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Direkte Demokratie: Motor oder Bremse?

Wie Volksabstimmungen die europäische Einigung verzögern

von Uwe Wagschal

Vor zwei Jahren scheiterte das europäische Verfassungswerk in der französischen und der niederländischen Volksabstimmung. Ist die direkte Demokratie Motor oder Bremse der europäischen Integration? Welche Faktoren beeinflussen nationalstaatliche Volksabstimmungen zu europapolitischen Inhalten? Ein Forschungsprojekt des Instituts für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg hat auf diese Fragen aufschlussreiche Antworten erhalten.

Bereits in der Vergangenheit wurden europäische Integrationsschritte von EU-Mitgliedsländern in Volksabstimmungen abgelehnt. Beispiele hierfür sind das dänische "Nein" zum Vertrag von Maastricht (2. Juni 1992), Dänemarks (28. September 2000) und Schwedens (14. September 2003) Opting-out aus der Eurozone sowie die irische Ablehnung des Vertrags von Nizza (8. Juni 2001), die seinerzeit auch den Beitritt der zehn neuen Mitgliedsländer im Jahr 2004 zu gefährden drohte. Diese Entscheidungen waren in der Substanz jedoch weniger problematisch als das Scheitern des Vertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) oder konnten – wie im Fall Irlands – zumindest im Nachhinein noch durch eine weitere Abstimmung gedreht werden.

Ob die Direktdemokratie als machtvolle Vetoinstitution mit großer "politischer Bremswirkung" zu interpretieren ist, kann man nur feststellen, wenn man sie mit den Verfahren der Repräsentativdemokratie vergleicht. Die Ratifizierung europäischer Vertragswerke kann nämlich nicht nur durch Volksabstimmungen "gefährdet" werden. So kann zum Beispiel eine hohe Mehrheitserfordernis im Parlament (beispielsweise eine Zweidrittelmehrheit) nötig sein oder die Opposition eine zweite Parlamentskammer kontrollieren, was ebenfalls eine Ratifizierung verhindern könnte. Generell sah der Ratifizierungsprozess des Verfassungsentwurfes in den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union drei verschiedene Wege vor: 17 Länder wollten die Verfassung nur auf parlamentarischem Wege verabschieden, fünf Länder sahen sowohl eine Verabschiedung durch das Parlament als auch durch das Volk vor. Eine Verabschiedung nur durch das Volk war ebenfalls in fünf Ländern geplant. Gegenwärtig haben acht Länder das Ratifikationsverfahren verschoben beziehungsweise noch nicht abgeschlossen.

Wann kommt es zu einer Volksabstimmung? Bei obligatorischen Referenden hat eine Regierung keine Möglichkeit – außer beim Termin der Abstimmung –, die politische Agenda zu beeinflussen. Dagegen hat sie bei fakultativen und konsultativen Volksabstimmungen immer einen Spielraum, eine Abstimmung anzuberaumen oder auch, sie zu verhindern. So können Regierungen durch ihre Definitionskompetenz das Ratifizierungsverfahren beeinflussen: Zum Beispiel setzte sich die litauische Regierung mit ihrer Auffassung durch, den VVE als internationalen Vertrag und nicht als Verfassungsänderung einzuordnen. Aus diesem Grund musste "nur" das litauische Parlament zustimmen, ansonsten wäre ein obligatorisches Referendum notwendig gewesen. Ähnliche Überlegungen prägten etwa das Verhalten Italiens, wo ebenfalls einer Volksabstimmung aus dem Weg gegangen wurde.

Die obige Tabelle stellt die Verfahren der Ratifizierung sowie den Stand des Ratifizierungsprozesses zum 1. Januar 2007 dar. Wie man sieht, hatten zu diesem Zeitpunkt bereits 15 der 17 Staaten, in denen lediglich eine parlamentarische Verabschiedung vorgesehen war, dem EU-Vertragswerk zugestimmt. In Deutschland stand nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten unter das im Mai 2005 von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete Ratifizierungsgesetz aus, was allerdings durch eine anhängige Klage vor dem Bundesverfassungsgericht verzögert wurde. Schweden hat dagegen die Ratifizierung auf unbestimmte Zeit verschoben. Betrachtet man die Länder, die eine gemischte Ratifizierung aus Parlament beziehungsweise Referendum vorsahen, ergibt sich ein differenzierteres Bild: Zwei Länder hatten die Verfassung sowohl durch Volksabstimmung als auch durch das Parlament verabschiedet (Spanien und Luxemburg). In den Niederlanden ist das Verfahren negativ ausgegangen, in Irland und im Vereinigten Königreich waren noch keine Abstimmungstermine anberaumt. Von den Ländern, welche die Ratifizierung nur durch ein Referendum vorsahen, hat noch keines den Prozess abgeschlossen: Neben der bereits gescheiterten Abstimmung in Frankreich standen zum 1. Januar 2007 noch die Voten in Tschechien, Dänemark, Polen und in Portugal aus.

Beim parlamentarischen Verfahren wurde in keinem Fall der Ratifizierung die Unterstützung versagt. Dies gilt auch bei hohen Zustimmungshürden, gegenläufigen Mehrheiten in der zweiten Parlamentskammer oder bei einem hohen Anreiz für die Opposition, der Regierung eine empfindliche Niederlage beibringen zu können. Offenbar sind durch die Referenden stärkere Zeitverzögerungs- und Blockadeeffekte im europäischen Integrationsprozess entstanden, als durch die strengen Vorschriften, welche die meisten Länder für eine Ratifizierung im parlamentarischen Verfahren anwenden.

Ökonomische und politische Rahmenbedingungen

Weitet man den Fokus auf nationale Volksabstimmungen mit einem Europabezug aus, so kann man im Zeitraum zwischen 1955 und 2006 insgesamt 52 Volksabstimmungen identifizieren. Im Zuge eines am Heidelberger Institut für Politische Wissenschaft durchgeführten Forschungsprojekts zu den Wirkungen der direkten Demokratie wurden neben den Abstimmungsergebnissen auch die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen zum Zeitpunkt der Abstimmung erhoben sowie die öffentlichen Debatten näher analysiert.

Die erste europarelevante Volksabstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg fand im Oktober 1955 im Saarland statt und hatte dessen Europäisierung zum Gegenstand. Unter den 52 Volksabstimmungen befinden sich zudem drei außereuropäische: eine auf Grönland und zwei in Aserbaidschan sowie eine weitere, subnationale Abstimmung auf den finnischen Åland-Inseln (1994). Fasst man die Ergebnisse zusammen, wurden insgesamt 38 Abstimmungen angenommen und 14 abgelehnt. Mit Blick auf die nationalstaatlichen Volksabstimmungen in den wichtigsten Staaten Europas – den 27 EU-Ländern sowie den vier EFTA-Ländern – gibt es mit Norwegen (1972 und 1994), den Niederlanden (2005) und Zypern (2004) drei Länder, in denen nur abgelehnte Entscheide zu beobachten waren. Mit Schweden, Irland, Dänemark, Frankreich und der Schweiz gibt es immerhin fünf Länder, die sowohl ablehnende als auch zustimmende Volksentscheide aufweisen. Nur eine Minderheit stellt die Gruppe von sechs EU- beziehungsweise ETFA-Ländern dar, in denen es bislang keine Europaabstimmungen gegeben hat (Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Island und Portugal). Immerhin 17 Länder haben ausschließlich zustimmende Volksentscheide verabschiedet.

Welche Themen standen in den untersuchten Entscheiden zur Debatte? Die Abstimmungen lassen sich grundsätzlich in vier Blöcke einteilen, die wegen der unterschiedlichen nationalen Rechtslagen aber relativ weit gefasst werden müssen. Die meisten Abstimmungen (n=26) gab es über den Beitritt zu beziehungsweise den Austritt aus (Großbritannien 1975 und Grönland 1982) europäischen Institutionen. Die zweitgrößte Gruppe der europarelevanten Abstimmungen befasst sich mit europäischen Vertragswerken (n=19) wie den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza oder mit dem VVE. Nationale Verfassungsreformen (n=4), die dem Beitritt zu europäischen Institutionen mitunter vorgeschaltet waren, oder territoriale Abstimmungen (n=3) machen nur eine Minderheit aus. Betrachtet man die zeitliche Entwicklung direktdemokratischer Abstimmungen, so ist ein Anwachsen dieses Instrumentariums zu beobachten: Die Hälfte aller Abstimmungen (26 von 52) fand nach dem Jahr 2000 statt.

Wie können die unterschiedlichen Zustimmungsanteile – gemessen über den Anteil Jastimmen in Prozent – in den Abstimmungen erklärt werden? Neun unterschiedliche Hypothesen und Theorien wurden zur Erklärung herangezogen und mit Hilfe statistischer Analysen auf ihre Gültigkeit überprüft.
  1. Zunächst ist zu erwarten, dass Länder, die relativ hohe Wohlstandsverluste zu erwarten haben, Europabestimmungen mit größerer Wahrscheinlichkeit ablehnen. Umgekehrt dürfte der Anteil der Jastimmen bei den Ländern höher liegen, die besonders arm sind und sich ökonomisch viel von einem Beitritt versprechen. Diese Rent-Seeking-These wird eindeutig in der Abbildung auf Seite 41 bestätigt, die den Zusammenhang zwischen den Jastimmenanteilen sowie dem "Wohlstandsabstand" eines Landes zum OECD-Durchschnitt darstellt. Bemerkenswert ist der statistische Ausreißer Luxemburg, der gemessen an seinem Wohlstandsniveau eine "zu hohe" Zustimmung aufweist. Dies passt aber ebenfalls sehr gut zur Rent-Seeking-These, da Luxemburg stark von der EU und ihren Institutionen profitiert.
  2. Die Identitätsthese besagt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zustimmung steigt, je höher die europäische Identität beziehungsweise die Zustimmung zu Europa als Ganzem ist. Diese Identitätsthese kann anhand der in den Eurobarometer-Umfragen gemessenen Zustimmung zu Europa überprüft werden. Die statistische Beziehung zwischen den Jastimmenanteilen sowie der abgefragten Zustimmung ist mittelstark (r=0,390; n=38), in den multivariaten Regressionsanalysen ist sie jedoch durchgehend signifikant.
  3. Die Partizipationsthese besagt in ihrer ersten Variante, dass die Zustimmung mit einem steigenden Angebot an Abstimmungsmöglichkeiten in einem Land (Rules-in-Form) sinkt, weil die Bürger durch viele Abstimmungen "übersättigt" sind. Dieser Effekt ist vor allem im "Mutterland der direkten Demokratie", der Schweiz, zu beobachten. In der zweiten Variante wird die These noch um die faktische Beteiligung an der Abstimmung (Rules-in-Use) ergänzt. Beide Formulierungen werden jedoch nicht bestätigt.
  4. Erklärungskräftiger ist die Second-Order-These. Sie geht von der Überlegung aus, dass Volksabstimmungen nicht nur zu ihrem eigentlichen Zweck – der Sachabstimmung –, sondern auch als "Abstrafungsinstrument" genutzt werden. Ein solcher strategischer Einsatz lässt sich etwa bei Europa- und Landtagswahlen gut beobachten. So haben bei den Europawahlen vom Juni 2004 die nationalen Regierungsparteien der damals 25 EU-Länder im Vergleich zur vorhergehenden nationalen Parlamentswahl einen durchschnittlichen Stimmenverlust von 11,5 Prozentpunkten erfahren müssen. Überprüft wird diese These anhand des zeitlichen Abstands der Abstimmung von der vorhergehenden nationalen Parlamentswahl. Der Indikator erwies sich in den statistischen Regressionsanalysen als signifikant.
  5. Bestätigt wurde in den Analysen auch die Diskursthese. Diese These postuliert, dass die Zustimmung in der Volksabstimmung nachlässt, je stärker zwischen den politischen Akteuren gestritten wird. Ein Faktor für erfolgreiche Volksabstimmungen sind folglich die Überzeugungsstrategien und die Konsensfähigkeit der Eliten. Dabei wurde die Konflikthaftigkeit des innenpolitischen Diskurses mit 3="hoch beziehungsweise umstritten", 2="mittel beziehungsweise unauffällig" sowie 1="niedrig beziehungsweise Einigkeit" bewertet. Als Grundlage dienten Auswertungen des Abstimmungskampfes im Jahrbuch der Europäischen Integration, im Archiv der Gegenwart sowie in der zeitgenössischen oder aktuellen journalistischen Berichterstattung in Deutschland sowie teilweise in den Untersuchungsländern. Fasst man die Länder mit einem niedrigen beziehungsweise mittleren Konfliktniveau zusammen, liegt die durchschnittliche Zustimmung bei über 66 Prozent, während in Ländern mit einem hohen Konfliktniveau der Jastimmenanteil bei nur rund 50 Prozent lag.
  6. Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft ist, wie ökonomische Ergebnisse und soziale Problemlagen die Wünsche von Wählern beeinflussen. Demokratische Systeme legitimieren sich in hohem Maße über ihren politischen Output. Folglich wird einem System umso mehr Legitimation entgegengebracht, je mehr Bürger von seinen Leistungen – beispielsweise in Form einer niedrigen Arbeitslosigkeit oder einer geringen Inflationsrate – profitieren. Umgekehrt lässt sich damit als Problemdruckthese formulieren, dass die Zustimmung mit wachsendem sozioökonomischem Druck zurückgeht. Bei den empirischen Analysen stellt sich jedoch genau das Gegenteil ein. Dies kann wiederum als Unterstützung der Rent-Seeking-These gelten: Offensichtlich wird die EU hier als Chance und Problemlöser begriffen.
  7. Im Sinne der Autonomiethese wäre zu erwarten, dass Volksabstimmungen mit Europabezug in föderalen und ethnisch fragmentierten Systemen eher abgelehnt werden. Das Streben nach Autonomie und Eigenständigkeit und der Wunsch nach Bewahrung kultureller Identität könnten nämlich auch mit einem diffusen Unbehagen vor Europa einhergehen. Die These wurde anhand des Föderalismusgrades eines Landes gemessen, konnte aber nicht bestätigt werden.
  8. Einen weiteren Erklärungsfaktor könnte die Parteiendifferenzthese liefern. Dabei wurde überprüft, ob die Zustimmung unter Links- oder Rechtsregierungen höher ist, wobei Linksparteien eine stärkere Unterstützung für Europa unterstellt wird. Es zeigt sich allerdings, dass die Parteiendifferenz in allen Prüfungsvarianten keinen Erklärungsbeitrag liefert.
  9. Schließlich wurde noch der Einfluss von Institutionen überprüft. Die institutionalistische These vermutet, dass der Anteil der Jastimmen sowohl mit der Anzahl der Parteien in der Regierung als auch mit ihrer Stabilität zunimmt. Daneben wurde noch getestet, ob die Mitgliedschaft in der EU an sich oder ihre konkrete Dauer einen Effekt haben. Alle Annahmen erweisen sich jedoch als nicht erklärungskräftig.
Die zentralen Thesen werden in der Tabelle auf Seite 40 nochmals zusammengefasst und anhand ihrer empirischen Gültigkeit bewertet. Die zentralen Schlüsselfaktoren zur Erklärung der Abstimmungsergebnisse sind dabei vor allem ökonomischer Natur: Abstimmende in reichen Ländern erwarten Wohlstandsverluste, während sich Abstimmende in armen Ländern Wohlstandsgewinne erhoffen. Die ökonomische Lage eines Landes prägt somit auch das individuelle Abstimmungsverhalten seiner Bürger. Eine ähnliche Interpretation gilt auch für die Problemdruckthese. Je schlechter es einem Land wirtschaftlich geht, desto höher ist die Zustimmung seiner Bürger zu Europa. Auch die Haltung der Bürger ist ein wichtiges Kriterium: Je positiver die Bürger der europäischen Einigung gegenüberstehen, desto eher stimmen sie mit "Ja". Entscheidend ist zudem, wie heftig der innenpolitische Diskurs geführt wird: Je mehr die politischen Parteien streiten, desto geringer ist die Zustimmung der Bürger in der Volksabstimmung. Einen gewissen Einfluss hat aber auch die Second-Order-These – Abstimmende neigen offenbar dazu, ihre Regierungen in europapolitischen Fragen abzustrafen, wenn auf nationaler Ebene die letzte Wahl schon länger zurückliegt.

Bei der Analyse der Ratifizierung der europäischen Verfassung muss zunächst festgehalten werden, dass es eigentlich nicht ausreicht, die Frage auf ein "direktdemokratische Abstimmungen versus repräsentativdemokratische Verabschiedung" zuzuspitzen. Auch parlamentarischen Institutionen und Verfahren liegt ein beachtliches Blockadepotenzial inne, etwa wenn zweite Kammern oder hohe quantitative Mehrheitserfordernisse mit ins Spiel kommen. Aber auch wenn man diese Faktoren berücksichtigt, zeigt sich, dass die Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa in jenen Ländern deutlich langsamer voranschreitet, die das Volk (mit)entscheiden lassen, und dass dieses Vorgehen schließlich in zwei Fällen sogar zur Ablehnung des Verfassungsentwurfs geführt hat. Alles in allem fällt damit die Antwort auf die Frage, ob die Direktdemokratie nun Motor oder Bremse der europäischen Integration ist, eindeutig aus: Volksabstimmungen haben den europäischen Einigungsprozess deutlich verlangsamt.

Prof. Dr. Uwe Wagschal ist seit Oktober 2005 Professor für Vergleichende Regierungslehre am Institut für Politische Wissenschaft, welches er auch gegenwärtig als Geschäfts- führender Direktor leitet. Zuvor war er Professor für Empirische Methoden der Politikwissenschaft und Policy Analysis an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Kontakt: uwe.wagschal@urz.uni-heidelberg.de
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