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Faszinierendes Riesenmolekül

Neben Myosin und Aktin spielt Titin eine wesentliche Rolle im Ensemble der Muskelproteine. Das riesige Molekül – es hat ein Molekulargewicht von drei Megadalton – sorgt im Muskel sowohl für Stabilität als auch für Elastizität. Doch noch immer sind nicht alle Aufgaben des vielfältigen Proteins bekannt. Wolfgang Linke und seine Arbeitsgruppe im Institut für Physiologie und Pathophysiologie erforschen das faszinierende Riesenmolekül.

Ein charakteristisches Merkmal fast aller tierischer Organismen ist die Fähigkeit zur Bewegung. Die Art und Weise der Bewegung kann sehr vielfältig sein. Auch die Geschwindigkeit der Bewegung variiert erheblich: Man denke nur an das langsame Kriechen einer Schnecke im Vergleich zum ultraschnellen Vibrieren eines Insektenflugmuskels, der erstaunliche 1000 Mal pro Sekunde oszilliert. Der menschliche Herzmuskel schlägt im Laufe eines Lebens ununterbrochen zwei Milliarden Mal; die Skelettmuskulatur ermöglicht uns nicht nur die Fortbewegung, sondern auch das Sprechen, Gestikulieren, kurz, den Austausch von Gedanken und Erfahrungen. Die unterschiedlichen Funktionen all dieser Muskeln beruhen molekular betrachtet auf einem einzigen gemeinsamen Mechanismus: der Wechselwirkung zweier Eiweiße, Myosin und Aktin.

Beide Muskeleiweiße bilden steife Strukturen, so genannte Filamente, aus. Die Filamente sind – ähnlich wie die Borsten einer Miniaturbürste – dreidimensional in der Zelle angeordnet, wobei Aktin und Myosin jeweils eigene "Bürsten" bilden. In der Muskelzelle sind die "Borsten" der Aktin- und Myosinbürsten gleichsam ineinander gesteckt: Es entsteht eine regelmäßige Struktur, das "Sarkomer". Mit einer Länge von zwei Tausendstel Millimetern ist das Sarkomer die kleinste funktionelle Einheit der Herz- oder Skelettmuskel-Zelle. In einer Muskelfaser können hinter- und nebeneinander Millionen Sarkomere vorkommen. Schon seit Jahrzehnten weiß man, dass bei der Kontraktion des Muskels die Aktin- und Myosinfilamente aufeinander zugleiten. Die Sarkomere verkürzen sich dabei. Dehnt sich der Muskel, verlängern sich die Sarkomere. Die Länge der einzelnen Filamente jedoch bleibt stets unverändert.

Diese Beschreibung der molekularen Vorgänge im Muskel ist stark vereinfacht. Denn es gibt außer Myosin und Aktin noch viele weitere Proteine, die im Sarkomer oder anderswo in der Zelle wichtige Funktionen bei der Muskelkontraktion übernehmen. Vor allem ein Eiweiß spielt im Ensemble der Sarkomerproteine eine zentrale Rolle: Titin. Schon seit rund 20 Jahren bekannt, ist erst unlängst klar geworden, welche außerordentliche Bedeutung das Molekül hat. Es hilft beispielsweise zu erklären, warum Sarkomere bei starker Dehnung nicht auseinander fallen. Oder wie bei einer Dehnung unabhängig von der Aktin-Myosin-Interaktion eine Federkraft entsteht, die den Muskel – und im übrigen auch ein isoliertes Sarkomer – nach dem Ende der Dehnung wieder auf seine Ausgangslänge zurückzieht.

Die Geschichte von Titin beginnt Ende der siebziger Jahre. Damals gelang es, ein filamentöses Protein zu bestimmen, das mit den oben genannten Eigenschaften in Verbindung gebracht werden konnte. Es stellte sich heraus, dass dieses Protein größer ist als alle bislang bekannten Muskeleiweiße. Paradoxerweise wurde es gerade auf Grund seiner Größe lange Zeit übersehen: Das Protein hat in den üblichen Gel-Elektrophoresen eine zu geringe Mobilität und kann nicht nachgewiesen werden; erst wenn man extrem dünne Gele verwendet, kommt es zur Darstellung. Wegen seines riesigen Molekulargewichts von drei Megadalton erhielt das Protein den Namen Titin. Es ist das dritthäufigste Muskeleiweiß nach Myosin und Aktin und stellt bei einem erwachsenen Mann beachtliche 400 Gramm des Körpergewichts.

Die Entdeckung des Titins wurde von den Muskelforschern zunächst kaum zur Kenntnis genommen. Doch bald stellte sich heraus, dass es sich bei Titin um ein ganz besonderes Molekül handeln musste: Im Sarkomer bildet es ein eigenständiges Filamentsystem; die Eiweißstränge des Titins durchziehen ein Halb-Sarkomer und sind etwa einen Tausendstel Millimeter lang – für ein einzelnes Molekül ist das eine erstaunliche Länge. Es dauerte jedoch noch bis Mitte der 90er Jahre, ehe die Auffassung vom Sarkomer als Drei-Filament-System mit Myosin, Aktin und Titin allgemein akzeptiert wurde. Entscheidend war die Veröffentlichung der Aminosäuresequenz (der Reihenfolge der Bausteine = Aminosäuren eines Proteins) des menschlichen Herz- und Skelettmuskel-Titins im Jahr 1995 – übrigens von Heidelberger Wissenschaftlern am European Molecular Biology Laboratory. Sie bewiesen die Existenz eines ungefähr 30 000 Aminosäurereste großen Polypeptids. Diesen Meilenstein honorierte das renommierte amerikanische Wissenschafts-Magazin "Science" mit der Verleihung des Titels "Protein of the Year".

Muskelaufbau
Ein Muskel ist hierarchisch aufgebaut. Seine Bausteine sind die Sarkomere, deren "Rückgrat" gigantische Titin-Moleküle bilden.

Seither hat das Feld der Titinforschung einen rasanten Erkenntniszuwachs erfahren. Das Titinmolekül gleicht einer Kette aus Perlen, so genannten globulären Domänen. Insgesamt enthält Titin bis zu 300 solcher Domänen. Sie machen etwa 90 Prozent der Sequenz aus; die restlichen zehn Prozent bestehen aus nicht-globulären Abschnitten. Ein Großteil der Domänen bindet an andere Eiweiße im Sarkomer, vor allem an Myosin. Es liegt auf der Hand, dass diese Titinbereiche eine wichtige Stabilisierungs- und Strukturfunktion haben. Man nimmt sogar an, dass Titin ein "molekulares Lineal" sein könnte, das die äußerst konstante Länge der Myosinfilamente im Sarkomer vorgibt. Sind die Bindungseigenschaften der Sarkomerproteine verändert, kann es zu dramatischen Störungen der Muskelfunktion kommen. Es sind beispielsweise Veränderungen eines Proteins bekannt, das sowohl Myosin als auch Titin verankert. Die davon betroffenen Patienten leiden an einer erblichen Herzerkrankung, die zum plötzlichen Herztod führen kann.

Um das Sarkomer bei Dehnung zusammenzuhalten, müssten sich die Titinfilamente aber nicht nur mit Myosin, sondern auch mit Aktin verbinden. Genau dies konnte meine Arbeitsgruppe vor einigen Jahren nachweisen. Die Bindung erfolgt an demjenigen Ende des Aktinfilaments, das nicht mit Myosin überlappt. Titin verbindet somit Aktin- und Myosinfilamente, ohne deren Ineinandergleiten zu behindern. Erstaunlich ist der experimentelle Befund, dass bei funktioneller Ausschaltung bestimmter Domänen des Herzmuskel-Titins die meisten Sarkomere keine Aktinfilamente mehr bilden. Trotzdem fallen die Sarkomere nicht einfach auseinander: Titin und Myosin halten sie zusammen. Solche Sarkomere können aber nicht mehr kontrahieren. Titin wirkt im Herzmuskel also einerseits strukturerhaltend, andererseits trägt es wesentlich zur Erhaltung der Kontraktionskraft bei. Mögliche Störungen dieser Titinfunktionen im menschlichen Herzen werden uns in Zukunft besonders interessieren.

An dieser Stelle überrascht es nicht mehr, dass die Titinfilamente für die elastischen Eigenschaften des Sarkomers – und letztendlich des Muskels – verantwortlich sind. Zur Elastizität trägt allerdings nur derjenige Abschnitt des Titins bei, der nicht an Myosin oder Aktin gebunden ist.

Erste Vorstellungen zur Natur der Titinelastizität gingen davon aus, dass sich die Domänen des Titins bei Sarkomerdehnung entfalten, was Längen- und Kraftzuwachs erklären sollte. In der Tat konnte durch eindrucksvolle, technisch aufwendige Kraftmessungen an einzelnen Titinmolekülen gezeigt werden, dass die Domänen potentiell dazu in der Lage sind. In meiner Arbeitsgruppe stand man diesem "Entfaltungskonzept" jedoch skeptisch gegenüber. Denn die Kräfte, die notwendig sind, damit sich die Domänen entfalten, lagen nach unseren Messungen weit über den Kräften, die ein Sarkomer bei der natürlichen Dehnung des Muskels erfährt. Wir legten bei unseren Messungen Wert darauf, die Elastizität des Titins in seiner natürlicher Umgebung zu bestimmen – am isolierten, strukturell intakten Sarkomer. Mit solchen Experimenten konnten wir kürzlich beweisen, dass eine Entfaltung der Titin-Domänen im Sarkomer eher unwahrscheinlich ist. Höchstens im krankhaft überdehnten Herz- oder Skelettmuskel kann es zur großflächigen Entfaltung kommen, was sich katastrophal auf die Sarkomerstruktur auswirkt. Für die physiologisch relevante Dehnbarkeit des Titins sind in erster Linie die nicht-globulären Abschnitte des Moleküls verantwortlich. Diese in ihrer räumlichen Struktur noch nicht näher definierten Abschnitte sind auch deshalb interessant, weil sie in verschiedenen Muskeltypen in unterschiedlicher Länge vorkommen: Herzmuskel-Titin enthält kurze, Skelettmuskel-Titin längere Abschnitte.

Dies erklärt, warum die Sarkomere der Skelettmuskulatur viel elastischer sind als die des Herzmuskels: Im Gegensatz zur Muskulatur des Skeletts braucht der Herzmuskel eine hohe Steifigkeit, um dem Einstrom des Blutes in der Diastole einen ausreichenden Widerstand entgegenzusetzen. Da molekulare Veränderungen von Titin bei einigen Herzerkrankungen beschrieben wurden, untersuchen wir derzeit, ob diese Veränderungen die elastischen Regionen betreffen und die mechanische Aktivität des Herzens beeinflussen.

Auf längst nicht alle Aspekte der Titinstruktur und -funktion konnte hier eingegangen werden. Eine überraschende Entdeckung soll jedoch noch erwähnt werden. Ein mit Titin offenbar identisches Protein scheint noch an ganz anderer Stelle zu existieren: in den Chromosomen der Fruchtfliege. Ein multifunktionelles Eiweiß wie Titin könnte nicht nur dem Muskel, sondern auch den Chromosomen Stabilität und Elastizität verleihen. Es scheint so, als seien noch längst nicht alle Rollen des faszinierenden Riesenmoleküls aufgedeckt.

Autor:
Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Linke
Institut für Physiologie und Pathophysiologie,Im Neuenheimer Feld 326, 69120 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 40 54, Fax (0 62 21) 54 40 49, E-Mail:wolfgang.linke@urz.uni-heidelberg.de

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