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Das Buch vom Tempel

Die Geschichte einer sensationellen Rekonstruktion
von Joachim Friedrich Quack
 

Wissenschaftler tun sich mit dem Wort Sensation schwer. Und doch trifft es in vollem Umfang auf das zu, was sich nach jahrelanger Schnitzeljagd rund um die Welt aus einem Haufen uralter Fragmente in geduldiger Arbeit herausschälte: ein Handbuch, das im Alten Ägypten über viele Jahrhunderte gültig war und präzise Angaben darüber macht, wie der ideale Tempel zu bauen und wie er zu betreiben ist. Nie zuvor ist ein derartiger Text entdeckt und ediert worden.

 

Ein originales Handbuch über den Betrieb eines antiken Tempels? So etwas zu haben, wäre ein Traum, den wohl jeder Forscher als unerfüllbar ansehen würde. Und doch ist er für das Alte Ägypten wahr geworden.

Die Geschichte beginnt mit der Veröffentlichung eines Fachkollegen, der einen ägyptischen Papyrus aus dem Berliner Museum edierte. Obgleich dieser Papyrus aus der römischen Kaiserzeit stammte, nannte der Text die Namen zweier Herrscher Ägyptens aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Einer war ein obskurer, sonst kaum bezeugter Herrscher der zweiten Dynastie, der andere dagegen kein geringerer als Cheops, der Erbauer der größten Pyramide Ägyptens. Eines war inhaltlich auf Anhieb erkennbar – es ging um den Bau von Tempeln.

Die Relevanz des Textes wurde durch eine spezielle Beobachtung meinerseits weiter erhöht: Es ließ sich zeigen, dass ein anderer Papyrus, der etwa 15 Jahre früher ediert worden war, direkt dazu parallel ging – nicht im Wortlaut übereinstimmend, sondern als  Übersetzung von einer älteren in eine jüngere Sprachform des Ägyptischen. Das machte die Sache noch spannender: Eine derartige Übersetzung ist selten und kommt nur bei Kompositionen vor, die in der Kultur über längere Zeit als besonders wichtig angesehen wurden.

Ungeachtet der evidenten Bedeutung der Komposition erschien ihr Nutzen für die moderne Forschung zunächst begrenzt: Bei den beiden publizierten Papyri handelte es sich um relativ kleine Bruchstücke, vom ursprünglichen Text war nur wenig übrig geblieben. Dies änderte sich mit einem Forschungsaufenthalt in Kopenhagen, der mir 1995 erstmals die Chance bot, nach weiteren Textzeugen zu suchen.

Das Ergebnis der ausgedehnten Suche in der Sammlung war ein Haufen von etlichen hundert Einzelfragmenten. Sie gehörten zu einer ganzen Reihe verschiedener Handschriften – aber alle waren Abschriften desselben Werkes. Die Zuordnung war nicht immer einfach: Vielfach galt es, die persönliche Handschrift von Schreibern zu unterscheiden, um kleinere Bruchstücke korrekt als zugehörig zu identifizieren.

Weitere Forschungsreisen förderten in zahlreichen anderen Sammlungen noch weiteres Material zutage, sodass heute Handschriften aus Aberdeen, Ann Arbour, Berlin, Florenz, Heidelberg, Kopenhagen, London, Manchester, New Haven, Oslo, Oxford, Paris, St. Louis und Wien bekannt sind. Viel Zeit nahm es in Anspruch, das Material, das letztlich zu etwa 45 verschiedenen Handschriften gehörte, zu sor-tieren. Unter den Handschriften dominiert die klassisch-ägyptische Sprache in hieratischer Schrift, in der das Werk ursprünglich verfasst war. Bei mehreren Handschriften handelt es sich um Übersetzungen ins
Demotische. Und noch eine weitere Übersetzung ließ sich identifizieren, nämlich die ins Griechische. Von dieser Übersetzung sind bislang nur Reste einer einzigen Abschrift aufgetaucht. Übersetzungen literarischer und religiöser Texte vom Ägyptischen ins Griechische sind selten. Üblicherweise zirkulierten sie vor allem in Ägypten selbst, wo in der Römerzeit das Griechische als Medium gegenüber dem Ägyptischen an Bedeutung gewann und griechische Einwanderer erhebliches Interesse an den einheimischen Kulten zeigten.

Als große Herausforderung erwies sich der Erhaltungszustand der Fragmente. Wäre der Papyrus in seinem ursprünglichen Zustand –  also als lange Rolle –  vollständig erhalten geblieben, könnte man ihn problemlos lesen und übersetzen, und die Arbeit der Edition wäre längst abgeschlossen. Von der Rolle sind aber nur Fetzen und Bruchstücke übrig; nur ein geringer Teil jeder einzelnen Handschrift ist erhalten. Diese kläglichen Reste galt es, aus einem Haufen ebenso kleiner Bruchstücke Hunderter anderer Handschriften herauszusuchen. Letztlich handelte es sich um eine Art Puzzle – mit der Komplikation, dass man für dieses Puzzle die Teile von tausend verschiedenen Puzzles zusammengeworfen, durcheinander geschüttelt und anschließend drei Viertel der Teile weggeworfen hat. Es ist dennoch gelungen, das Werk annähernd zu rekonstruieren, –  es erwies sich als ein über die Jahrhunderte gültiges "Buch vom Tempel".

Das Buch hat einen klar strukturierten Aufbau. Überhaupt weist es sich als sorgfältig und präzise formuliertes Handbuch aus, das mit dem Ziel klarer Verständlichkeit und Unzweideutigkeit redigiert wurde. Es beginnt mit einer "historischen" Einleitung. Demnach gab es in der Frühzeit Ägyptens eine siebenjährige Hungersnot. Während dieser Zeit verfielen die Tempel. Der damalige Herrscher erhielt im Traum den Auftrag, die Tempel zu restaurieren und neu auszustatten. Dazu wird ein Dekret erlassen, das später vom Prinzen Hardjedef, dem Sohn des Cheops, in einem verfallenen Archiv in Heliopolis wieder aufgefunden wurde. Den Inhalt dieses Dekretes gibt wohl der gesamte restliche Text wieder.

Er beginnt mit einer programmatischen Überschrift:"Vorschrift, die dem Taiti Sab (ein ägyptischer Titel), obersten Vorlesepriester und königlichem Bauleiter, der die Bauten im ganzen Land leitet, aufzutragen ist bei der Gründung jedes Tempels von Ober- und Unterägypten, um alle [Dinge] an ihren richtigen Platz im Tempel zu setzen. Vorschrift des korrekten Benehmens, die jedermann aufzutragen ist, um ihn in seinen Dienst einzuweisen in jedem Dienst des Tempels, um Reinheit festzusetzen, Tabus zu verabscheuen und die Vorschriften des ersten Males einzuhalten durch alle, die im Tempel eintreten, von den hochrangigen Priestern, die zum Gott eintreten, bis zu jedem jeweiligen Dienst."

An dieser Textstelle lässt sich gut die doppelte Intention des Werkes erkennen. Es geht zum einen darum, bei der Gründung der Tempel die architektonische Anlage genau durchzuführen und die Räume korrekt anzuordnen. Zum anderen geht es um die Verhaltensregeln für sämtliche Mitarbeiter, von den höchsten bis zu den niedrigsten Rängen.

Die architektonische Sektion beschreibt detailliert, wie ein ägyptischer Tempel theoretisch aussehen sollte. Da der Text beansprucht, nicht für ein bestimmtes einzelnes Bauwerk geschrieben zu sein, sondern landesweite Gültigkeit zu haben, bietet er kaum je konkrete Maße der Räume. Er begnügt sich damit, die relevanten Bauteile als solche zu nennen und ihre Funktion zu beschreiben, vor allem ihre relative Lage der Gebäude zueinander mit Angaben der Richtungen, in die sich Türen öffnen sollen. Wer Interesse an der Geschichte der Architektur hat, wird vielleicht mit Kummer erfahren, dass sich der antike Autor ganz auf die Kraft des geschriebenen Wortes verlassen hat – es gibt keine einzige architektonische Zeichnung, welche die Konzeption unmittelbar visualisieren würde.

Die Autoren moderner Reiseführer mag es irritieren, dass die Beschreibung genau andersherum vorgeht, als sie es gewohnt sind. Während die Perspektive eines Besuchers oder Touristen diejenige von außen nach innen ist, stellt sich der Autor des "Buches vom Tempel" auf die Perspektive der Gottheit ein: Er beschreibt, konsequent von innen her, zunächst das Sanktuar und dann die umliegenden Räume.

Ein ägyptischer Tempel ist seiner Anlage und Funktion nach keinesfalls mit einer Kirche zu vergleichen. Die Kulträume sind erheblich komplexer. Neben dem Sanktuar der hauptsächlich verehrten Gottheit gibt es eine Reihe weiterer Schreine für andere Götter, die als "Neunheit" (die keineswegs immer aus genau neun Mitgliedern bestehen musste) ebenfalls in diesem Tempel verehrt wurden. Für die Darbringung der Opfer gab es eine eigene Halle, nach vorne einen Pronaos. Treppen führen zum Dach, wo ein spezieller Kiosk dazu dient, die Kultstatuen am Neujahrstag dem Licht der Sonne auszusetzen.

Bedeutend ist auch, dass keineswegs jeder Gläubige sich der Kultstatue nähern konnte. Die inneren Räume und das Sanktuar sind selbst innerhalb der Priesterschaft nur für die höchsten Ränge zugänglich gewesen. Die normale Bevölkerung durfte lediglich außen im Tempel in die offenen Höfe treten, wobei die Männer einen Hof weiter nach innen gehen durften als die Frauen.

Außerhalb des architektonischen Verbundes des Tempels gab es noch weitere Bauten von erheblicher religiöser Bedeutung. Beispielsweise das Geburtshaus, in dem jährlich die Geburt des göttlichen Kindes gefeiert wurde, das aus der Verbindung der männlichen und weiblichen Hauptgottheit des Tempels hervorging. Daneben gibt es den "osirianischen Bezirk" mit heiligem See und heiligem Hügel. Osiris ist in Ägypten der Gott, der von seinem bösen Bruder Seth getötet wurde. Osiris’ Frau Isis suchte die zerstreuten Leichenteile ihres Mannes wieder zusammen und konnte ihn genügend wieder beleben, um von ihm einen Sohn und Rächer zu empfangen.

Jährliche Feste, für die Figurinen des Gottes hergestellt wurden, dienten dazu, die Ereignisse rituell nachzuspielen. Anschließend wurden die Figurinen so gelagert, dass sie keinen profanierenden Zugriffen mehr ausgesetzt waren. Man warf sie dazu entweder in das Wasser des heiligen Sees oder des Nils oder deponierte sie in speziellen Erdbestattungen im heiligen Hügel. Wegen der Heiligkeit dieser Orte sowie der Gefahr, die Macht der göttlichen Substanz für Zwecke privaten Vorteils zu missbrauchen, war der Zugang hier streng reglementiert und nur wenigen Priestern erlaubt. Wer unautorisiert in diesem Bereich ertappt wurde, dem drohte dieselbe Strafe wie dem, der den Namen des Königs lästerte, nämlich der Feuertod.

Die Gesamtanlage des Tempels beschränkt sich nicht auf Räume für den Kult im engeren Sinne. Auch Wirtschaftsräume sind in erheblichem Maße Teile des Ganzen. Speicher, Viehhürden, Gänseteich, Schlachthof und Küche sind genau festgelegt – auch der Platz für den Abfallhaufen, der wegen der Geruchsbelästigung in eine Ecke verbannt wird. Auch Werkstätten, etwa für die Herstellung von Fayence und Statuen, sind präsent, ebenso Wohnräume für die Priester während ihrer Dienstzeit. Nicht fehlen darf die Balsamierungswerkstatt. In einem speziellen Bezirk wird das jeweilige heilige Tier gehalten, wobei der Text ausdrücklich mahnt, den Tieren aus-reichend Licht und Luft zuzuge- stehen.  Für die wohl als Normalfall geltenden heiligen Rinder wird zudem eine artgerechte Herdenstruktur mit mehreren Kühen vorgesehen.

Quasi als Anhang zur architektonischen Sektion nennt der Text eine Liste der Gottheiten, die in den verschiedenen Räumen des Tempels präsent sein sollen. Auch hier steht der Autor vor der Herausforderung, einen Text von landesweitem Anspruch mit den regional divergierenden realen Kulten zu harmonisieren. Er löst dies, indem er eine Reihe von "Leerformeln" definiert. Er schreibt etwa: "der jeweilige große Gott" oder "die himmlischen Götter des jeweiligen Gaues und die himmlischen Götter, die in keinem Gau fehlen". Er nennt jedoch auch eine ganze Reihe festgelegter Gestalten, die unabhängig vom -regionalen Kultbetrieb Gültigkeit haben sollen. Vergleiche mit real erhaltenen Tempeln zeigen gelegentlich frappante Übereinstimmungen – hier hilft der theoretisch-normative Text vielfach, das hinter der konkreten Umsetzung stehende Prinzip besser zu entschlüsseln.

Das heißt nicht, dass die Theorie die Praxis dominiert und gebunden hat. Vielmehr ist es schon jetzt markant erkennbar, dass von den zahlreichen erhaltenen Tempeln Ägyptens kein einziger als wortgetreue Umsetzung des "Buches vom Tempel" gelten kann. Alle weisen in erheblichem Maße Abweichungen, meist Verkürzungen des Programms auf. Selbst in den großen Tempeln der Spätzeit, die den erhaltenen Handschriften zeitlich nahe stehen, kann man ungeachtet vieler Übereinstimmungen keine 1:1-Übernahme erkennen.

Der zweite Teil des Werkes gilt den Priestern. Am Anfang steht eine Sektion mit generellen Grundsätzen. Sie betreffen beispielsweise die materielle Versorgung und das Absichern von Frau und Kindern, wenn der Priester stirbt. Üblicherweise wird der Sohn Nachfolger seines Vaters. Wenn er noch zu jung ist, um den Kult ausführen zu können, muss ein Stellvertreter ernannt und entsprechend besoldet werden. Der Text nennt den Wortlaut zweier Eide, welche die Priester bei der Weihe schwören müssen. Da-rin versichern sie, bestimmte Vergehen, zum Beispiel einen Mord, niemals begangen zu haben, und sie schwören, bestimmte Verhaltensweisen, beispielsweise das Vermessen von Land, künftig zu unterlassen.

Typisch für die ägyptische Sozialstruktur – und unserem heutigen Leben eher fremd – ist die Teilzeitberuflichkeit. Ein Tempel funktionierte nach dem System von vier rotierenden Diensteinheiten, sogenannten Phylen. Jede Diensteinheit hatte einen Monat lang Tempeldienst. Danach gingen die Bediensteten drei Monate lang anderen Tätigkeiten nach, dann kamen sie erneut an die Reihe. Die Folge war, dass es eine vergleichsweise hohe Partizipation der Bevölkerung am Kult gab. Nur wenige Spezialisten dienten vollberuflich im Tempel, insbesondere solche, für deren Tätigkeit eine längere Spezialaus-bildung vonnöten war. Von den höheren Diensträngen war in jeder Phyle meist nur ein Mitglied vorhanden, für die niedrigen oft mehr. Die bislang höchste erhaltene Zahl betrifft einfache Arbeiter, die unter anderem jeden Tag das Korn für das Brot mahlen mussten. Von ihnen sind nicht weniger als 50 gleichzeitig im Dienst.

Der Text beschreibt die Dienstpflichten des Personals hierarchisch von oben nach unten. Er nennt zuerst den Gouverneur und Vorsteher der Propheten, der gleichzeitig das Bindeglied zwischen der Königsresidenz und der lokalen Administration des Tempels ist. Nach verschiedenen hochrangigen Priestern, die unter anderem dem Kult des Osiris dienten, nennt der Text einige intellektuelle Spezialisten, deren Tätigkeit aus einer bemerkenswerten Mischung modern anmutender Hygienekontrollen und Magie besteht. Man erfährt beispielsweise, dass der Zauberer jeden Morgen vor dem Gottesdienst die Schlangen aus den Kapellen zu verscheuchen hatte.

Reizvoll und fast vollständig rekonstruiert ist die Sektion über den Oberlehrer des Tempels. Ihm oblag es, den Basisunterricht für alle Priestersöhne und zudem eine höhere Ausbildung  spezifisch für die Söhne der oberen Dienstränge abzuhalten. Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, anhand der Leistungen zu beurteilen, welcher Schüler es verdiente, später das Amt seines Vaters zu übernehmen. So wird im Tempel über lange Zeit Exzellenz und Qualität gewahrt.

Ein derartiger Text ist für Ägypten bislang nicht bekannt gewesen. Es dürfte aber möglich sein, strukturelle Parallelen in anderen Kulturen aufzuzeigen. Allerdings sind etwa die keilschriftlichen Texte über die Pflichten von Beamten und die Dienste des Tempelpersonals üblicherweise weniger umfangreich und nicht zusätzlich mit einer Baubeschreibung verbunden. Wichtiges Vergleichsmaterial liefern auch Texte wie die Tempelrolle von Qumran. Überhaupt laden manche Regeln zur rituellen Reinheit geradezu zu einem Vergleich mit jüdischen Reinheitsregelungen ein. Es ist vorgesehen, die kommentierte Edition dieses Textes in den nächsten Jahren abzuschließen.
Prof. Dr. Joachim Friedrich Quack  
Foto: Friederike Hentschel
Prof. Dr. Joachim Quack studierte Ägyptologie, Semitistik, Biblische Archäologie, Altorientalistik sowie Vor- und Frühgeschichte in Tübingen und Paris. Er promovierte über "Die Lehren des Ani", war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ägyptologischen Seminar der Freien Universität Berlin und habilitierte sich mit "Beiträgen zu den ägyptischen Dekanen und ihrer Rezeption in der griechisch-römischen Welt". Der Heisenberg-Stipendiat ist seit 2005 Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg.
Kontakt: joachim_friedrich.quack@urz.uni-heidelberg.de

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