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Molekulare Angriffsziele

Neue Strategien zur Behandlung von Leberzellkrebs
von Peter Schirmacher

Der Leberzellkrebs zählt zu den weltweit häufigsten Tumoren. Dennoch galt er bislang als "orphan disease", als verwaiste Erkrankung, weil sich nur wenige therapeutische Studien mit diesem Krebs und seiner Behandlung befassten. Die Arbeiten der Grundlagenforscher lassen mittler-weile nicht nur besser verstehen, wie und warum sich diese Tumoren bilden. Ihre Ergebnisse zeigen auch neue molekulare Angriffsziele für Medikamente, die darauf hoffen lassen, den bislang nur schwer behandelbaren Leberzellkrebs gezielt anzugreifen.

 

Der Leberkrebs ist eine Tumorerkrankung, die einen außerordentlich ungünstigen Verlauf nimmt, zunehmend häufiger auftritt und bislang kaum Ansatzpunkte für eine wirkungsvolle Behandlung bietet. Neue Untersuchungen, wie sie auch am Pathologischen Institut der Universität erfolgen, zeigen jedoch, dass dies nicht das letzte Wort ist. Molekulare Analysen des Tumors konnten das Verständnis für die Entstehungsmechanismen des Tumors erheblich erweitern und haben Ansatzpunkte für neue, gezielt ansetzende Behandlungen erbracht.

Auch wenn Metastasen, also Absiedlungen andernorts entstandener Tumoren, nach wie vor die häufigsten bösartigen Geschwülste der Leber sind, so ist doch das Leberzellkarzinom (hepatozelluläres Karzinom, HCC) mittlerweile mit rund einer Million Todesfälle pro Jahr der fünfthäufigste maligne Tumor weltweit. Die meisten Fälle treten in Schwarzafrika und Südostasien auf, aber auch in den westlichen Industrienationen ist in den vergangenen 25 Jahren eine dramatische Zunahme von etwa 70 Prozent zu verzeichnen. Auch in den nächsten 30 bis 40 Jahren muss noch mit steigenden Zahlen gerechnet werden.

Die Ursachen des Leberkrebses sind bestens bekannt und lassen sich bei etwa 90 Prozent der Erkrankungsfälle konkret belegen: Es sind dies die chronische Leberentzündung (Hepatitis) durch das Hepatitis-B- und C-Virus, der chronische Alkoholabusus und eine Reihe weiterer, zum Teil angeborener Erkrankungen, die zu einer chronischen Leberschädigung führen. Dennoch haben bislang alle Versuche, die Ursachen zu bekämpfen (Impfung, antivirale Therapie) nicht zu nennenswerten Erfolgen geführt. Ist der Tumor erst einmal entstanden, sind die Behandlungsmöglichkeiten begrenzt. Heilung ist derzeit nur durch das operative Entfernen von erkranktem Lebergewebe, gegebenenfalls durch eine Lebertransplantation und durch lokal tumorzerstörende Verfahren möglich – für diese Therapien kommen jedoch nur lediglich fünf Prozent der Patienten in Frage. Bestrahlung, Chemo- oder Immuntherapie haben nicht zu erkennbaren Erfolgen geführt.

Die therapeutischen Möglichkeiten werden zusätzlich durch den Umstand begrenzt, dass das Tumorleiden zum Zeitpunkt der Diagnose meist bereits fortgeschritten ist und bei bis zu 80 Prozent der Patienten knotige Vernarbungen (die so genannte Zirrhose) im übrigen, nicht vom Tumor befallenen Lebergewebe entstanden sind. Unbehandelt ist die Prognose sehr schlecht; nur wenige Patienten leben nach Diagnosestellung länger als ein Jahr.
Eine Verbesserung könnte das frühere Erkennen des Tumors bieten. Leider existiert jedoch kein sensitiver Blut-Marker, insbesondere nicht für frühe Tumoren. Auch die bildgebende Diagnostik ist aufgrund des häufigen knotigen Leberumbaus wenig verlässlich. Diese Probleme erschweren es, einen potenziellen Therapieerfolg zu dokumentieren. Das hat dazu geführt, dass das Interesse der Industrie an therapeutischen Studien zum Leberzellkarzinom sehr gering geblieben ist. Bis vor kurzem musste man daher das Leberzellkarzinom als die häufigste schwerwiegende "orphan disease" (verwaiste Erkrankung) bezeichnen.

Angesichts derartig ungünstiger Voraussetzungen könnte man mutlos werden. Sie sind jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die Leberzelle (Hepatozyt) – die Ausgangszelle des Leberzellkarzinoms –  ist bereits seit Jahrzehnten das Objekt biomedizinischer Grundlagenforschung, von der Biochemie über die Zell- und Molekular- bis hin zur neuen Systembiologie. Es gibt keine auf eine spezifische Tumorerkrankung bezogene Forschung, die im vergleichbarem Ausmaß auf solch umfangreiche Grundlagenerkenntnisse zurückgreifen kann. Es konnten beispielsweise zahlreiche Modellsysteme etabliert werden, die es erlauben, Therapiestrategien vor ihrer Anwendung am Menschen zu testen. Das Leberzellkarzinom ist seit einigen Jahren zudem Gegenstand einer neuen molekularbiologischen Screening- und Hochdurchsatzanalytik. Mit solchen Screening-Untersuchungen lassen sich charakteristische genetische Veränderungen ermitteln, die sich während der Entwicklung des Tumors herausbilden. Darüber hinaus gibt es Hochdurchsatztechniken (beispielsweise so genannte Multi-Tissue-Arrays), die es erlauben, einmal identifizierte genetische Veränderungen bei sehr vielen Tumoren zu untersuchen. Das macht es möglich, vergleichsweise rasch und rationell potenzielle Marker-Gene, die eine Aussage über die Prognose erlauben, zu ermitteln oder neue therapeutische Ziele zu testen. Diese Untersuchungen erfolgen seit Jahren im Pathologischen Institut der Universität Heidelberg, teilweise zusammen mit Partnern wie dem Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Die Erfolge sind beträchtlich. Es konnte beispielsweise folgender Zusammenhang gezeigt werden: Eine wichtige Gruppe von Signalmolekülen – so genannte Wachstumsfaktoren beziehungsweise die von ihnen regulierten Faktoren, die "Tyrosin-Kinasen", – sind in Leberkrebszellen ständig aktiv. Tyrosin-Kinasen sind auch bei anderen Tumorerkrankungen Gegenstand intensiver Untersuchungen. Sie gelten derzeit als die Erfolgs versprechendste Molekülklasse für gezielte Therapieansätze. Umfangreiche Untersuchungen haben auch für das Leberzellkarzinom gezeigt, dass die Fehlregulation dieser Wachstumsfaktoren-Signalwege für das Entstehen und das weitere Wachstum der Tumorzellen offenbar unverzichtbar ist.

Auf molekularer Ebene sind die zugrunde liegenden Veränderungen sehr vielgestaltig. Diese Komplexität kommt zustande, weil die verschiedenen Wachstumsfaktoren-Signalwege nicht getrennt voneinander ablaufen, sondern auf unterschiedlichen Ebenen der Signalübermittlung – von der Zelloberfläche bis zum Zellkern – miteinander vernetzt sind.

Die gute Nachricht lautet: Wachstumsfaktoren-Signalwege stellen auch für das Leberzellkarzinom geeignete therapeutische Ziele dar. Die Herausforderung besteht nun darin, in diesem komplexen Signalgeflecht die entscheidenden Komponenten zu identifizieren, gezielt anzugreifen und zu inaktivieren.

Die möglichen therapeutischen Ziele beim Leberkrebs beschränken sich nicht allein auf Tyrosin-Kinasen. Unsere Untersuchungen haben noch weitere Zielstrukturen ermittelt; unser Augenmerk liegt derzeit auf dem Prostaglandin-Stoffwechsel, insbesondere auf der Hemmung der Cyclooxygenase-2 (COX-2). Dabei handelt es sich um ein zentrales Enzym im Prostaglandin-Stoffwechsel, das die Umsetzung von Arachidonsäure in Prostaglandine bewirkt. Im Gegensatz zu COX-1, einem verwandten Molekül, wird COX-2 kaum in gesundem Gewebe gebildet; bei verschiedenen Krankheitszuständen jedoch, etwa bei Entzündungen und Tumorerkrankungen, kann COX-2 vermehrt nachgewiesen werden.

Es ist demnach zu erwarten, dass eine Behandlung, die sich gezielt gegen COX-2 richtet, krankes Gewebe angreift, gesundes Gewebe aber vergleichsweise wenig schädigt. Zur Hemmung stehen bereits seit langem Substanzen, die so genannten nicht-steroidalen Antiphlogistika (NSAR), zur Verfügung. Sie werden derzeit zur Behandlung von Entzündungen und Schmerzen verwendet. Es hat sich jedoch zwischenzeitlich gezeigt, dass sich die über sie vermittelte Hemmung des Prostaglandin-Stoffwechsels auch antitumorös und tumorpräventiv auswirkt: Patienten, die langfristig nicht-steroidale Antiphlogistika einnehmen, erkranken auffallend seltener an bösartigen Tumoren. Bei einer seltenen erblichen, zu Dickdarmkrebs führenden Erkrankung – der familiären Kolonpolypose – verlangsamen COX-2-Hemmstoffe das Fortschreiten bis hin zum manifesten Krebs.

Die COX-2-Hemmstoffe, das war die Annahme bislang, entfalten ihre Anti-Tumor-Wirkung, indem sie unterbinden, dass neue Gefäße entstehen, die Tumoren mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. Unsere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass COX-2-Hemmstoffe unmittelbar das Wachstum der Tumorzelle beeinflussen, und die Krebszellen durch sie zudem in den programmierten Zelltod, die so genannte Apoptose, getrieben werden.  Dies geschieht auf zwei molekularen Wegen: Zum einen werden Todesrezeptoren auf der Zelloberfläche und damit der "extrinsische Signalweg" angesprochen, gleichzeitig wird der "intrinsische Signalweg" aktiviert, der von den Mitochondrien im Zellinnern ausgeht.

Ermutigend ist, dass sich diese Wirkung nicht nur in Kulturzellen, sondern auch durch Untersuchungen an Tieren bestätigen ließ. Eine erste klinische Studie mit COX-2-Hemmstoffen ist derzeit allerdings aufgrund der aktuellen Diskussion um Nebenwirkungen der COX-2-Hemmstoffe unterbrochen. Die Nebenwirkungen sind im Zusammenhang mit der Tumorerkrankung allerdings wenig relevant. Es bleibt zu hoffen, dass es dadurch auf diesem Gebiet nicht zu einem längerfristigen Stillstand kommt.
Wie lassen sich die neuen Erkenntnisse der Grundlagenforschung in die so dringend erforderliche Behandlung des Leberzellkrebses übersetzen? Diese entscheidende Frage stellt sich die so genannte Translationale Onkologie – und hat dabei mit einem Manko zu kämpfen: Nach der Novelle des Arzneimittelgesetzes sind klinische Studien ohne finanzielle Unterstützung der Industrie derzeit kaum noch durchführbar. Dies wirkt sich angesichts des sowieso schon geringen industriellen Interesses beim Leberzellkarzinom besonders negativ aus.

Ein möglicher Weg aus diesem Dilemma könnte folgende Vorgehensweise sein: Gesetzt den Fall, es lässt sich belegen, dass sich eine gezielte Therapie bei denjenigen Patienten als wirksam erweist, bei denen der nicht vom Tumor befallene Teil der Leber unverändert (und daher für Verlaufsbeobachtungen besser zugänglich) ist, dann kann auch darüber nachgedacht werden, die Therapie bei der Mehrzahl der übrigen Patienten einzusetzen.

Dieses Konzept ist nur dann durchführbar, wenn sich viele Zentren in so genannten Multizenter-Studien beteiligen. Eine erste derartige Studie mit einem Hemmstoff, der sich gegen den Rezeptor des Gefäß-Endothel-Wachstumsfaktors (VEGF-Rezeptor) und einen Signalübermittler (raf) im Innern der Zelle richtet, konnte kürzlich erfolgreich abgeschlossen werden.

Auch wenn die Tyrosin-Kinase-Hemmstoffe und andere molekulare Therapeutika Behandlungserfolge erwarten lassen – nach derzeitigem Erkenntnisstand sind sie nicht in der Lage, die Tumorerkrankung zu heilen. Tumorzellen können sich auf diese Therapien "einstellen" und ihrer erhofften Wirkung widerstehen; sie werden resistent. Diese Resistenz beruht in der Regel darauf, dass im großen Pool der Tumorzellen alternative Signalwege aktiviert werden. Oder es verändern sich die Ziel-Gene, sodass die Substanzen keine Angriffsziele mehr haben. Die künftige Herausforderung besteht darin, Behandlungsweisen sinnvoll miteinander zu kombinieren, also beispielsweise eine klassische Radio- oder Chemotherapie zusammen mit mehreren, gezielt angreifenden neuen Therapeutika einzusetzen. Dadurch könnte möglicherweise eine rasche Elimination des Tumors erreicht werden – bevor die Zellen Gelegenheit hatten, Resistenzen zu entwickeln.

Die molekularen Screening-Analysen haben noch eine weitere Herausforderung zu Tage gefördert: Das molekulare Profil der Leberzellkarzinome ist, wie das anderer Karzinome auch, vielgestaltig. Die möglichen therapeutischen Zielstrukturen sind deshalb nicht bei allen Leberzellkarzinomen, und wenn, dann oft auch nur bei einem Teil der Tumorzellen nachweisbar. Nur solche Tumoren und Tumorzellen, welche die Zielstruktur aufweisen, können von der spezifischen Therapie angegriffen werden. Alle anderen Tumoren und Zellen sind resistent. Ohne Zielstruktur werden sie bestenfalls vergeblich behandelt.

Wird diese Erkenntnis nicht berücksichtigt, werden Ressourcen vergeudet und Nebenwirkungen unnötig riskiert. Im Extremfall kann es so dazu kommen, dass ein grundsätzlich wirksames Medikament nicht den Weg in die klinische Anwendung findet, weil in der Testphase zuvor keine entsprechende Selektion erfolgt ist. Da die Entwicklung neuer Therapeutika kostenintensiv ist, handelt es sich dabei nicht nur um ein medizinisches, sondern auch um ein ökonomisches Problem.

Die amerikanische Zulassungseinrichtung für Medikamente (FDA) hat dieses Problem erkannt. Sie fordert mittlerweile, dass für ein spezifisches Therapeutikum gleichzeitig ein diagnostischer Nachweis für die Zielstruktur entwickelt wird. Der Nachweis der therapeutischen Zielgene im Tumorgewebe – die so genannte prädiktive Pathologie – und die Kontrolle ihres Verhaltens während der Therapie – das "molekulare Monitoring" – zählt zu den wichtigsten und anspruchvollsten Entwicklungsfeldern der modernen Pathologie. Diese Felder werden auch im Heidelberger Pathologischen Institut intensiv bearbeitet.


Prof. Dr. Peter Schirmacher  
Foto: privat
Prof. Dr. Peter Schirmacher leitet seit 2004 das Institut für Pathologie der Universität Heidelberg. Zuvor erforschte er chronische Lebererkrankungen und die molekularen Entstehungsmechanismen des Leberzellkrebses an den Instituten für Pathologie der Universitäten Mainz und Köln sowie am Albert Einstein College, New York. Er wurde unter anderem mit dem Boehringer Ingelheim-Preis (1997) ausgezeichnet.
Kontakt: peter.schirmacher@med.uni-heidelberg.de
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