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„Global Player“ – Erreger, die keine Grenzen kennen

Die Atemwegserkrankung SARS oder der Rinderwahnsinn BSE sind prominente Beispiele für „Zoonosen“ – Infektionen und Krankheiten, die zwischen Tier und Mensch übertragbar sind. Die Erreger von Zoonosen überwinden nicht nur spielend leicht Arten-, sondern auch Ländergrenzen und können rasch zu einer globalen Bedrohung werden. Madeleine Herren-Oesch vom Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften erläutert, dass Erreger, die sich an keinerlei Grenzen halten, nur dann umfassend erforscht werden können, wenn auch die Wissenschaft grenzüberschreitend arbeitet.

Im Jahr 1855 ordnete Rudolf Virchow, der große Anthropologe, Mediziner und Begründer der modernen Zellkunde, einen Teil der Infektionskrankheiten „contagiösen Thiergiften“ zu und bezeichnete sie erstmals als Zoonosen. Im 19. Jahrhundert war diese Definition auf nur einige wenige Krankheiten anwendbar; im 21. Jahrhundert wurden die Zoonosen derart bedeutend, dass die Weltgesundheitsorganisation vor zwei Jahren eine Kategorisierung vornehmen musste, um zwischen herkömmlichen Zoonosen und „emerging zoonoses“ zu unterscheiden.

Mit „emerging zoonoses“ sind jene Tierseuchen gemeint, die entweder neu auftreten oder sich plötzlich weit verbreiten und ein großes Gefährdungspotenzial für den Menschen aufweisen. Aus jüngster Zeit bekannt sind SARS und BSE; auch Bruzellose, Milzbrand, Tollwut oder Wurmerkrankungen zählen zu den „emerging zoonoses“. Früher galten Zoonosen als typisch für unterentwickelte Agrargesellschaften; heute verbreiten sie sich global und werden von einer verunsicherten Öffentlichkeit entsprechend aufmerksam verfolgt. An Erklärungsversuchen für die Verbreitung der Krankheiten fehlt es nicht. Umweltfaktoren werden genannt, eine hoch technisierte Nahrungsmittelproduktion, Ernährungsgewohnheiten oder kulturelle Faktoren, die das Verhältnis zwischen Mensch und Tier bestimmen. Aus einem ursprünglich interdisziplinären Konzept, das Krankheiten der Human- und Veterinärmedizin zuwies, ist ein Thema geworden, das in multidisziplinärer Kooperation angegangen werden muss. Ein besserer Schutz vor den „neuen“ Seuchen des 21. Jahrhunderts – so die in diesem Beitrag vertretene These – setzt nicht nur die Entwicklung neuer Disziplinen wie einer „Veterinary Public Health“ voraus, sondern bedarf auch wissenschaftlicher Kooperationen, in welche die Sozial- und Kulturwissenschaften einbezogen sind. Doch wie ist eine derartige Kooperation zwischen Natur- und Geisteswissenschaft realisierbar? Wie lässt sich die Zusammenarbeit von Tierärzten und Historikern praktisch umsetzen?

Eine erste, von der Universität Zürich finanzierte Studie (vgl. http://www.globalhist.net) zu diesen Fragen machte deutlich, dass eine veterinärmedizinische Dissertation in einem historischen Betreuungskonzept an Aussagekraft zu gewinnen vermag; ebenso kann eine historische Abschlussarbeit, die sich mit Zoonosen beschäftigt, dank veterinärmedizinischer Unterstützung eine bislang weitgehend unbeachtete Thematik Gewinn bringend diskutieren und ausleuchten. Die historische Betrachtung von Zoonosen kann beispielsweise verständlich machen, warum sich Experten und Öffentlichkeit häufig missverstehen. Das Missverständnis beginnt schon mit dem Begriff „Risiko“ – für Experten Kernbegriff der Prävention, für die Gesellschaft hin­gegen keine mathematische Formel, sondern ein komplexes Gefüge von Erinnerungen an Seuchenzüge vergangener Zeiten. Konfrontiert man das mathematische mit dem historischen Verständnis des Begriffes Risiko, können Grenzen der Wissensvermittlung aufgedeckt werden. Dies gilt umso mehr, als einer sich verdichtenden historischen Erinnerung heute eine Vielfalt von Expertenmeinungen gegenüber steht. Die zunehmende Verbreitung von Krankheiten dieser Art ist aber auch geeignet, Geschichte als „Global History“ vorzustellen: als geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Durchlässigkeit von Grenzen und dem kulturell geprägten Umgang beim Überwinden von Distanzen.

Was bedeutet Risiko?

Was das Fach Geschichte im konkreten Fall zu leisten vermag, soll im Folgenden exemplarisch am Begriff Risiko und seiner Bedeutung für die Prävention erläutert werden. Prävention gelingt nur dann, wenn man Risiken abschätzen kann. Die noch kürzlich heftig geführten Debatten über das Risiko von Menschen, sich mit dem Vogelgrippevirus anzustecken, zeigen eindringlich zweierlei: Die einen haben die Gefährdung entschieden unterschätzt, während andere dazu neigten, die Gefahren zu überschätzen. Dieses Dilemma ist nicht neu: Der heutige Umgang mit Zoonosen und das Einschätzen der mit ihnen einhergehenden Risiken hat wesentliche Gemeinsamkeit mit historischen Entwicklungsprozessen: Schon im 19. Jahrhundert kam es im Zusammenhang mit Zoonosen zu öffentlichen Auseinandersetzungen: Die Frage, ob Rindertuberkulose auf den Menschen übertragen werden könne, beschäftigte im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur die damaligen Spitzenmediziner um Robert Koch, sondern auch eine breite Öffentlichkeit.

Als schließlich klar war, dass die Krankheit tatsächlich vom Rind auf den Menschen übertragen werden kann, erlangte die gravierendste Volkskrankheit jener Zeit – die von Mensch zu Mensch übertragene Tuberkulose – zu einem Zeitpunkt einen zoonotischen Bezug, als außer einigen Verhaltensmaßregeln, Gesundheitsvorschriften und Sanatorien nichts gegen die Krankheit verfügbar war. Antibiotika, mit denen die Tuberkulose geheilt werden kann, standen in größerem Umfang erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Zu den Ratschlägen, die Experten in der Vor-Antibiotika-Zeit häufig erteilten, um die Tuberkulose zu verhindern oder die Gesundheit zumindest zu verbessern, zählte der vorsichtige Umgang mit Milch. Dabei galt den einen Milch als Seuchenherd, weshalb empfohlen wurde, die Milch unbedingt abzukochen oder zu pasteurisieren. Andere Experten hingegen waren überzeugt, dass nur Milch, die nicht abgekocht und nicht pasteurisiert ist, imstande ist, den Organismus bei der Abwehr der Krankheit zu unterstützen.

An diesem Streit beteiligte sich damals die gesamte Öffentlichkeit, die Konsumenten und Produzenten, staatliche Ämter und Interessenverbände sowie Befürworter und Gegner einer modernen Landwirtschaft. Die Gefährdung, die von Nahrungsmitteln ausging, und die zunehmende Beteiligung der Nahrungsmittelkonsumenten an einer ursprünglich nur unter Experten geführten Debatte wiesen den Weg zu einer Neuausrichtung der Tiermedizin, die sich immer mehr zu einer Umweltwissenschaft entwickelte und als „Veterinary Public Health“ ihren Schwerpunkt heute auf Präventionsmodelle legt.

Die Erweiterung des Präventionsgedankens und die immer größer werdende Anzahl an Experten hat mittlerweile eine Öffentlichkeit entstehen lassen, die zwischen Los Angeles und Zürich in „Antituberculosis leagues“ oder anderen, eigens gegründeten Verbänden über Übertragungswege und Prävention diskutiert. Die Schwierigkeit, Expertenwissen einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, ist dabei ebenso offensichtlich, wie die Unterschiede zwischen Überzeugungen, Absichten und Hoffnungen auf Heilmittel und Impfungen groß sind. Aus dieser komplexen Überlagerung unterschiedlicher Intentionen entstehen Debatten um Verhaltensmaßregeln, die mit der Frage nach den genauen Ansteckungswegen oft nur wenig zu tun haben.

Die Nahrungsmittelproduzenten wiederum nehmen Risiken anders als die Konsumenten wahr – nämlich als Dilemma, das sie einerseits dazu zwingt, immer mehr staatliche Kontrollen zu akzeptieren, ihnen aber anderseits die Möglichkeit bietet, Entschädigungen beanspruchen zu können, etwa in Form der im 19. Jahrhundert in ganz Europa aufkommenden Viehversicherungen. Ausgangspunkt des Versicherungsgedankens war damals nicht die Angst vor einer Gesundheitsgefährdung der Menschen, sondern die Bekämpfung einer Tierseuche, die nicht auf den Menschen übertragbar ist: die Rinderpest.

Sie kostete früher Millionen von Tieren das Leben und ruinierte Viehzüchter ganzer Regionen. Im 19. Jahrhundert erzwang die Verbreitung dieser Viehseuche neue Schutzmaßnahmen, weil der Eisenbahnverkehr das schnelle Ausbreiten begünstigte und weil die Vergrößerung der Wirtschaftsräume traditionelle Quarantänemaßnahmen unbrauchbar machte. Auch wenn die Rinderpest nicht auf Menschen übertragbar ist, entwickelte die Krankheit dennoch sozial ein zoonotisches Potenzial: Als die Seuche Ende des 19. Jahrhunderts auf Afrika übergriff, löschte sie die Existenzbasis eines Teils der einheimischen Bevölkerung aus und spielte eine wesentliche Rolle in einem der düstersten Kapitel deutscher Kolonialgeschichte, dem Aufstand der Herero in Südwestafrika.

Im dynamisch sich verdichtenden Geflecht von Maßnahmen, in der Gründung von Gesundheitsämtern, Viehversicherungen und Seuchengesetzgebungen, im Einsatz von seuchenpolizeilichen Maßnahmen als Instrumente der Wirtschaftspolitik, in der Verortung von Seuchenherden als imperialistische Festschreibung von Rückständigkeit, im Einbezug der expandierenden Experten für Hygiene und Demographie besetzten Veterinärmedizin und Humanmedizin unterschiedliche Positionen, die erst in jüngster Zeit wieder zu einer Annäherung geführt haben – mit der Folge allerdings, dass nun auch die Wahrnehmung von Risiken eine zusätzliche Komplexität erhalten hat. Interessant ist dabei festzustellen, dass auch bei aktuellen Beispielen wie der Vogelgrippe das kollektive Gedächtnis die Debatte in Bezug auf Seuchenzüge prägt. Die Vogelgrippe ist (noch?) keine Krankheit, die auf den Menschen seuchenartig übergegriffen hat, – doch die Diskussionen der informierten Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts haben mit der Spanischen Grippe bereits einen historischen Bezug von düsterer Dimension festgeschrieben. Während manche Experten auf das wesentlich größere Risiko verweisen, das vom Straßenverkehr ausgeht, haben Teile der Gesellschaft das historisch begründete Risiko als bedeutend eingestuft, forderte die Spanische Grippe doch mehr Opfer als der Erste Weltkrieg. Die Bedeutung eines historisch entwickelten Risikobegriffes erkannt zu haben, ist demnach eine wesentliche Voraussetzung, um Expertenwissen in einer auch für Laien verständlichen Form vermitteln zu können. Die noch neue Kooperation zwischen Geschichte und Veterinärmedizin ließ bislang erkennen, dass Risikoperzeption eine epistemologische Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und historischer Sozialwissenschaft darstellt. Nun geht es um die Frage, in welchem historischen Kontext die Bestimmung einer Krankheit als Zoonose das Risikoprofil verändert. Die bisherigen Versuche einer transdisziplinären Zusammenarbeit haben auch innerhalb des Faches Geschichte zu neuen Erkenntnissen geführt. Bei der Betrachtung der Zoonosen überschreitet man nicht nur die Artengrenzen; sie sind auch geeignet, grenzübergreifende Forschungsansätze auszutesten. Sie verbinden wissenschaftliche Grundlagenforschung in Epidemiologie und Biomedizin mit Gesundheitserziehung; sie sind ein Anliegen des Katastrophenschutzes und mit der Sicherung gesunder Nahrungsmittel und dem Zugang zu sauberem Wasser verbunden.

Zoonosen sind transdisziplinär ausgerichtet, der Kreis der Betroffenen umfasst neben den Experten auch Konsumenten und Produzenten. Das Thema ist daher geeignet, aus einem ungewohnten Blickwinkel vernetzte Strukturen zu thematisieren, das Wahrnehmen und politische Umsetzen kontroverser Expertenmeinungen in einer Öffentlichkeit nachzuzeichnen und die Konsequenzen eines historisch geprägten Risikobewusstseins sichtbar zu machen.

In dieser Breite sind Zoonosen eine Herausforderung für die geschichtswissenschaftliche Kompetenz. Sie erfordern methodische Vielfalt, disziplinäre Vielseitigkeit und verlangen zudem nach einer Kombination von Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Die historische Analyse von Zoonosen setzt nicht weniger voraus, als das Thema als globales Konzept zu denken und die Aussagekraft einer Globalgeschichte in dem für kul­turelle Differenzen hoch sensiblen Bereich der Beziehung zwischen Mensch und Tier grenzübergreifend zu diskutieren.

Die Erweiterung des historischen Blickes ist dabei keineswegs eine auf die Neuzeit beschränkte Folge globaler Märkte. Es handelt sich dabei um eine grundlegende Auseinandersetzung mit gesellschaftlich konzipierten Grenzen – und deren spielend leichtes Überwinden durch Viren, Bakterien und Prionen.

Autorin:
Prof. Dr. Madeleine Herren-Oesch,
Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften,
Historisches Seminar der Universität Heidelberg,
Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg.
Telefon: (0 62 21) 54 22 79,
E-Mail: m.herren@urz.uni-heidelberg.de
Seitenbearbeiter: Email
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