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Genetischer Striptease für Versicherungen?

Die Möglichkeit, bestimmte Krankheiten mit Hilfe moderner genetischer Analysen vorauszusagen, wirft viele zentrale Fragen auf. Eine dieser Fragen ist, ob oder in welchem Ausmaß es den Anbietern von Kranken- und Lebensversicherungen erlaubt sein darf, vor dem Abschluss eines Vertrages zu verlangen, dass sich der Interessent einem Gentest unterzieht. Jochen Taupitz vom Institut für deutsches, europäisches und internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim analysiert diese Frage eingehend und kommt zu einem überraschenden Schluss. Professor Taupitz ist Mitglied des Nationalen Ethikrats, den die Bundesregierung 2001 eingerichtet hat, um den interdisziplinären Dialog über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften zu fördern.

Eine wachsende Zahl von Tests ermöglicht es, die genetische Anlage zu bestimmten Krankheiten zu erkennen. Mit solchen Tests kann unter Umständen schon Jahrzehnte zuvor vorhergesagt werden, ob eine Krankheit ausbrechen wird. Ein derartiges Wissen kann sich positiv auswirken, beispielsweise dann, wenn durch bestimmte Verhaltensweisen, etwa eine Diät, der Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen oder der Ausbruch der Krankheit zu verhindern ist. Genetisches Wissen kann aber auch negative Folgen zeitigen, etwa in Form starker psychischen Belastung auf Grund des Wissens um die drohende Erkrankung oder die Furcht vor einem möglicherweise bevorstehenden frühen Tod.

Nicht zuletzt werden diskriminierende Praktiken befürchtet, wenn immer mehr und immer genauere Kenntnisse über den künftigen gesundheitlichen Status eines Menschen gewonnen werden können. Versicherer könnten beispielsweise denjenigen mit den "schlechten Genen" einen Versicherungsvertrag verweigern. Um dies zu verhindern, wurde im Koalitionsvertrag zwischen der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998 die Absicht verankert, "den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor genetischer Diskriminierung insbesondere im Bereich der Kranken- und Lebensversicherung [zu] gewährleisten". Noch deutlicher hat es der Bundesrat im Herbst des Jahres 2000 gefordert: Gentests sollen als Voraussetzung für den Abschluss von Lebens- und Krankenversicherungsverträgen vorbehaltlich eng begrenzter Ausnahmen verboten werden.

Gegen das Begehren eines Versicherers, ein Interessent möge sich genetisch testen lassen, bevor ein Vertrag abgeschlossen werden kann, wird von den Kritikern vor allem Folgendes eingewandt:

  • Das Recht des Versicherungsinteressenten auf (gen-)informationelle Selbstbestimmung wird verletzt, zwingt man ihn vor dem Vertragsabschluss zum "genetischen Striptease". In der Tat hat jeder Mensch das aus der Verfassung abgeleitete Recht, selbst über die Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen. Auch ist das Recht jedes Menschen zu achten, bestimmte Dinge über sich selbst nicht wissen zu wollen. Es gibt also auch ein "Recht auf Nichtwissen".
  • Der Versicherungsinteressent wird diskriminiert, wenn er auf Grund seiner genetischen Disposition keinen Personenversicherungsschutz erlangen kann. Für die eigenen Gene ist man schließlich nicht verantwortlich; deshalb kann man im versicherungsrechtlichen Sinne auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden.
  • "Genetisch", also gleichsam von Natur aus Benachteiligte, dürfen nicht zusätzlich auch noch finanziell benachteiligt und damit gewissermaßen doppelt für ihre "schlechten Gene bestraft" werden. Gerade diese Menschen sind auf Versicherungsleistungen angewiesen. Werden sie ausgeschlossen, entsteht eine "genetische Klassengesellschaft".
  • Das Aufdecken genetischer Dispositionen vor dem Abschluss eines Vertrages läuft dem Zweck der Versicherung zuwider. Wer keine Versicherung braucht, wird keine abschließen; wer eine braucht, wird keine abschließen können. Bei der Würdigung dieser Einwände muss man zunächst bedenken, dass es in Deutschland zwei vollkommen unterschiedliche Systeme zur finanziellen Vorsorge gegen Gesundheitsrisiken gibt. Auf der einen Seite steht das Sozialversicherungssystem. Es basiert auf dem Prinzip der Pflichtversicherung. In diesem System haben persönliche, insbesondere gesundheitliche Merkmale der potenziellen Versicherungsnehmer keinerlei Bedeutung: Das Versicherungsverhältnis kommt "ohne Ansehen der Person" zustande – wohl aber mit Blick auf das Portemonnaie des zu Versicherungsnehmers, weil die zu zahlende Beitragshöhe von seinem Einkommen abhängig ist.

In der Sozialversicherung (also insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung) haben damit genetische Informationen keinerlei Relevanz für das "Ob" und "Wie" des Vertrages. Sie dürfen auch keinerlei Relevanz haben, weil der Solidarausgleich zwischen Gesunden und Kranken oder dispositiv Kranken eine wesentliche Grundlage der Sozialversicherung ist

Ganz anders sieht es dagegen im Privatversicherungssystem aus. Dieses System beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, und zwar für den Versicherer wie für den Versicherungsinteressenten. Das heißt: Kein Versicherer ist verpflichtet, einen Antrag anzunehmen; jeder Versicherer kann den Umfang des von ihm angebotenen Versicherungsschutzes selbst festlegen; und jeder Versicherungsinteressent kann sich denjenigen Versicherer aussuchen, der ihm die günstigsten Konditionen gewährt. Zu den prägenden Strukturprinzipien der privaten Versicherung gehört die so genannte Risikoäquivalenz der Konditionen: Die Vertragsbedingungen, insbesondere die Prämienhöhen, hängen vom jeweils individuell eingebrachten Risiko ab. Derjenige, der ein hohes Risiko trägt – beispielsweise ein alter Mensch oder eine Person, die beim Vertragsabschluss bereits erkrankt ist – zahlt eine höhere Prämie als derjenige, der als junger, gesunder Mensch ein geringeres Risiko in die Gemeinschaft der Versicherten einbringt. Die Versicherer fragen deshalb vor dem Abschluss eines Vertrages nach den gesundheitlichen Risiken der betreffenden Person; oder sie verlangen (seltener) vor dem Vertragsabschluss eine ärztliche Untersuchung. Erst während der Laufzeit des Vertrages findet ein sozialer, solidarischer oder wie auch immer zu bezeichnender "Ausgleich" insoweit statt, als weder der Versicherer noch der Versicherte wegen einer sich erst nach Vertragsschluss verändernden Risikolage verlangen kann, die Bedingungen des Vertrages zu ändern.

Damit kristallisiert sich eine wichtige Weichenstellung heraus: Genetische Informationen über die zu versichernde Person können allenfalls in der Privatversicherung, vor allem der privaten Kranken- und Lebensversicherung, bedeutend sein – nicht dagegen in der Sozialversicherung, die über 90 Prozent der Bevölkerung gegen Krankheit, Unfall und Invalidität absichert. Damit stellt sich auch lediglich mit Blick auf die Privatversicherung die Frage, ob der Gesetzgeber es verbieten sollte, genetische Informationen zu verwenden – ob also ein privat versicherter Mensch davor bewahrt werden soll, vor dem Versicherer einen genetischen Striptease zu veranstalten und zum "gläsernen" Menschen zu werden.

Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht stellt sich zugleich die Frage, ob der Gesetzgeber verhindern sollte, dass Privatversicherer zu ihrem eigenen Vorteil eine Auslese guter Risiken auf Kosten des Sozialsystems betreiben: Versicherungsinteressenten mit "schlechten" Genen würden dann der Sozialversicherung überlassen; eine Kumulation schlechter Risiken in der Sozialversicherung könnte dann deren Weiterbestand gefährden.

Tatsächlich haben es einige wenige Länder, beispielsweise Österreich, strikt verboten, genetische Informationen im Privatversicherungsbereich zu verwenden. Diese Lösung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn sich genetische Informationen wirklich "als solche" von anderen medizinischen Informationen unterscheiden.

Sieht man genauer hin, lässt sich ein derart grundlegender Unterschied allerdings nicht ausmachen. Zwar lassen sich bestimmte genetische Analysen von "traditionellen" medizinischen Untersuchungen durch die Art der Methode – die Analyse der Erbsubstanz DNA – unterscheiden. Betrachtet man aber den Inhalt der Informationen und deren Bedeutung, besteht kein grundlegender Unterschied.

Genetische Analysen werden immer häufiger dazu verwendet, bereits ausgebrochene, nicht-erbliche Krankheiten zu diagnostizieren. Umgekehrt dienen zahlreiche traditionelle Methoden schon lange dazu, genetisch bedingte, also erbliche Krankheiten festzustellen. Ein Beispiel sind die so genannten Café-au-lait-Flecken, die auf die Erbkrankheit Neurofibromatose I hinweisen. Ein anderes Bespiel sind von Zysten durchsetzte Nieren, was auf eine bestimmte erbliche Nierenerkrankung schließen lässt. Ganz ohne moderne DNA-Analyse, sondern "nur" mit traditionellen Methoden – dem bloßen Ansehen der Person oder durch bildgebende Verfahren wie Röntgen- oder Computertomografie – lässt sich also der zu Grunde liegende genetische Defekt diagnostizieren. Weitere traditionelle Vorgehensweisen zur Feststellung genetischer Erkrankungen sind biochemische oder physikalische Methoden, mit denen erhöhte Cholesterinwerte, ein erhöhter Blutzucker, ein erhöhter Salzgehalt des Schweißes oder bestimmte Bestandteile des Urins festgestellt werden können. Es handelt sich hierbei um Beispiele für hochspezifische Indikatoren für bestimmte genetische Störungen.

Mit ganz unterschiedlichen Methoden kann man also die jeweils gleiche Information gewinnen. Damit stellt sich die zentrale Frage: Mit welcher Berechtigung muss eine Information gegenüber der Versicherung "unter Verschluss" bleiben, wenn sie mit Hilfe einer DNA-Analyse ermittelt wurde – wohingegen sie verwendet werden darf, wenn sie mit einer anderen Methode festgestellt wurde?

Um diese Frage zu beantworten, sind unter anderem folgende Punkte zu bedenken:

  • Lässt sich eine unterschiedliche Beziehung zur Therapiefähigkeit herstellen?
  • Besteht ein grundlegender Unterschied im Hinblick auf die Art der Erkrankung?
  • Unterscheiden sich die genetischen Untersuchungen hinsichtlich ihrer Aussagekraft grundlegend von anderen Untersuchungen?
  • Ist eine unzulässige, gegen den Gleichheitssatz (Artikel 3 des Grundgesetzes) verstoßende Ungleichbehandlung zu befürchten?

Da alle diese Fragen mit "nein" zu beantworten sind, zeigt sich, dass es der Gleichheitssatz verbietet, die Ergebnisse von genetischen Analysen im Privatversicherungsbereich zu untersagen, gleichartige Informationen dagegen zuzulassen, nur weil sie mit Hilfe einer anderen Methode ermittelt wurden. Dies liefe auf eine unzulässige Methodendiskriminierung hinaus. Wenn man es für ethisch oder rechtlich bedenklich hält, prädiktive genetische Informationen zu verwenden, um das Risiko beim Abschluss eines Privatversicherungsvertrages zu bewerten, dann müsste man konsequenterweise jegliche Risikotarifierung in der Privatversicherung ablehnen – was aber zu Recht niemand fordert.

Zu bedenken ist außerdem, dass Versicherungen keinesfalls das Recht haben, "alles" über die zu versichernde Person zu erfahren. Es geht vielmehr um Informationen über bestimmte Risiken, die sich unmittelbar auf den konkret zu verhandelnden Vertrag auswirken. Die Risikofaktoren basieren auf versicherungsmathematischen Berechnungen, die das zu vereinbarende Verhältnis von Leistung und Gegenleistung betreffen. Insofern gilt aber: Je unsicherer es ist, ob eine genetische Anlage im Laufe des Lebens zum Ausbruch einer Erkrankung führen wird, desto weniger Anlass besteht für den Versicherer, einen Versicherungsantrag abzulehnen oder ihn nur zu besonderen Konditionen anzunehmen. Je größer aber die Gewissheit ist, umso eher wird sich der Versicherer zu Recht veranlasst sehen, die fraglichen Umstände gemäß der Risikobezogenheit der privaten Versicherung in seine Überlegungen einzubeziehen.

Des Weiteren ist zu bedenken: Verbietet man es dem Versicherer per se, vor Vertragsabschluss einen Gentest zu verlangen, kann nicht verhindert werden, dass ein Interessent seine gefahrerhebliche Disposition bereits kennt und in diesem Wissen einen Personenversicherungsvertrag abschließt, um sich oder den von ihm bestimmten Bezugsberechtigten einen ungerechtfertigten Versicherungsschutz zu verschaffen. Schon heute dient die ärztliche Untersuchung, die ein Versicherer vor Vertragabschluss verlangen kann, auch dazu zu verhindern, dass der Interessent sein Wissen einseitig zu seinem Vorteil ausnutzt. Man kann es aber nicht einerseits erlauben, dass der Versicherungsinteressent "Kapital aus seinen Genen" schlägt, wenn er die entsprechende Kenntnis auf Grund einer genetischen Analyse erlangte, ihm es aber andererseits verwehren, wenn er sich diese Kenntnis mit einer anderen Methode verschaffte.

Selbst wenn man eine routinemäßige Anwendung von risikoerheblichen Gentests vor Vertragsabschluss ablehnt, muss es dem Versicherer zumindest im Einzelfall offen bleiben, den Abschluss des Vertrages – gemäß der bereits gegenwärtig üblichen Praxis – von einer vorherigen ärztlichen Untersuchung der zu versichernden Person abhängig zu machen. Ein solche Einzelfall-Prüfung könnte beispielsweise in Frage kommen, wenn ein konkreter Verdacht besteht, dass der Interessent falsche Angaben gemacht hat, wenn eine ungewöhnlich hohe Versicherungssumme beantragt wurde oder wenn die sonst üblichen Wartezeiten vor dem Beginn des Versicherungsschutzes wegfallen sollen. Sofern im konkreten Fall eine medizinische Indikation gegeben ist, muss die ärztliche Untersuchung dann auch eine genetische Analyse umfassen können. Denn nur auf diese Weise kann Vertragsparität durch Informationsparität gewährleistet werden.

Die Frage, ob genetische Analysen zulässig sind, offenbart allerdings noch ein viel grundlegenderes Problem. Der Solidarausgleich zugunsten von Menschen mit angeborenen Krankheitsdispositionen ist – wie dargestellt – eine originäre Aufgabe der Pflichtversicherung, in Deutschland also der Sozialversicherung. Sieht man diesen Solidarausgleich als Grundprinzip einer Gesellschaft an, dann hat das deutsche Sozialsystem in der Tat einen Konstruktionsmangel, da die Mitgliedschaft in der Grundsicherung für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Beamte, Selbstständige oder Gutverdienende nicht obligatorisch oder nicht erreichbar ist.

Konsequenterweise muss dieser Mangel aber systemgerecht in der Sozialversicherung beseitigt werden – und nicht durch eine systeminadäquate "Sozialisierung" der Privatversicherung, das heißt durch die einseitige Inanspruchnahme gerade jenes Privatversicherers, den sich ein Versicherungsinteressent – aus welchen Gründen auch immer – als Vertragspartner ausgesucht hat und der allein aus diesem Grund die entsprechende sozialstaatliche Aufgabe zu erfüllen hat, ohne dass es ihm möglich ist, die Leistung und Gegenleistung im Interesse des von ihm gebildeten Versicherungskollektivs angemessen ins Verhältnis zu setzen.

Aus diesem Grund gilt es auch sehr genau zu überlegen, ob es – wie zunehmend gefordert – wirklich angebracht ist, die Daseinsvorsorge der Bürger immer mehr aus der Sozialversicherung heraus in den Bereich der Privatversicherung zu verlagern. Richtiger wäre es, den genau umgekehrten Weg einzuschlagen und den Aspekt der Solidarität zumindest in einem Bereich der Grundsicherung auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen.

Autor:
Prof. Dr. Jochen Taupitz,
Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim,
Anschrift: Schloss – W, 68131 Mannheim,
Telefon (0621) 1811381, Fax (0621) 1811380,
e-mail: taupitz@jura.uni-mannheim.de

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