pressesprecher Michael Schwarz bildhaft vor Augen.

Was sind Biomolekulare Maschinen?

Cremer: Wie Rudolf Virchow bereits im Jahr 1858 erkannte, beruhen Krankheiten auf Störungen der Zellen. Das gilt analog für die normale Entwicklung: Jeder komplexe Organismus geht aus einer einzigen Zelle hervor, aus der dann durch vielfältige und differenzierende Zellteilungen die verschiedenen Gewebe, zum Beispiel eines Menschen, entstehen. Hier spielen Biomolekulare Maschinen eine wesentliche Rolle. Dabei handelt es sich um hochkomplexe Nanostrukturen, die in den Zellen des Körpers spezifische Funktionen erfüllen. Ihre Größe liegt mit zehn millionstel bis einigen hundert millionstel Millimetern weit unterhalb dessen, was das Lichtmikroskop noch erkennt.

Sie würden selbst bei der stärksten Vergrößerung nur als leuchtende Punkte sichtbar?

Cremer: Ja. Aber dennoch sind sie wie Maschinen in der sichtbaren Makrowelt hochstrukturierte Gebilde mit komplexer Architektur, die sie befähigen, spezifische Aufgaben zu erfüllen: Typischerweise bestehen sie aus mehreren bis vielen Makromolekülen, mit insgesamt vielen tausend bis Millionen von Atomen, die in einer bestimmten Weise im Raum angeordnet sind, und die ihrer Aufgabe gemäß ihre räumliche Position in dynamischer und flexibler Weise verändern.

Inwiefern ist es berechtigt, diese biologischen Strukturen als "Maschinen" zu bezeichnen?

Cremer: Ebenso wie Maschinen der unseren Augen direkt zugänglichen Makrowelt dienen die biologischen Nanostrukturen ganz spezifischen Zwecken. Und für die Erfüllung dynamischer Aufgaben benötigen sie Energie. Auch bestehen sie aus vielen, genau aufeinander abgestimmten Elementen, die ihrerseits wiederum hochkomplexe Strukturen sind. Und wie Maschinen der Makrowelt erfüllen sie ihren spezifischen Zweck nur als Ganzes: Werden Teile herausgenommen oder willkürlich verändert, so sind sie nicht mehr oder nur noch teilweise einsatzfähig. Die Liste der Analogien ist lang: Ihre Funktion kann allein aus der Kenntnis der Einzelteile nur in begrenzter Weise vorhergesagt werden. Durch Signale können sie in ihrer Struktur verändert und damit angeschaltet oder abgeschaltet werden. Biomolekulare Maschinen erlauben die Produktion anderer Maschinen, und sie sind in einen kooperativen Verbund anderer Maschinen einbezogen. Wie Maschinen der Makrowelt entstehen sie nicht durch "Zufall", sondern auf Grund vorausgehender "Produktionspläne", die in den Chromosomen gespeichert sind.

Über die Unterschiede zwischen technischen Maschinen – zum Beispiel einer Uhr, einem Rolls Royce oder einem Roboter – und einer organischen Maschine im lebendigen Organismus wird seit Jahrhunderten diskutiert. Wie werten Sie diese Kontroverse?

Cremer: Es wäre wünschenswert, diese schwierige Auseinandersetzung weiterzuführen. Immerhin ist sie für unseren Begriff vom Leben sehr fruchtbar. Aber das würde weit über meine Möglichkeiten hinausgehen. Hier nur ein klarer Unterschied: Während die vom menschlichen Geist entworfenen technischen Maschinen von Anfang an bewusst auf bestimmte Zwecke hin konstruiert werden, sind die natürlichen Biomolekularen Maschinen das Ergebnis der chemischen und biologischen Evolution. Sie haben eine Milliarden Jahre dauernde Entwicklung hinter sich.

Können Sie einige Beispiele für Biomolekulare Maschinen nennen?

Cremer: Ohne die Biomolekularen Maschinen der Nukleosomen könnte sich die zwei Meter lange DNS in den Zellen des Körpers nicht in der Weise falten, dass sie in einem Raum von wenigen tausendstel Millimetern Durchmesser so untergebracht werden kann, dass sie ihre Aufgabe als Informations- und Steuerzentrum erfüllt. Ohne die Biomolekularen Maschinen der DNS-Replikation könnte keine Zelle die in der DNS gespeicherte Erbinformation verdoppeln. Diese Verdopplung aber ist die zwingende Voraussetzung für die vielfältigen Zellteilungen, die erst die Entwicklung eines Menschen aus einer einzelnen Zelle ermöglichen, und die es dem Erwachsenen gestatten, seine Haut, sein Blut und viele andere Gewebe zu erneuern.

Ohne die Biomolekularen Maschinen der DNS-Reparatur könnten die Zellen Schäden an der DNS nicht reparieren, die durch Umweltagenzien, durch Altern oder auch durch den normalen Ablauf der zellulären Funktionen ausgelöst werden. Und ohne die Biomolekularen Maschinen der Transkription könnte die Erbinformation in der DNS nicht in die Boteninformationsmoleküle umgeschrieben werden, mit deren Hilfe spezifische Proteine für die vielfältigen Lebensaufgaben der Zelle und des Organismus gebildet werden. Das sind nur wenige Beispiele für eine lange Reihe, die ich hier nicht erschöpfend aufzählen kann.

Welche Bedeutung hat diese Forschung im Gesamtbild der Lebenswissenschaften?

Cremer: Die genannten Beispiele machen deutlich, dass Biomolekulare Maschinen eine fundamentale Grundlage der Lebensvorgänge darstellen. Treten Veränderungen in den sie bildenden Untereinheiten auf, kann das gravierende Wirkungen für Leben und Gesundheit haben. Die weitere Erforschung ihrer Struktur und Dynamik zählt daher zu den wichtigen Zukunftsaufgaben der Lebenswissenschaften. Nach der Genomics, die die Abfolge der Basen in der DNS-Kette einer Zelle analysiert, und der Proteomics, der Analyse der gebildeten Proteine, geht es nunmehr um die Begründung einer Structeomics, einer Analyse der wichtigen supramolekularen Strukturen einer Zelle.

Wo könnten konkrete Möglichkeiten einer Anwendung liegen, zum Beispiel in der Medizin beim Kampf gegen unheilbare Krankheiten?

Cremer: Darüber kann man gegenwärtig natürlich nur spekulieren. Aus anderen Wissensgebieten, wie zum Beispiel der Physik, wissen wir, welch einen fundamentalen Einfluss die synergistische Verbindung von experimenteller Analyse mit theoretischen Modellbildungen als Basis der technologischen Revolutionen der letzten Jahrhunderte hatte. Aus dieser gut begründeten Erfahrung heraus dürfen wir fast sicher sein, dass dieses nunmehr auch in den Lebenswissenschaften auf zelluläre Nanostrukturen anwendbare Grundprinzip von größter Bedeutung für die Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten sein wird. Was beispielsweise mein eigenes Gebiet angeht, so erwarte ich, dass ein verbessertes Verständnis der Biomolekularen Maschinen des Zellkerns ein großes medizinisches Anwendungspotenzial besitzt. Ich erwarte zunächst wesentliche Verbesserungen in der zellulären Genomdiagnostik.

Könnte es möglich werden, dass Wissenschaftler eines Tages in der Lage sind, Zellen des erwachsenen Menschen neu zu programmieren?

Cremer: Bis dahin ist es ein weiter, aber lohnender Weg. Viele meiner Kollegen sind davon überzeugt, dass Erfolge auf diesem Forschungsgebiet dazu beitragen können, die sehr schwierigen Entscheidungen über embryonale menschliche Stammzell-Linien und therapeutisches Klonen aufzulösen, sofern dann adulte Zellen in geeigneter Weise reprogrammiert werden können.

Wie muss die Infrastruktur aussehen, damit Sie Ihre ehrgeizigen Ziele erreichen?

Cremer: Biomolekulare Maschinen sind vermutlich die komplexesten Nano-Gebilde der uns bekannten Natur. Die Aufgabe einer adäquaten Analyse übersteigt bei weitem die Möglichkeiten eines einzelnen Forschers, eines einzelnen Instituts, sogar einer einzelnen wissenschaftlichen Institution. Sie kann nur gelöst werden, wenn die Gesamtaufgabe in viele Module zerlegt und anschließend in einem multidisziplinären Netzwerk wieder integriert wird. Darum wäre es in meiner Sicht auch wünschenswert, ein solches Netzwerk als eine fakultätsübergreifende Aufgabe zu konstituieren.

An der BMM-Initiative sind 35 Heidelberger Arbeitsgruppen beteiligt: aus der Universität Heidelberg die Fakultäten für Medizin, Mathematik und Informatik, Chemie, Pharmazie, Physik und Astronomie sowie Biologie, sodann das Deutsche Krebsforschungszentrum, das Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung, das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie und die Universität Mannheim. Warum ist diese Initiative in Heidelberg angesiedelt?

Cremer: Sie haben es durch die Auflistung schon angedeutet: Der Raum Heidelberg-Mannheim ist für die Lösung dieser Aufgaben aus nationaler, aber auch aus internationaler Sicht in hervorragender Weise geeignet. Die Bioregion Rhein-Neckar ist eines der führenden Zentren der biologischen und biomedizinischen Forschung sowie des Wissenschaftlichen Rechnens in Deutschland.

Wie sieht es mit nationalen und internationalen Kooperationen aus?

Cremer: Die beteiligten Arbeitsgruppen sind in vielfältiger Weise national und international vernetzt. Zum Beispiel wurde soeben ein gemeinsamer Sonderforschungsbereich der Universitäten Heidelberg und München zur weiteren Erforschung des Chromatins, von Genom-Nanostrukturen also, gegründet, mit Professor Renato Paro vom Zentrum für Molekulare Biologie als Heidelberger Sprecher. Das EMBL ist selbst eine europäische Institution. Enge Beziehungen haben wir vor allem zu den Vereinigten Staaten und zu Israel.

Welche Unterstützung haben Sie bisher schon erhalten und wie sehen Ihre finanziellen Wünsche für die Zukunft aus?

Cremer: Es sind erhebliche zusätzliche Mittel erforderlich. Als Anlauffinanzierung wurde im April 2001 der Universität Heidelberg ein Forschungsschwerpunktprogramm des Landes bewilligt. Weitere Förderung erhoffen wir im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Optische Analyse der Struktur und Dynamik supramolekularer biologischer Komplexe", das im Mai 2001 bewilligt und ab 2002 eingerichtet und durch mich koordiniert wird. Natürlich hoffen wir sehr auf weitere Gelder, etwa im Rahmen von Programmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung oder von einem privaten Sponsor.

Sie erlauben mir eine zweifelnde Frage zum Schluss: Ist das Wort "Maschine" für hochkomplexe Grundstrukturen des Lebens wirklich angemessen?

Cremer: Bei dem Wort "Maschine" denkt man zunächst an Wasch-Maschinen, Spül-Maschinen, Dampf-Maschinen – sehr nützliche und wichtige Dinge. Das griechisch-lateinische Wort "machina" hatte früher aber eine viel umfassendere Bedeutung: Maschinen wie Uhren waren auch ästhetische Ereignisse. Wilhelm von Humboldt sagt in seinen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" von 1792, der Staat sei eine "zusammengesetzte und verwickelte Maschine". In der mittelalterlichen Theologie schließlich hat das Wort "Maschine" die höchsten Weihen erfahren: Gott ist der kosmische Baumeister-Ingenieur, der das Wunderwerk der Schöpfung, die "machina mundi", die Weltmaschine, nach Maß und Zahl entwirft und konstruiert und ihr seine gnadenreiche Lenkung als kosmischer Steuermann/Maschinist zukommen lässt. In dieser Tradition kann das Wort "Biomolekulare Maschine" auch als Synonym zu "kleines Wunderwerk der Natur" aufgefasst werden, im buchstäblichen Sinne der Sprachbedeutung: als eine außergewöhnliche, eben "wunderbare" Gegebenheit.

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