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An den Grenzen der Literatur

Wie Randformen zu einer Definition des Zentrums verhelfen

von Peter Paul Schnierer

Theaterstücke ohne Schauspieler, Romane, die sich der Leser aus einem Zettelkasten zusammenbasteln muss, virtuelle Gedichte, die nie gedruckt werden. Für die Einen sind diese literarischen Phänomene impertinenter Unsinn, für die Andern Fluchtpunkte der Moderne oder Allegorien menschlichen Seins. In jedem Fall sind sie geeignet, einen Streit vom Zaun zu brechen über das, was "Literatur" genannt werden darf.

Screenshot aus Hyperroman  
Für das Sofa ungeeignet: Screenshot aus Hyperroman
Foto: screenshot
Lesen Sie gerne Romane? Dicke Schmöker, am besten mit spannender Handlung und lebensprallen Figuren? Dann sollten Sie von B.S. Johnsons The Unfortunates vielleicht besser die Finger lassen: Der "Roman" wurde 1969 als Schachtel veröffentlicht, die 27 unsortierte Kapitel enthielt. Oder mögen Sie lieber Lyrik? Wie wäre es mit Robert Kendalls  Penetration, einem rhetorisch eher traditionellen Gedicht, das allerdings nur im Internet lesbar ist, weil es lediglich als unausdruckbares Programm existiert und das darüber hinaus bei jeder Lektüre anders lautet? Oder vielleicht doch eher ein schöner Theaterabend? Samuel Becketts Breath – kein Text, Gesamtspieldauer rund 30 Sekunden – ließe Ihnen noch reichlich Zeit für den Restaurantbesuch danach...

All dies sind Beispiele für literarische Phänomene, mit denen man in philologischen Seminaren schnell einen Streit vom Zaun brechen kann: über Gattungsgrenzen, über Zumutungen, über Literatur. Kann man wirklich noch von einem Theaterstück, einem Drama sprechen, wenn dort niemand mehr spricht? Freilich, es gibt Pantomimen, aber sind deren Aufführungen noch Gegenstand der Literaturwissenschaft, die doch einen Text benötigt, über den sie sich verständigen kann? Im übrigen hat Beckett solchen Debatten vorgebaut: In Breath gibt es nämlich auch keine Schauspieler, nur ein einziges Ein- und Ausatmen vom Tonband, ergänzt durch einen ebensolchen Geburtsschrei. Ist das nun impertinenter Unsinn, ein Fluchtpunkt der Moderne oder eine Allegorie menschlichen Seins?

Breath ist ein extremer Einzelfall, vergleichbar den monochromen Leinwänden Yves Kleins oder John Cages tonlosem Klavierstück, aber ignorieren kann man ihn nicht, wenn man sich wirklich über das Wesen der Literatur verständigen will. Dabei kommt dem Text, dem Niedergeschriebenen, eine Schlüsselrolle zu: Man kann argumentieren, dass Bühnenanweisungen ja bereits einen Text konstituieren, und der ist stabil. Aber in Kendalls Gedicht ist er das nicht: Als Hypertext errichtet er sich je nach Mausklickentscheidung der Leserinnen und Leser, und das Programm hat darüber hinaus vermutlich Zufallsgeneratoren. Schon dieses "vermutlich" kostet den Literaturwissenschaftler Überwindung: Wie können wir etwas wissenschaftlich erfassen, von dem wir weder die Mechanismen ohne Hilfe des Autors aufdecken noch uns auf einen verbindlichen Text einigen können? Der Verfasser hat es mehr als einmal erlebt, dass Studierende von Textdetails sprachen, die ihm unbekannt waren. Was im Shakespearekurs unprofessionell und peinlich wäre, ist in Hypertext-seminaren unumgänglich: Überraschungen im Wortlaut zu finden.

Nebenbei sei bemerkt, dass sich damit in der Lehre ganz neue Formen der "Belehrung" finden lassen müssen: Es kann immer sein, dass die Studierenden mehr und Wichtigeres vom Text gesehen haben als die Dozenten, die in ihm ahnungslos Lektüreschleifen gedreht haben. Hier kommt es oft zu kuriosen Koalitionen: Die erfahreneren und beleseneren Lehrenden sind nicht immer diejenigen mit dem weiteren Literaturbegriff, aber umgekehrt sind es auch nicht immer die jungen abenteuerlustigen Studierenden, die sich an den Grenzen der Literatur am wohlsten fühlen. Denn es ist ein Kennzeichen vieler literarischer Randformen, dass sie ungemütlich sind und dem stereotypischen Schmökern auf dem Sofa nicht nur dann Widerstände entgegensetzen, wenn man das Buch erst einmal zusammenbasteln muss.

Dabei landet man auf – theoretisch – vertrautem Terrain: Ungewohnte Technologien sind ein einigermaßen neues Phänomen; ungewohnte Techniken nicht. Literatur erkennt man daran, dass sie dem Leser Arbeit macht. Was sich unkonzentriert querlesen lässt, mag zur Informationsvermittlung taugen wie ein Reiseprospekt, oder zur Rückkehr in vertraute Welten wie ein Liebesroman mit adligem Personal. Gute Literatur aber beginnt dann, wenn man Neuem begegnet: neuen Ideen, neuen Bildern und neuen Formen. Bertolt Brecht nannte dies Verfremdungseffekt und wollte ihn politisch genutzt sehen, aber zunächst und vor allem ist das Verfremden, das Fremdmachen eine Sehhilfe, die es uns ermöglicht, neu und besser wahrzunehmen, weil wir gezwungen werden, genauer hinzuschauen.

Sind Graffiti Literatur?

Aber die Fragen, die eine Morphologie der literarischen Grenzformen aufwerfen kann, sind noch weit über die Seminare der Anglisten, der Germanisten, der Romanisten und Slavisten hinaus konfliktträchtig und von allgemeinem Interesse: Sind Graffiti Literatur? Darf man sagen, dass Rap und Hiphop die am meisten rezipierten, mithin wichtigsten Lyrikformen des beginnenden 21. Jahrhunderts sind? Wie steht es um die Seriosität derer, die sich mit Comic Strips beschäftigen? Solche Fragen tauchen in literaturwissenschaftlichen wie in feuilletonistischen Debatten immer wieder auf und polarisieren schnell und zuverlässig. Jedoch gibt es noch keinen systematischen Versuch, diese literarischen Formen zu kartographieren und gewissermaßen die Grenzen des Literarischen abzuschreiten, ja auch nur die Debatten um Einzelfragen auf ihre gemeinsamen Strukturen abzusuchen und diese zu systematisieren.

So ist schon der soeben gebrauchte Begriff "Graffiti" umstritten; manche sagen einfach "Wandschmierereien". Damit ist bereits einiges über den Streit um spontane, aphoristische Inschriften im öffentlichen Raum gesagt. Sie existieren im Spannungsfeld zwischen Dichtung und Sachbeschädigung, von privater und öffentlicher Sphäre, von Autorschaft und Anonymität, aber auch von Schrift und Bild. Damit stehen sie exemplarisch für viele solche Grenzphänomene. Hier können Forscher Parallelen betonen und auf verwandte Argumentationsmuster hinweisen, aber auch literaturhistorische Entwicklungen verdeutlichen. Rap ist den einen die poetisch gedrungene Ausdrucksform der postmodernen Metropolen und den anderen wenig oder gar nicht verschleierte Pornographie. Beide Auffassungen sind mit vielerlei Beispielen belegbar; und keine ist "richtig" oder "falsch"; aber wer die Tradition der Bluestexte des 20. Jahrhunderts kennt, urteilt anders als jemand, der von den oralen Traditionen der Afro-Amerikaner nichts weiß. Und wer sich noch an die letzten öffentlichen Bücherverbrennungen in Deutschland erinnert – die Rede ist von den Scheiterhaufen der Comics in den 50er Jahren – wird auch diese Literaturform nicht einfach als Bildergeschichten für lesefaule Kinder abtun, sondern ihr zumindest verstörendes Potenzial zubilligen.

In all diesen Fällen kommt der Literaturwissenschaft eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe zu: Materialien zu erarbeiten und bereitzustellen, um die öffentliche Diskussion zu bereichern und zu versachlichen. Wenn man einmal erkannt hat, dass sich einige Comics seit den 1980er Jahren dem Roman annähern, als graphic novels komplex erzählen und sich obendrein noch in bester postmoderner Art mit ihrer eigenen Kunsthaftigkeit auseinandersetzen, wird man schwerlich von Kinderkram reden können. Damit ist freilich nicht gesagt, dass derartige Werke nicht prätentiös, unbeholfen oder langweilig sein können. Das aber zu beurteilen, ist ebenso Aufgabe der Leserinnen und Leser wie der Wissenschaft. Anders gewendet: Wir müssen der Versuchung widerstehen, Poetiken im Sinne des 18. Jahrhunderts zu verfassen, über die "richtige" Art zu schreiben, zu sprühen, zu rappen: "So sollst Du es machen, sonst gehörst Du nicht dazu." Es geht nicht um ein präskriptives, sondern vielmehr um ein deskriptives Vorgehen: Bis zu diesem Punkt gibt es von uns untermauerten Konsens, ab dann wird es für alle kontrovers, interessant, offen.

Eine Versuchung jedoch ist zu reizvoll, als dass man ihr ganz widerstehen könnte oder sollte, und das ist der Drang zur Spekulation. Literaturgeschichte ist ja reaktiv, und Literaturwissenschaft, jedenfalls alles außer reiner Theoriearbeit, ist es auch: Eine(r) dichtet etwas, und wir erklären, interpretieren, verorten es. In den Grenzmarken der Literatur, auf dem Feld experimenteller Texte, drängt sich die Frage nach der nächsten Überraschung auf: Was kommt nach dem Theaterstück als Videoinstallation, dem Hologrammgedicht, dem kollektiv verfassten Roman im Internet?

Vieles, zumal die vielfältigen elektronisch unterstützten Experimente unserer Zeit, wird die Literatur vielleicht nicht dauerhaft auf neue Bahnen lenken können. Ob etwa das Projekt Breathing Wall zukunftsweisend ist? Es zeigt der Leserin, dem Leser Bildschirmtexte, die je nach Intensität der Körperatmung, gemessen von einer entsprechenden Sonde, bereitgestellt werden. Auch die Blogosphäre, das autobiographische Textgestrüpp, das im Internet Tag um Tag wuchert, wird – schon aus Umfangsgründen – kaum je literaturwissenschaftlich erfasst werden können. Aber das ist auch nicht notwendig, denn die Forschungsprojekte, die sich in Heidelberg mit vor allem englischsprachigen Grenzformen der Literatur beschäftigen, wollen nicht archivieren, sondern Strukturen, Funktionen und ästhetische Möglichkeiten aufzeigen: Wie viele Unterformen des Kreuzworträtsels oder des Rollenspiels es gibt, ist weniger interessant als die Frage, ob man solchen alltäglichen und ausgefallenen Phänomenen literaturwissenschaftlich beikommen kann.

Die Spannung zwischen dem Neuen, Experimentellen, Randständigen einerseits und dem Kanonischen, Hergebrachten auf der anderen Seite charakterisiert die Arbeit vieler Heidelberger Neuphilologen. Wo sonst gibt es noch so viele, die sich zunächst als "Philologen" bezeichnen und dann erst als Literaturwissenschaftlerinnen oder als Sprachwissenschaftler? Wo sonst können Korpus- und Computerlinguistinnen so spannungsreich mit Hermeneuten der alten Schule sprechen? In dem Institut, das der Verfasser naturgemäß am besten kennt, dem anglistischen nämlich, entstehen Arbeiten zur spätmittelalterlichen Hoflyrik und zu feministischen Webpamphleten, zum Sprachwandel in schottischen Comics und zu antimonarchistischen Flugblättern, zur amerikanischen Transzendentalphilosophie und zu gay plays, die jede Aufführungskonvention sprengen – oft betreut von denselben Forschern, und immer im Dialog mit den Kolleginnen und Kollegen. Es ist schön, dort arbeiten zu dürfen, zumal unsere Interessen notwendig konvergieren. Egal aus welcher weltanschaulich oder wissenschaftlich vorgefärbten Richtung man die Grenzmarken der Literatur durchmisst: Immer wieder muss der definierende, der vergewissernde Blick zurück zur Mitte gehen, zur Bestandsicherung dessen, was literarisch ist. So gesehen kehrt die Literaturwissenschaft auch modernster Provenienz wieder zu ihrem hausangestammten Gegenstand, zu Texten unbezweifelter Literaturhaftigkeit zurück. Das Unorthodoxe stabilisiert den Kanon, der der Literaturtheorie lange als Verkörperung, ja Versteinerung des Konservativen galt. Randformen zwingen immer auch zur Definition des Zentrums, also zu einer Verständigung darüber, was denn Literatur "im engeren Sinne" eigentlich sei – und das ist eine Kernaufgabe der Literaturwissenschaft.

Prof. Dr. Peter Paul Schnierer hat seit 2002 den Lehrstuhl Anglistik: Literaturwissenschaft in Heidelberg inne. Davor lehrte er an den Universitäten von Wien, Tübingen, Maryland, Flagstaff, Buckingham und Greenwich. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen neben literarischen Grenz- formen das Gegenwartsdrama, die irische Literatur und die Literatur der Renaissance. Seine letzte Buchveröffentlichung ist "Entdämonisierung und Verteufelung: Studien zur Darstellungs- und Funktionsgeschichte des Diabolischen in der englischen Literatur seit der Renaissance" (2005).

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