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Mit anderen Worten

Die vollkommene Übersetzung bleibt Utopie

von Jekatherina Lebedewa

Der französische Philosoph Voltaire brachte es auf den Punkt: Übersetzungen, meinte er, seien wie Frauen: entweder treu oder schön. Mit den weitaus komplexeren Problemen des Übersetzens beschäftigt sich die Translationswissenschaft, ein interdisziplinäres Fach, das Linguistik, Literaturwissenschaft und Komparatistik ebenso einbezieht wie Informatik, Psychologie und Neurologie. Denn es reicht nicht, einen Text Wort für Wort zu übersetzen, es gilt, den "Geist der Sprache" aus dem Original in die Übersetzung
zu retten.

Im Gleichnis vom Turmbau zu Babel trennte Gott die Menschen durch verschiedene Sprachen. Die sprichwörtliche "Babylonische Sprachverwirrung" verweist auf die Hilflosigkeit und die Handlungsunfähigkeit, die durch sprachliche Isolation entsteht. Übersetzer und Dolmetscher sind Brückenbauer, die getrennte Ufer – Menschen und Kulturen – miteinander verbinden. Doch wie muss die Brücke konstruiert sein, damit der Austausch funktioniert? Wie gelangt das Übertragene an das andere Ufer, und was wird dort aufgenommen? Solche Fragen stellt die "Translationswissenschaft". Als Synonym dient häufig die Bezeichnung "Übersetzungswissenschaft", die unscharf, aber eingebürgert ist.

Bei der Translationswissenschaft handelt es sich um eine ausgesprochen junge und interdisziplinäre Wissenschaft, die erst im 20. Jahrhundert entstand und selbst für einige Kollegen aus den klassischen Philologien ein Rätsel blieb. Dies gilt auch für die Universität Heidelberg – obwohl Heidelberg neben der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Leipzig zu den drei deutschen Zentren der Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaften mit internationaler Ausstrahlung gehört.

Das zunächst als "Übersetzungswissenschaft" bezeichnete Fach entwickelte sich erst nach 1945 zur selbstständigen wissenschaftlichen Disziplin. Eine der ersten Fachzeitschriften, "Babel", erscheint seit 1955 in Amsterdam. Bis in die 1960er Jahre blieb die Übersetzungswissenschaft in Westeuropa auf die kontrastive Linguistik orientiert. Vor rund zwei Jahrzehnten setzte sich schließlich die Erkenntnis durch, dass die Übersetzungs- und Dolmetschwissenschaft als interdisziplinäres Fach die Linguistik, die Literaturwissenschaft und die Komparatistik einschließen muss. Die moderne Translationswissenschaft bezieht auch Informatik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Neurologie ein.

Im Unterschied zur westeuropäischen Übersetzungswissenschaft, die sich zunächst überwiegend linguistisch ausrichtete, orientierte sich die Übersetzungsforschung in der russischen Kultur bereits in den 1920er Jahren stärker an der Literaturwissenschaft. Von der russischen Theorie konnte die westeuropäische Translationswissenschaft profitieren: Im Gefolge der russischen "formalen Schule", des tschechischen Strukturalismus und der russischen Kultursemiotik gelangte auch die westeuropäische Translationswissenschaft in den 1960er Jahren zu der Überzeugung, dass die Grundlage der Übersetzung nicht einzelne Wörter und Sätze sind, sondern das Ganze, der Text.

Jeder Text bedarf der Deutung

Der russische Semiotiker Roman Jakobson brachte zusätzlich den Gesichtspunkt der Interpretation in die Übersetzungstheorie ein. Denn jeder Text ist auf Deutung angewiesen, und die von jedem Übersetzer unbedingt zu erbringende intellektuelle Eigenleistung ist die Interpretation – sie ist zugleich die am häufigsten übersehene, unverstandene, missachtete oder sogar verbotene übersetzerische Leistung. In der Tradition von Roman Jakobson und der russischen Formalisten muss der Übersetzer entscheiden, was die "Dominante" eines Textes ist, die textrelevanten Elemente, beispielsweise eine bestimmte Verstechnik oder auch die Funktion des Textes, die in der Übersetzung unbedingt erhalten bleiben muss. Mit dieser "Übersetzerentscheidung" und Interpretation gelangte im Gegensatz zur mechanischen Treue die Wirkung auf den Adressaten in den Mittelpunkt der Übersetzungstheorie. Der Leser der Übersetzung besitzt einen anderen kulturellen Hintergrund als der Leser des Originals. Bei einer mechanischen Kopie, einer Wort-für-Wort-Übersetzung, würde ein Leser mit einem anderen kulturellen Kontext Vieles nicht und Vieles in verzerrtem Sinne verstehen.

Wichtige Beiträge leistete in den 1980er Jahren Professor Hans J. Vermeer vom Heidelberger Institut für Übersetzen und Dolmetschen. Mit seinem funktionsorientierten Ansatz, der "Skopostheorie", legt er den Schwerpunkt auf das Ziel (griechisch skopos) des translatorischen Handelns und auf den Translator als Experten, der für das optimale Erreichen dieses Ziels verantwortlich ist. Dieser Translator muss Experte für die Ausgangs- und Zielkultur und damit die interkulturelle Kommunikation sein. Sprachbarrieren sind auch Verständnis-, Wissens- und Kulturbarrieren, die durch die Translation von kulturellen Kontexten überwunden werden können. Betrachtet man den Text als verbalisierten Teil einer Soziokultur, dann bedeutet übersetzen, den Text einer Ausgangskultur in eine kulturell andere Zielkultur zu übertragen, also neu zu gestalten. Das kulturhistorische Einbetten kultureller Besonderheiten in interkulturelle Kontexte ist die Voraussetzung für das Überbrücken kommunikativer Lücken durch Translation. Das Verstehen und Übertragen eines Textes bedeutet neben dem Begreifen von Worten und Strukturen auch, das Gemeinte als Teil einer Soziokultur zu erfassen. "Die Wörter sind richtig übersetzt, die Worte gehen darüber zugrunde", formulierte Hans Vermeer zu Beginn der 1980er Jahre. Das Erforschen und Vermitteln von Normen und Konventionen der Ziel- und Ausgangskultur sowie deren Vertextungsstrategien ist nicht etwa eine schmückende Beigabe der Übersetzung, sondern zentraler Bestandteil translationswissenschaftlicher Forschung und Lehre.

Westeuropa verdankt seine Zivilisation der Übersetzung

Die Geschichte des Übersetzens und Dolmetschens in den verschiedenen Menschheitsepochen und Sprachräumen vom ägyptischen Reich bis in unsere Zeit ist bis heute nicht ausreichend erforscht. Im ägyptischen Alten Reich glaubte man an die überirdischen Kräfte des Dolmetschers, der nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und Göttern vermitteln konnte. Das berühmteste Zeugnis antiker Übersetzung stammt aus dem Jahre 196 v. Chr. und wurde 1799 in Rosette, einem kleinen Dorf im westlichen Nildelta gefunden. Der heute im "British Museum" in London zu besichtigende "Stein von Rosette" ist in zwei Sprachen (altägyptisch und griechisch) und in drei Formen (Hieroglyphen, Demotisch, Griechisch) beschriftet. Die Übersetzerschule von Toledo gilt als erste, an der auch theoretische Vorlesungen gehalten wurden. Nach dem Sturz der maurischen Herrschaft in Toledo (1085) wurden die dortigen Bücherschätze für christliche Gelehrte zugänglich, und es setzte eine Übersetzungswelle aus dem Arabischen ins Lateinische ein. Europa konnte dadurch von den arabischen Wissenschaften und – über diese – von den Leistungen der Antike profitieren, was sich in der Gründung erster europäischer Universitäten widerspiegelt.

Die übersetzungstheoretischen Prinzipien haben sich seit der Antike beständig gewandelt. Antike Übersetzer und Dolmetscher versuchten, das Original ästhetisch und rhetorisch zu übertreffen; heute geht es darum, sich der Funktion und Wirkung des Originals anzunähern. Als grundlegend für die deutsche Übersetzungswissenschaft erwiesen sich die Auffassungen von Martin Luther (Bibelübersetzung), Friedrich Schleiermacher (Übersetzung philosophischer Texte) und Wilhelm von Humboldt (Übersetzung künstlerischer Texte).

Martin Luther beschrieb sein Übersetzungsprinzip im "Sendbrief vom Dolmetschen" aus dem Jahre 1530 mit den berühmten Sätzen: "man mus die mutter jhm hause/ die kinder auff der gassen/ den gemeinen mann auff dem marckt drumb fragen/ und den selbigen auff das maul sehen/ wie sie reden/ und darnach dolmetzschen/ so verstehen sie es den/ und mercken/ das man Deutsch mit jn redet." Luthers "verdeutschende" Übersetzungsmethode fokussierte mit der Forderung, "dem Volk aufs Maul zu sehen", auf die Zielsprache und die Zielkultur. Man nennt diese Übersetzungsstrategie auch "Domestizierung" oder "Einbürgerung".

Die ersten Gedanken zu einer eigenständigen "Übersetzungswissenschaft" stammen von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Professor für Theologie an der Berliner Universität. Er forderte in seinem 1814 publizierten Aufsatz "Alte Literatur": "Überall sind Theorien bei uns an der Tagesordnung, aber noch ist keine von festen Ursätzen ausgehende, folgegleich und vollständig durchgeführte, Theorie der Übersetzungen erschienen (...): Nur Fragmente hat man aufgestellt und doch, so gewiss es eine Altertumswissenschaft gibt, so gewiss muss es auch eine Übersetzungswissenschaft geben." In seiner Abhandlung "Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens" (1813), dem wichtigsten theoretischen Beitrag zum Übersetzen im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert, sprach Schleiermacher Probleme an, mit denen sich eine Theorie des Übersetzens beschäftigen sollte, beispielsweise mit den unterschiedlichen Textgattungen, die an den Übersetzer unterschiedliche Anforderungen stellen. Schleiermacher unterschied erstmals zwischen dem Dolmetschen, das sich auf Texte des Geschäftslebens bezieht, und dem Übersetzen, das es mit Texten aus Wissenschaft und Kunst zu tun hat. Für ihn stellten Texte, in denen die Sprache nur Mittel ist, um Sachverhalte zu transportieren, andere Übersetzungsprobleme als Texte, in denen die Sprachform mit dem transportierten Inhalt eine Einheit höherer Ordnung bildet (künstlerische Texte). Anders als bei Sachtexten sei die "Textwirklichkeit" dichterischer und philosophischer Texte nicht an Gegenständen und Sachverhalten außerhalb der Textwirklichkeit mess- und eventuell korrigierbar. Deshalb betrachtete Schleiermacher Texte der Wissenschaft und Kunst als unübersetzbar.

Diese auch von Wilhelm von Humboldt vertretene Auffassung beschäftigt die Translationswissenschaft bis heute. Nach Schleiermacher muss dem Leser der "Geist der Sprache" des Originals auch in der Übersetzung vermittelt werden. Die Übersetzung hat sich nach Schleiermacher so weit wie möglich an der Sprache des Originals, also an der Ausgangssprache und Ausgangskultur, auszurichten. Diese Methode des "Verfremdens" kennzeichnet "eine Haltung der Sprache, die nicht nur nicht alltäglich ist, sondern die auch ahnen lässt, dass sie nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Ähnlichkeit hinübergebogen sei". Der Vorwurf der "Ungelenkheit" sei dabei in Kauf zu nehmen, denn anders ist der "Geist der Sprache" aus der Ausgangskultur nicht in die Zielkultur zu retten.

Wilhelm vom Humboldt beschäftigte sich im Vorwort zu seiner 1816 publizierten Übersetzung des "Agamemnon" von Aeschylos ebenfalls mit der übersetzerischen Verfremdung. Er unterschied zwischen "Fremdheit" und "Fremde": "Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihre höchsten Zwecke erreicht; wo aber die Fremdheit an sich erscheint, und vielleicht gar das Fremde verdunkelt, da verräth der Uebersetzer, dass er seinem Original nicht gewachsen ist." Humboldt ging es ebenso wie Schleiermacher um Sprach- und Kulturerweiterung.

Übersetzer leben gefährlich

Heute gibt es unter den literarischen Übersetzern sowohl Anhänger der Verfremdung als auch Anhänger der Einbürgerung. Entscheidend ist, welches Ziel (Skopos) der Übersetzer favorisiert, ob er fremde Elemente in die Zielkultur einführen (verfremden) oder/und die Gedanken des Ausgangstextes für die Zielgruppe verständlich machen (einbürgern) will. Da Sprachnormen und Rezeptionsbedingungen permanenten Veränderungen unterliegen, verändert sich auch die sprachliche Herausforderung. Jeder übersetzte Text trägt bereits die Aufforderung zur Neuübersetzung in sich.

Auch Johann Wolfgang von Goethe verglich die beiden grundlegenden Übersetzungsprinzipien: "Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben, und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen." Beide Übersetzungsprinzipien haben etwas gemeinsam. Ob wir den Autor nun zu uns herüber oder ob wir uns zu ihm bringen – in jedem Fall müssen wir ans andere Ufer über-setzen.

Das ist riskant. Denn nicht jeder Übersetzer erreicht das Ufer. Der Beruf des Übersetzers ist ein gefährlicher Beruf, dessen Gefahren der Sprachphilosoph Martin Heidegger so formulierte: "Hier wird das Über setzen zu einem Über setzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits eines breiten Stromes liegt. Da gibt es leicht eine Irrfahrt und zumeist endet sie mit einem Schiffbruch." Das Übersetzen hat also die Funktion einer Fähre oder bildet eine Brücke zwischen unterschiedlichen Sprachen, verschiedenen Kulturen, Ländern, manchmal auch Kontinenten. Für die slawischen Sprachen ist es vor allem die Brücke zwischen Ost- und Westeuropa.

Im Zusammenhang mit der Jahrtausende alten literarischen Übersetzungspraxis entstanden Reflexionen, die als vorwissenschaftliches Beschäftigen mit der Übersetzungstheorie gelten können. So machte der Dichter Christoph Friedrich Haug (1761–1829) sich und uns folgenden Reim auf die Übersetzung: "Kommt die Verdeutschung wohl heraus? – Ich zweifle nicht; Denn jeder Totschlag kommt ans Licht." Arthur Schopenhauer fand, die treue Übersetzung wirke meist tot und unnatürlich, eine freie Übersetzung hingegen sei oft eine falsche Übersetzung. Eine elegante Formel für den Streit zwischen Originaltreue und ästhetischer Wirkung stammt von Voltaire: Er verglich Übersetzungen mit Frauen, die entweder schön, dann aber nicht treu, oder treu, aber nicht schön seien. Aufgrund philologischer und anderweitiger Erfahrungen ahnen wir, dass Bonmots zwar den Kern eines Problems treffen, doch nicht die ganze Vielfalt des Lebens wiedergeben.

Eine erfrischende Mischung von Skepsis und Zuversicht vereinte Christian Morgenstern in seiner ironischen These: "In der übertriebenen Abneigung gegen schlechte Übersetzungen, gegen Übersetzungen überhaupt, liegt eine gewisse Verzärteltheit. Große Originale leuchten auch aus unbeholfenen Reproduktionen unzerstörbar hervor." Ebenfalls ermutigend wirkt die weise Bemerkung Goethes: "Was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen."

Goethe, der selbst ein leidenschaftlicher Übersetzer war, sah die Grundfrage des Übersetzens nicht wie Voltaire in der Entscheidung zwischen treu oder schön, sondern zwischen wörtlich oder sinngemäß. Am Beispiel des Johannes-Prologs analysierte Goethe das Problem im "Faust" als "Übersetzungswissenschaft in Versen":

Mich drängts, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.

Geschrieben steht: "Im Anfang war das Wort!" (griech.: logos)  
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen.

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: "Im Anfang war der Sinn."
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal weiß ich Rat
Und schreib getrost: "Im Anfang war die Tat!

Mit diesem Faust-Zitat befinden wir uns mitten in der Problematik des Übersetzens. Es demonstriert die Möglichkeit, ein und dasselbe Wort mehrfach zu verstehen, zu empfinden, zu deuten – und dass es erforderlich ist, beim Eindeutschen fremder Texte nach Entsprechungen zu suchen, die weniger der unzuverlässigen Hülle, dem "Chamäleon Wort", folgen, sondern nach seinem Innenleben, nach dem Sinn trachten, der das Wort erfüllt, und nach dem Geist, der das Wort geprägt hat. Ein Wort kann unterschiedliche Bedeutungen besitzen. Welcher soll der Übersetzer treu sein? Schon Goethe wies darauf hin: Jede Übersetzung ist Interpretation.

Auf Befehl des Zaren

Interpretation birgt Gefahren – für den Text und für den Übersetzer. Der Übersetzer Etienne Dolet etwa wurde im Jahr 1546 wegen einer Übersetzung auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Er hatte Sokrates die Worte in den Mund gelegt, dass nach dem Tod nichts mehr käme. Die Pariser Universität beschuldigten Dolet, die Unsterblichkeit der Seele in Frage gestellt zu haben und zwar durch Wörter, die im Original nicht zu erkennen seien. Doch Dolet hatte nicht Wort für Wort, sondern dem Sinn entsprechend übersetzt. Sein Grundsatz lautete: "Jene, die versuchen, Zeile für Zeile oder Vers für Vers zu übersetzen, sind Narren."

Dolets Übersetzungsprinzipien erwiesen sich als unsterblich. Nicht nur in Westeuropa, auch in Russland, wo sie 150 Jahre nach seinem Tod sogar zum "übersetzungstheoretischen Zarenbefehl" erhoben wurden: Peter I. sprach sich im Jahr 1709 gegen das wortwörtliche Übersetzen aus, weil es den Sinn verschleiere. Der Hauptsinn einer Übertragung läge darin, den russischen Leser mit dem Inhalt des Originals so vertraut zu machen, dass danach auch praktisch verfahren werden könne. In seinen Befehl an den Übersetzer Zotov hieß es: "Herr Zotov! Das Buch über die Befestigungsanlagen, welches Sie übersetzt haben, haben wir gelesen und finden, dass Sie die entsprechenden Erörterungen ziemlich gut und einfühlsam übertragen haben, aber wie man die Anlagen errichten soll, [...] das bleibt im dunklen und unverständlich. (...) in der Übersetzung sollte nicht Wort für Wort erhalten bleiben, sondern der Sinn genau erfasst und in unserer Sprache so verständlich wie möglich dargestellt werden." Die Translationswissenschaft nennt das heute eine "ziel"- oder "funktionsorientierte Translation".

Aktuelle Forschungsarbeiten unseres Seminars befassen sich unter anderem mit Grundproblemen des literarischen und kulturellen Übersetzens. Da kulturelle Übersetzungsprobleme häufig aus Differenzen zwischen Ausgangs- und Zielkultur resultieren, verbinden wir die Forschung zur Literaturübersetzung mit der Imagologie, dem Untersuchen von Selbst- und Fremdbildern von Kulturen, die unser Begegnen und unseren Umgang mit fremden Texten und deren Übersetzungen prägen. Das Erforschen von Übersetzungsprozessen, Kulturphänomenen, Identitäts- und Stereotypenbildungen, Selbst- und Fremdbildern von Kulturen, in denen sich historische und aktuelle Erfahrungen interkultureller Begegnungen zwischen Traditionsbezug und Modernisierung spiegeln, befördert den interkulturellen Dialog. Wie funktioniert nationale Identitätskonstruktion als Affinität zu fremden Kultur- und Zivilisationskonzepten und/oder als deren Abwehr? Taugen kulturhegemonial anmutende Termini wie "Europäisierung", "westernization" oder "Verwestlichung" überhaupt, um die Komplexität kultureller Übersetzungsvorgänge zu beschreiben? Diese Untersuchungen sollen die Zusammenhänge von Interpretation sowie sprachlicher und kultureller Übersetzung aufklären. Jede Übersetzung setzt das Interpretieren von Texten und Kulturen voraus: Übersetzung ist Kultur, und Kultur ist Übersetzung. Durch die Übersetzung entsteht ein neues kulturelles Potenzial, das Ausgangs- und Zielkultur miteinander verbindet. Im Bezogen-Sein auf andere Kulturen findet sich ein grundlegendes Charakteristikum jeder Kultur, die folglich nach dem Modell der Übersetzung beschrieben werden kann.

Kulturräume erweitern

Jede Kultur verarbeitet in ihrer historischen Entwicklung Übersetzungen aus anderen Kulturen. Daher sollte eine Geschichte der russischen Kultur als dauerhafte Schwelle zum westlich Anderen mit einem erweiterten Übersetzungsbegriff arbeiten. Neben dem Übersetzen unterschiedlicher Textsorten ist auch das Übertragen und Übersetzen kultureller Normen, Verhaltens- und Kleidungsmuster einzubeziehen. Das Untersuchen kultureller Übersetzungsprozesse erfasst das Besondere einer Kultur, weniger im Sinne einer positivistischen Faktensammlung oder einer ideologischen Klassifizierung, sondern unter dem Aspekt einer historisch vergleichenden Rekonstruktion kollektiver Bewusstseins- und Verhaltensmuster in ihrer sozialen Bedingtheit und ihrem besonderen symbolischen Ausdruck.

Als markantes Beispiel für Kulturübersetzungen von Westeuropa nach Russland können die Europäisierungsversuche Peters I. aufgefasst werden. Er zwang Russland ein drakonisches Modernisierungsprogramm auf, das westeuropäische Elemente importierte, um die technisch-zivilisatorische Verspätung Russlands aufzuholen. Peter I. erteilte kulturelle Übersetzungsaufträge. Selbst die russische Hauptstadt wurde an den finnischen Meerbusen "versetzt". Ein weiteres Beispiel für diese repressive Kultur-Übersetzung ist die von Peter I. erzwungene östliche Übersetzung eines westeuropäischen Kleidungs- und Frisurenstandards: Das Tragen eines Bartes symbolisierte die orthodoxe kirchliche Kultur der Epoche vor Peter I. Er stellte deshalb das Tragen von Bärten als Zeichen der Rückständigkeit Russlands per Gesetz unter Strafe. Wenn russische Adlige sich nicht willig zeigten, ihren Bart abzurasieren, griff Peter I. auch schon einmal selbst zur Schere, um die rückständigen "Europäisierungsunwilligen" mit Gewalt zum bartlosen Fortschritt zu zwingen. Das Bartverbot unter Peter I. wurde zum russischen Symbol für gewaltsamen Kulturtransfer. Den meisten Westeuropäern wird der weltberühmte Vollbart des Schriftstellers Lev Tolstoj lediglich als eigenartige Exotik, bestenfalls als Attribut männlicher Schönheit erscheinen. Kenner der russischen Kulturgeschichte aber verstehen den wilden Bartwuchs Tolstojs als kultur- semiotisches Symbol des Widerstandes gegen eine repressive Kulturübersetzung von West nach Ost.

Zum Thema der kulturellen Übersetzung hat Wilhelm von Humboldt einen wichtigen Leitgedanken zu Papier gebracht: "Die Verschiedenheit der Sprachen ist nicht eine von Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst (...) Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht sein...".

Übersetzungen können trotz drohender interkultureller Schiffbrüche voneinander getrennte Ufer wieder zusammenführen. Übersetzungen vermögen Abgründe, Mauern und Grenzen zu überwinden, ob sie nun politischer, geographischer, historischer, ökonomischer oder ideologischer Natur sind. Übersetzen ist eine gefährliche, aber wirkungsmächtige Tätigkeit. Für die schöne und gleichzeitig treue Übersetzung gilt wohl, was für alle Ideale und Utopien gilt: In reiner Form sind sie kaum anzutreffen. Die Übersetzungstheorie formuliert dies recht trocken: "In gleicher Weise, wie das Verstehen eines Textes nie absolut sein kann, sondern immer nur relativ und veränderlich, ist auch die Übersetzbarkeit eines Textes immer relativ."

Jedes auch nur annähernd gelöste Übersetzungsproblem vermindert den Grad der Unübersetzbarkeit und ist ein Schritt auf dem Weg zur Utopie der vollkommenen Vermittlung des Originals, zur theoretisch wie praktisch unmöglichen "idealen Übersetzung". Die moderne Translationswissenschaft stärkt den Übersetzer und auch den Dolmetscher als autonom, selbst- und verantwortungsbewusst, der erlöst vom "Treuefetisch" dem Original dient, ihm aber nicht sklavisch unterliegt. Diese autonome Sichtweise spiegelt ein Buch des italienischen Semiotikprofessors, Autors und Übersetzers Umberto Eco, dem damit ein seltener Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis des Übersetzens gelungen ist. Das genial ins Deutsche übersetzte Buch trägt den Titel: "Quasi dasselbe mit anderen Worten – Über das Übersetzen". 

Prof. Dr. Jekatherina Lebedewa studierte Slavistik, Romanistik, Anglistik, Dolmetsch-/Übersetzungs- und Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie promovierte über die kulturelle Bedeutung russischer Gitarrenlyrik im 19. und 20. Jahrhundert, übersetzt russische Lyrik, Prosa und Dramatik für Verlage und Theater und habilitierte sich an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) zum Thema "Russisches Slawophilentum des 19. Jahrhunderts als Kulturphänomen". Seit dem Jahr 2004 hat sie die Professur für Übersetzungswissenschaft Russisch am Seminar für Übersetzen und Dolmetschen der Univerisität
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Kontakt: jekatherina.lebedewa@iued.uni-heidelberg.de
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