Siegel der Universität Heidelberg
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...und da hat er ihr einfach eine vors Schienbein gegeben

Gewalt müssen wir mit "aller Macht" entgegentreten. "Macht" im Sinne von Hannah Arendts Buch "Macht und Gewalt" entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt nach Hannah Arendt niemals ein Einzelner – die Macht ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent wie die Gruppe zusammenhält. Macht entsteht also immer, wenn Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln. Wie diese Macht genutzt werden kann, um den verschiedensten Erscheinungsformen destruktiver Gewalt entgegenzutreten, erläutert Manfred Cierpka von der Psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg.

Als die Eltern mit ihrem 6-jährigen Sohn Markus in die Ambulanz kamen, waren sie verzweifelt. Nach einer Rangelei mit einem anderen Jungen im Kindergarten hatte die Erzieherin der Mutter empfohlen, therapeutische Hilfe zu suchen. Ein Erstgespräch wurde mit der Familie vereinbart, an dem neben den Eltern und Markus auch die beiden Geschwister (Schwester 1,5 Jahre, Bruder 5 Jahre) teilnahmen.

Das Familienleben bei Familie O. ist dadurch bestimmt, wie Markus sich fühlt. Hat er einen schlechten Tag, ist die Familienatmosphäre unerträglich. Seine Wutanfälle sind gefürchtet. Während sein Vater in solchen Situationen versucht, ruhig und sachlich auf seinen Sohn einzugehen, geraten Markus und seine Mutter schnell aneinander. Zu Hause gibt es ständig Streit, die Rivalität und Konkurrenz zwischen Markus und seinen Geschwistern wird von den Eltern als ein weiteres großes Problem geschildert. Frau O. erzählt, dass sie es persönlich kaum ertragen kann, wenn sie Markus etwas abschlagen und ihn enttäuschen müsse. Während sie bei ihren beiden anderen Kindern den Eindruck habe, dass diese verstehen, warum sie etwas nicht erlaube, würde sie diesen Punkt bei Markus nie erreichen.

Einige Wochen vor dem Gespräch war die Mutter schon einmal auf das aggressive Verhalten von Markus hingewiesen worden. Sie wurde in den Kindergarten gebeten, um sich dort selbst ein Bild vom Verhalten ihres Sohnes zu machen. Tatsächlich beobachtete sie eine Situation, die sie erschütterte und der sie noch heute ratlos und ungläubig gegenübersteht. Im Erstgespräch berichtet sie, und Markus antwortet:

Abb. S. 5

Mutter: "Ich war mit Markus in diesem Spielkreis. Die Kinder saßen im Kreis zusammen, ich dahinter. Und da ist er während des Singens einfach zu einem Mädchen rübergegangen, hat es sich angeschaut und hat ihr plötzlich eine vors Schienbein gegeben, einfach so. Und da saß ich da, huh, und dachte, das war mein Markus, wie kann er das nur machen?"

Markus: "Wenn die anderen Spaß hatten, dann saß ich einfach so da."

Mutter: "Ja, Du hast es ja abgelehnt, mitzumachen. Spielen, in der größeren Gruppe, das wollte er nicht. Er wollte lieber mit Einem oder mit Zweien zusammen sein."

Therapeut: "Ja, eben, so bekommt man mehr Aufmerksamkeit."

Markus: "Ich bin auch manchmal abgehauen."

Mutter: "Sie mussten ihn immer wieder von draußen holen. Manchmal haben sie sogar die Tür verschlossen."

Therapeut: "Warum brauchst Du so viel Aufmerksamkeit? Was glaubst Du? Warum brauchst Du mehr als die anderen?"

Markus: "Das kann ich nicht sagen. Ich finde es halt blöd, mit so Vielen zusammen zu sein. Mit ganz Vielen finde ich es nicht so gut, zusammen zu sein (zu den Eltern gewandt, vorwurfsvoll). Und wenn wir jetzt in den Urlaub fahren wollen, fragen sie andauernd irgendwelche anderen Leute, ob sie mit in den Urlaub gehen."

Mutter: "Ist das jetzt ein Scherz gewesen?"

Therapeut: "Du hättest es lieber, wenn es weniger wären?"

Markus: "Ja, eben nur die Familie."

Therapeut: "Ja, und dann wäre es gut?" (Markus nickt.)

Therapeut: "Was wäre dann anders?"

Markus: "Dann wären wir in einer Familie und nicht mit so vielen Freunden. Ich will mit der Familie Urlaub machen und nicht mit dem Freundeskreis. Ich finde es besser, wenn wir zusammen sind. Jeden Tag sehen wir irgendwelche Leute, aber manchmal will man eben auch allein mit den Eltern sein." (weint)

Therapeut: "Kannst Du sagen, Markus, was Dir jetzt die Tränen macht?"

Markus: "Ne." (weint, zuckt mit den Achseln)

Therapeut: "Möchtest Du mehr mit Deiner Familie zusammen sein?" (Markus nickt.)

Therapeut: "Enger?"

Markus: "Ja."

Therapeut: "Wie sehr?"

Markus: "Das weiß ich nicht. Ich bin ruhiger, wenn ich mit meinen Eltern zusammen bin, als wenn ich mit meinen Geschwistern zusammen bin."

Therapeut: "Dann sind es auch mehr – mit den Geschwistern sind es dann mehr."

Markus: "Ne, eigentlich ist es nicht schlimm, wenn ich mit meinen Geschwistern zusammen bin. Es ist einfach so, dass ich ruhiger bin, wenn ich mit meinen Eltern zusammen bin."

Therapeutin: "Wie meinst Du, dass Du ruhiger wirst, wenn Du mit den Eltern zusammen bist?"

Markus: "Wenn ich mit den Geschwistern zusammen bin, dann fühle ich mich wieder wie der große Bruder, und dann mache ich wieder alles falsch."

Therapeutin: "Und wenn die Geschwister nicht dabei sind, dann hast Du eher das Gefühl, dass es richtig ist."

Markus: "Ja, dann bin ich eben normal."

Im Gesprächsverlauf beeindruckte Markus mit seiner klaren und reflektierten Beschreibung der eigenen Situation. Auch seine Gefühle und Wünsche konnte er angemessen ausdrücken. So konnte er deutlich sagen, dass er sich mehr Nähe zu seinen Eltern wünscht. An dieser Stelle des Gesprächs wurde seine Trauer spürbar, die ihn weinen ließ. Die Eltern machten sich große Sorgen um seinen weiteren Werdegang. Die beiden jüngeren Geschwister waren eher zurückhaltend.

Abb. S. 6

Über Markus früheste Kindheit berichtet Frau O., dass sie ihn während seines ersten Lebensjahres fast nur auf dem Arm getragen habe. Sie zitiert ihre eigene, als kühl und distanziert beschriebene Mutter, die einmal provokativ bemerkt habe: "Markus wird wohl in seinen ersten zwölf Lebensmonaten nie den Boden sehen." Diese anklammernde Beziehung veränderte sich dramatisch, als Frau O. eine Fehlgeburt hatte und mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste. Markus war zu dieser Zeit drei Monate alt. Als er 15 Monate alt war, kam der heute fünfjährige Bruder zur Welt. Die dritte längere Trennung ereignete sich im vierten Lebensjahr von Markus: Frau O. musste wegen ihrer dritten Schwangerschaft mehrere Monate im Krankenhaus liegen. Nach der Geburt der Tochter reagierte Markus sehr eifersüchtig. Die Eltern erklärten sich Markus aggressives Verhalten und seine Geschwisterrivalität mit seiner frühen und "plötzlichen Abnabelung".

Für Markus' Symptome scheinen uns die frühen Bindungserfahrungen und seine Identifizierungen mit den Eltern bedeutend. Das zunächst unabgegrenzte Beziehungssverhalten seiner Mutter verbunden mit dem aus Markus Sicht erfolgten Beziehungsabbruch – er verbrachte mehrere Wochen beziehungsweise Monate bei seinen Großeltern – führten wahrscheinlich zu einem unsicheren Bindungsstil. Das fordernd-aggressive Verhalten sehen wir als Versuch, sich der bestehenden Bindung immer wieder zu vergewissern. Die Schuldgefühle der Mutter wegen ihrer Abwesenheiten verstärken das aggressive Verhalten ihres Sohnes, da sie ihm in konfliktreichen Situationen oft nachgibt und in der Erziehung nicht konsequent bleibt.

Abb. S. 7

Auf Grund des unsicheren Bindungsstils erlebte Markus seine "Entthronung" durch die Geschwister wahrscheinlich bedrohlicher als andere Erstgeborene. Die heftig ausgetragene Geschwisterrivalität erscheint insofern verständlich, als sie den verzweifelten Kampf um die Liebe der Mutter und die Sehnsucht nach ihrer körperlichen Nähe widerspiegelt. In den Familiengesprächen konnten wir mit den Eltern einen Erziehungsstil erarbeiten, der Markus eine größere Sicherheit in der Bindung an die Eltern vermittelte. Im Rundtischgespräch mit den Eltern und den Erzieherinnen konnten die Maßnahmen auch auf den Umgang im Kindergarten übertragen werden.

Markus' aggressives Verhalten und die Schwierigkeiten von Familie O. sind beispielhaft für ein soziales Phänomen, das in den letzten Jahren verstärkt öffentlich diskutiert wird: die zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. In unserer familientherapeutischen Ambulanz werden wir mit diesen Problemen konfrontiert. Zu uns kommen Eltern, die ihre Kinder als "Tyrannen" bezeichnen. Familien suchen unseren Rat, weil sich ein Kind nicht in die Klassengemeinschaft integrieren lässt, oder weil es bei der geringsten Kränkung "ausrastet".

Die Aggressivität – die Gewaltbereitschaft bis hin zur unmittelbaren Gewalt – ist in der Menschheitsgeschichte schon immer ein Thema. Es ist nie neu, aber es wird immer wieder aktualisiert. Allerdings spricht vieles dafür, dass sich dieses Jahrhundert durch eine besondere Gewalttätigkeit auszeichnet. In keinem Jahrhundert wurde aber wahrscheinlich auch so viel über Maßnahmen gegen Gewalt nachgedacht. Seit Ende der 80er Jahre wird das Problem in den unterschiedlichen Bereichen der Öffentlichkeit verstärkt diskutiert. Gemeinsame Aktionen gegen die Gewalt werden geplant und umgesetzt.

Wesentlicher Auslöser der aktuell entbrannten Diskussion ist die Tatsache, dass die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen in erheblichem Maße zugenommen hat. Die Zunahme der Delinquenz trifft allerdings nur auf einen sehr kleinen Teil der Kinder und Jugendlichen zu. Wie die Kriminalstatistik zeigt, hat sich die Kinder- und Jugendlichenkriminalität in den letzten drei Jahren um über ein Drittel nach oben entwickelt. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass die Täter immer jünger werden.

Doch nicht nur die Kriminalstatistik zeigt eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Immer mehr Untersuchungen sprechen dafür, dass es in deutschen Kindergärten und Schulen immer härter zugeht. Auch wenn neun von zehn Jugendlichen nach wie vor Gewalt ablehnen und sich entsprechend verhalten, sind Kinder häufiger bereit, zu Mitteln der Gewalt zu greifen. In mehreren Untersuchungen zeigte sich, dass gewaltbereites Verhalten bei Kindern und Jugendlichen in den letzten zehn bis 15 Jahren zugenommen hat. Circa zwei Prozent der Kinder in Kindergärten und Schulen sind auf Grund ihres impulsiven und aggressiven Verhaltens gefährdet und sind für die Bezugspersonen eine Belastung.

Natürlich lässt sich keine alleinige Ursache benennen, die plausibel erklärt, warum die Kinder- und Jugendkriminalität und auch die Gewaltbereitschaft in Kindergärten, Schulen und überhaupt im öffentlichen Raum zugenommen hat. Wir erleben gegenwärtig gesellschaftliche Veränderungen in beiden Teilen Deutschlands und damit einhergehende Instabilitäten, die offensichtlich zu einer Zunahme von Rechtsradikalismus, Fremdenhass und Gewaltbereitschaft beigetragen haben. Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut sind weitere gesellschaftliche Einflussgrößen, welche die sozioökonomische Situation verschlechtern und damit die individuelle und familiäre Verunsicherung vergrößern.

Verschlechterte sozioökonomische Bedingungen reichen aber als Erklärung nicht aus. In einer sich pluralisierenden und individualisierenden Gesellschaft wird es für Kinder und Jugendliche immer schwieriger, sich in die Gesellschaft zu integrieren; für Eltern wird die Erziehung immer schwieriger. Es gibt neue Miterzieher, etwa die Medien. Aber auch die Bedeutung der Gleichaltrigengruppe als Miterzieher scheint größer geworden zu sein. Schließlich soll noch die Verunsicherung in den Wert- und Normvorstellungen bei Kindern und Eltern angeführt werden, die auch auf dem Hintergrund der 68er Zeit diskutiert wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Kriminalstatistik bei Kindern in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahren verbesserte, nachdem sie sich über Jahre zuvor stetig verschlechtert hatte. Viele Wissenschaftler führen dies auf folgende Entwicklung zurück: Die in den Medien angeprangerte erhöhte Gewaltbereitschaft hat die Eltern auf das Problem aufmerksam gemacht. Mit einer entsprechend ausgerichteten Öffentlichkeitsarbeit gelang es dann, den Eltern den Wert und die Notwendigkeit einer kindgerechten Erziehung vor Augen zu führen. Möglicherweise konnte ein solcher Einstellungswandel zu mehr und besserer Erziehung vieles positiv verändern. Es scheint, als stünden wir in Deutschland zur Zeit vor einer ähnlichen Aufgabe.

Die Entwicklung von Kindern findet im Kontext der Beziehungen statt, in denen sie leben. Die Familie spielt deshalb als primäre Sozialisationsinstanz im seelischen Entwicklungsprozess eines Kindes eine entscheidende Rolle. Macht ein Kind früh unzureichende und ungünstige (Bindungs- und Beziehungs-)Erfahrungen, kann es die für seine Entwicklung notwendigen Fertigkeiten wie Selbstvertrauen und -bewusstsein, kommunikative und emotionale Kompetenz und bestimmte soziale Fähigkeiten nur schwer erwerben. Viele Kinder kommen aus instabilen Familien, die Entwicklung der Kinder ist sehr häufig durch Brüche in der Lebenslinie belastet.

Ein Erklärungsmodell für Gewaltbereitschaft muss mehrere Entwicklungsbedingungen im Sinne von "Risikofaktoren" beachten. Wir haben sie in einem "Familien-Risiko-Modell" zusammengefasst:
Schwierige Umgebungsbedingungen labilisieren diese Familien. Häufiger Wohnwechsel kann die soziale Desorganisation verstärken. Arbeitslosigkeit, keine Einbindung in die soziale Umgebung tragen dazu bei, dass keine neuen Ressourcen aus dem sozialen Unterstützungssystem geschöpft werden können. Wenn sich die Familiensituation verschärft, wird der Überlebenskampf härter. Die Aggression als Modell zur Konfliktlösung spiegelt die Auseinandersetzung der Familie mit der als feindlich erlebten Außenwelt. Tragisch ist, dass sich die Kinder in der Sozialisation mit diesem "Modell der Konfliktlösung durch Gewalt" identifizieren und so vom Opfer zum Täter werden können.

Wie der Gewalt begegnet werden kann

Aggressives und gewaltbereites Verhalten entwickelt sich entlang sehr unterschiedlicher Entwicklungslinien. Manche Familien, die mit einem Kind zur Beratung kommen, berichten eine Entwicklungsgeschichte, die sowohl für die Familie als auch für das Kind von Krisen, Inkonsistenzen und Chaos gekennzeichnet ist. Soziale Benachteiligung, ökonomische Krisen und instabile Herkunftsfamilien sind Faktoren, die auch zu Instabilität in der Gegenwartsfamilie beitragen. Andere Familien erscheinen auf den ersten Blick "intakt". Das aggressive und gewaltbereite Verhalten des Kindes ist zunächst wenig verständlich, die Gründe und Ursachen sind nicht zu erschließen.

In den allermeisten Familien erscheint uns die Erziehungspraxis problematisch. Der Mittelpunkt unseres Modells ist ein Teufelskreis, der sich zwischen der ungenügenden und inadäquaten Erziehungspraxis und den gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen in der Familie aufbaut.

Einerseits erlauben die gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen in der Partnerschaft keine adäquate Erziehungspraxis, andererseits führen die Erziehungsschwierigkeiten ihrerseits zu erheblichen Konflikten und zu zunehmender innerfamiliärer Spannung, insbesondere zwischen den Eltern. Die sich wechselseitig verstärkenden innerfamiliären Konflikte und die damit verbundenen gestörten Beziehungen lassen die Familienprobleme eskalieren. Inkonsistenzen im Erziehungsstil oder/und mangelnde Übereinstimmung der Eltern die Erziehungsziele betreffend oder/und mangelnde Empathie gegenüber den Bedürfnissen eines Kindes oder gar mangelnde Fürsorge garantieren in der Konsequenz dem Kind keine genügend gute und fördernde familiäre Umwelt für seine psychosoziale Entwicklung. Der Teufelskreis wird durch provokatives und schwieriges Verhalten des Kindes aufrecht erhalten. Vergebliche Erziehungsversuche steigern die Ohnmacht und die gegenseitige Isolierung von Eltern und Kind.

Manchmal sind die Erziehungsschwierigkeiten direkt auf Familienkonflikte zurückzuführen. In diesem Fall sind die Erziehungsfertigkeiten durchaus vorhanden, den Eltern oder einem Elternteil gelingt es jedoch nicht, sie dem Entwicklungsstand des Kindes und seinen Bedürfnissen entsprechend einzusetzen. In anderen Fällen sind diese "parenting skills" bei den Eltern nur ungenügend ausgebildet. Die Eltern erscheinen von den Aufgaben, die an sie gestellt werden, überfordert. Beide Ursache-Wirkungsketten stimmen in ihrer Endstrecke überein – der Bildung eines Teufelskreises von Erziehungsproblemen und gestörten innerfamiliären Beziehungen, der sich zirkulär verstärkt und eskaliert.

Bei den gefährdeten Kindern resultieren Schwierigkeiten in der Empathie, in der Impulskontrolle und im Umgang mit Ärger und Wut. Dieser spezifische Mangel beeinträchtigt die Beziehungen zu anderen Menschen und die Handlungsspielräume in zwischenmenschlichen Konflikten.

Manche Familien suchen eine Beratungsstelle auf, wenn sie glauben, am Ende ihrer Möglichkeiten zu sein. Die Schamschwelle ist jedoch noch hoch. Es muss deshalb auch darüber nachgedacht werden, wie man diese Familien erreichen und wie man einem Problem bereits im Vorfeld begegnen kann. Viele Beratungsstellen, Vereine wie "Pro Familia" oder die Wohlfahrtsverbände bilden ein Netzwerk der sozialen Unterstützung für Familien in Krisensituationen. Hingegen fehlen weitgehend systematisch erarbeitete und wissenschaftlich fundierte Präventionsprogramme und die vorausschauende Konzeption von Programmen, um Ressourcen für die Familie als Präventionsmaßnahme bereitzustellen.

Neben der Intervention ist Prävention dringend erforderlich. Vorbereitende Programme müsste es für Familien in bestimmten Schwellensituationen geben – etwa Vorbereitungskurse für Ehepaare oder für die Erziehung von schwierigen Kindern. In präventiv orientierten Ehevorbereitungskursen können Strategien vermittelt werden, die dem Paar in schwierigen Situationen weiterhelfen. Viele longitudinale Studien in den Vereinigten Staaten belegen, wie bedeutend solche Bemühungen sind. Sie werden jetzt auch in Deutschland aufgegriffen.

Wenn einzelne Kinder nicht dazu fähig sind, mit ihrer Aggression adäquat – das bedeutet altersgemäß und auf das Gegenüber bezogen – umzugehen, haben sie in ihrem Leben viele Chancen nachzureifen, auch außerhalb der Familie. Die emotionalen und prosozialen Kompetenzen können auch in anderen Beziehungsstrukturen als der Familie erworben werden. Die Kindergärten und Schulen erhalten dadurch über den Bildungsauftrag hinaus einen verstärkten Erziehungsauftrag. Allerdings sind die Erzieher und Lehrer bislang nicht genügend auf diese zusätzlichen Aufgaben vorbereitet. Breit angelegte Präventionsansätze, die ein unmittelbares Üben von Empathie, Impulskontrolle und den Umgang mit Ärger und Wut in den Kindergärten und Schulen in den Mittelpunkt stellen, sind kompensatorische Möglichkeiten. Entwicklungsprozesse werden angestoßen, die zum Erwerb einer Fähigkeit führen, die Aristoteles schon so treffend als Kompetenz "gegen die rechte Person, im rechten Maß, zur rechten Zeit, für den rechten Zweck und auf die rechte Weise zornig zu sein", beschrieb.

 

Das Curriculum "Faustlos" kann solche Kompetenzen für alle Kinder vermitteln. "Faustlos" wurde für die Grundschule und den Kindergarten entwickelt. Für jede Alters- beziehungsweise Klassenstufe ist ein spezieller Teil des Curriculums vorgesehen, so dass die Inhalte den Kindern jeweils altersgemäß von ihren Erziehern oder Lehrern vermittelt werden können.

Die verschiedenen Lektionen von "Faustlos" sind in die drei Einheiten "Empathietraining", "Impulskontrolle" und adäquater "Umgang mit Ärger und Wut" aufgeteilt. Die einzelnen Lektionen sind nach entwicklungspsychologischen und didaktischen Gesichtspunkten aufgebaut. Jede Lektion bezieht sich auf eine Fähigkeit, welche die Kinder erlernen sollen, und beansprucht etwa 20 Minuten im Kindergarten, in der Schule zwischen 30 und 45 Minuten. Da jede Lektion mit den Fähigkeiten arbeitet, die in der jeweils letzten Lektion eingeführt wurden, müssen die Einheiten und Lektionen in der vorgegebenen Reihenfolge unterrichtet werden.

Alle Lektionen werden grundsätzlich nach dem gleichen Muster unterrichtet: Zu einer im Photo festgehaltenen Szene (die mit Hilfe einer Farbfolie an die Wand projiziert wird) wird eine Geschichte erzählt. Es werden dazu Fragen gestellt und Meinungen diskutiert. Daran anschließend erfolgen Rollenspiele oder Übungen. Dieses vertiefte Lernen gewährleistet die Übertragung in die reale Erfahrung.

Abb. S. 9

Die nachfolgend exemplarisch dargestellte Lektion 18 gehört zum Bereich der Impulskontrolle. Die Kinder sprechen in dieser Stunde über Versuchungssituationen und wie man ihnen widerstehen kann.

Felix fehlen noch genau fünf Mark, um sich ein Modellflugzeug kaufen zu können. Auf dem Tisch seiner Mutter sieht er Kleingeld liegen, und er glaubt, dass sie es nicht merken würde, wenn einige Markstücke davon fehlen.

Nachdem das Problem besprochen und Lösungsmöglichkeiten für Felix aufgezeigt wurden, wird der Lernstoff (vertieftes moralisches Wissen) um die lebensnahe Erfahrung in Konfliktsituationen erweitert.

Lektion 18 von "Faustlos": Vertiefung des Gelernten (Rollenspiele)
Lehrerin: "Ich werde so tun, als wäre ich Felix, der Schritt für Schritt ein Problem löst, um der Versuchung zu stehlen zu widerstehen. Danach werdet Ihr ein paar Rollenspiele machen." (Benutzen Sie eine Hand voll Münzen als Requisiten.)

    Zeigen Sie modellhaft wie Felix
  1. zu sich selber sagt: "Um das Flugzeug kaufen zu können, fehlen mir nur noch fünf Mark. Aber wenn ich stehle, fühle ich mich schlecht. Ich werde mich noch schlechter fühlen, wenn meine Mutter es herausfindet und sie wütend auf mich ist. Sie könnte mir in Zukunft nicht mehr vertrauen."
  2. sagt: "Ich bin ehrlich, ich werde nicht stehlen."
  3. "Was kann ich tun, um die fünf Mark zu bekommen? Ich könnte sie um das Geld bitten. Ich könnte jemand anderen darum bitten. Ich könnte versuchen, das Geld zu verdienen. Wenn ich sie um das Geld bitte, würde sie es mir vielleicht geben. Wenn ich mir das Geld verdiene, würde ich mich gut fühlen, und meine Mutter wäre stolz auf mich."

(Fragen Sie nach dem Rollenspiel: "Wie habe ich das gemacht? Habe ich die Schritte befolgt, um der Versuchung zu stehlen zu widerstehen?")

    Rollenspiele für die Schülerinnen und Schüler:
  • Du brauchst einen Stift und siehst einen auf dem Tisch eines Mitschülers liegen, der heute nicht da ist.
  • Du willst Dich umziehen und siehst die Lieblingsbluse Deiner Schwester. Sie ist schon zur Schule gegangen und würde es nicht merken, wenn Du sie tragen würdest.
  • Du siehst, dass jemand auf dem Bürgersteig einen Zehnmarkschein verliert.
  • Ein Freund hat bei Dir ein Spielzeug liegen gelassen, aber er weiß nicht, dass er es bei Dir vergessen hat.
    (Ergänzen Sie weitere Themen und Situationen für Rollenspiele.)
    Übertragung des Gelernten:
  • Verstärken Sie in der Klasse das Konzept von Vertrauen. Besprechen Sie mit den Kindern, dass das, was Vertrauen aufbaut, genauso wichtig ist, wie das, was Vertrauen zerstört.
  • Vergleichen Sie das, was Diebe gewinnen mit dem, was sie verlieren.

Für die Grundschulen (Klassen eins bis drei) wurden von unserem Projektteam 51 solcher Lektionen für die Lehrer ausgearbeitet. In jeder Woche wird eine Stunde unterrichtet. Die Lehrerinnen müssen in der Vermittlung dieses für sie ungewohnten Stoffes trainiert und anschließend supervidiert werden, um die Qualität und die entsprechenden Standards zu sichern. Dies gilt auch für die Erzieherinnern, wenn "Faustlos" im Kindergarten angewandt wird.

Aufbauend auf den Ergebnissen einer Pilotphase in Göttingen wird "Faustlos" derzeit in einer überarbeiteten Version im Auftrag des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg über drei Jahre hinweg erprobt und evaluiert (November 1998 bis Dezember 2001). Insgesamt nehmen 21 Grundschulen beziehungsweise 44 Klassen im Raum Heidelberg und Mannheim an dem Projekt teil. In 30 Klassen wird drei Jahre lang "Faustlos" unterrichtet, die 14 anderen Klassen dienen als Vergleichsgruppe. Eine engmaschige Betreuung der Teilnehmer, unter anderem durch regelmäßige Supervision, ist gewährleistet. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung werden innerhalb des Projektzeitraumes an allen Schulen die Eltern, die Lehrerinnen und die Kinder wiederholt befragt. Die Datenanalyse erfolgt über insgesamt vier Messzeitpunkte und ermöglicht es, Veränderungen im zwischenmenschlichen Bereich längsschnittlich über drei Jahre hinweg darzustellen. "Faustlos" soll in den nächsten Jahren auf freiwilliger Basis in den Grundschulen in Baden-Württemberg eingeführt werden.

Autor:
Prof. Dr. Manfred Cierpka
Psychosomatische Klinik, Abteilung für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie,
Bergheimer Straße 54, 69115 Heidelberg, Tel. 564701, Fax (06221) 564702,
e-mail: manfred_cierpka@med.uni-heidelberg.de

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