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Versorgungsengpass für Tumoren

Tumoren können nur dann zu einer tödlichen Bedrohung heranwachsen, wenn es ihnen gelingt, Anschluss an das Blutgefäßsystem zu finden. Dazu setzen die Tumorzellen Proteine frei, mit denen sie Blutgefäße anlocken, die sie fortan mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen. Schon lange suchen die Forscher nach Wirkstoffen, welche diese verhängnisvolle Neubildung von Blutgefäßen verhindern. Walter Nickel vom Biochemie-Zentrum der Universität Heidelberg erläutert eine neue Strategie, mit der Tumorzellen von der Versorgung abgeschnitten werden können und die sich als Basis für effizient wirkende Medikamente gegen Krebs erweisen könnte.

Ob Tumorzellen zu einer lebensgefährlichen Geschwulst heranwachsen, hängt maßgeblich vom Zugang der entarteten Zellen zum Blutgefäßsystem ab. Die veränderten Zellen selbst setzen dazu verschiedene Wachstumsfaktoren frei, die Blutgefäße anregen, mit der Tumorzellansammlung Kontakt aufzunehmen und sie mit Nährstoffen und Sauerstoff zu versorgen. Dieses Geschehen wird fachsprachlich als Angiogenese (Blutgefäßneubildung) bezeichnet.

Seit Jahren schon wird in den Labors weltweit nach Wirkstoffen gesucht, die diesen Prozess unterdrücken und die sich als Medikamente für die Krebstherapie eignen. Heute sind vom komplexen Prozess der Angiogenese sehr viele Einzelheiten bekannt: Die von den Tumorzellen abgesonderten Wachstumsfaktoren (proangiogene Faktoren) wirken auf Zellen (Endothelzellen) ein, welche Blutgefäße von innen auskleiden. Die Endothelzellen teilen sich daraufhin und die Basalmembran, der die Zellen aufsitzen, wird abgebaut. Dadurch wird der "Weg frei" für das Auswachsen eines neuen Gefäßes, das sich mit erstaunlich großer Präzision auf den Tumor zu bewegt. Glatte Muskelzellen stabilisieren das entstandene Gefäß; im Tumorgewebe angekommen, bildet sich eine Schleife, mit der sich das neue Gefäß an das Blutgefäßsystem anschließt. Auf diese Weise knüpft sich ein Blutgefäßnetz, welches das Tumorgewebe umspannt. Gut versorgt mit Nährstoffen und Sauerstoff können sich die entarteten Zellen nun weiterhin teilen. Schließlich dringen Tumorzellen in umgebende Gefäße ein, lassen sich vom Blut durch den Körper tragen, siedeln sich entfernt vom Ursprungsort an und wachsen zu einer Metastase, einer Tochtergeschwulst, heran, die gesundes Gewebe verdrängt.

Mittlerweile ist es gelungen, eine Vielzahl proangiogener Faktoren zu identifizieren. Klassische Beispiele sind "Vascular Endothelial Growth Factor", kurz VEGF, und "Fibroblast Growth Factor 2", kurz FGF-2. Ein Antikörper, der sich gegen VEGF richtet, wird bereits klinisch erprobt und gilt als aussichtsreicher Kandidat für ein neues Medikament gegen Krebs.

Auch FGF-2 gilt als exzellentes Ziel, an dem neue Wirkstoffe ansetzen können. FGF-2 ist der Prototyp einer Klasse von Proteinen, die man auch als "direct acting molecules" bezeichnet. Der Wachstumsfaktor stimuliert nahezu alle Teilschritte der Angiogenese; als Hauptwirkung hat man die Stimulation der Endothelzellteilung (Proliferation), ihre Organisation zu neuen Blutgefäßen (Assemblierung) und das zielgerichtete Auswachsen des Gefäßes (Migration) zum Tumorgewebe erkannt. Darüber hinaus verstärkt FGF-2 die Wirkung von VEGF, indem es dafür sorgt, dass sich auf der Oberfläche der Endothelzellen verstärkt Rezeptoren für den VEGF-Wachstumsfaktor bilden.

Alle bisherigen Studien belegen, dass FGF-2 eine Schlüsselrolle in der Angiogenese spielt, und es ist deshalb viel versprechend, nach Strategien zu suchen, mit deren Hilfe der Faktor ausgeschaltet werden kann. Unsere Arbeitsgruppe am Biochemie-Zentrum der Universität Heidelberg konzentriert sich auf die Frage, auf welchem molekularen Weg das Protein FGF-2 von Tumorzellen gebildet und freigesetzt wird.

Um diesen Weg nachvollziehen zu können, muss man zunächst betrachten, wie Zellen Proteine grundsätzlich bilden und sezernieren: Die Zellen aller Säugetiere besitzen in ihrem Innern ein Membransystem (Endomembransystem), das das Freisetzen von Proteinen vermittelt, die für den außerhalb der Zelle gelegenen (extrazellulären) Raum bestimmt sind. Zu diesen Proteinen zählen Wachstumsfaktoren ebenso wie Botenstoffe des Immunsystems, Antikörper oder Hormone. Die Trennung zwischen Proteinen, die von der Zelle nach außen abgegeben werden (sekretorische Proteine), und solchen, die für das Innere der Zelle bestimmt sind (zytoplasmatische Proteine), erfolgt in einem Membransystem, dem so genannten Endoplasmatischen Retikulum. Die sekretorischen Proteine werden hier mit einem Signalpeptid – einer Art Adresszettel – versehen, das sie für den extrazellulären Transport kennzeichnet. Dieser von dem Zellbiologen Günter Blobel entdeckte Transportweg wurde im Jahr 1999 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.

Im Innern des Endoplasmatischen Retikulums müssen sekretorische Proteine eine Qualitätskontrolle überstehen, während der ihre korrekte Struktur und Funktionalität überprüft wird. Nur diejenigen sekretorischen Proteine, die die Qualitätsprüfung bestehen, werden anschließend in kleine membranumhüllte Transportvesikel verpackt. Die Vesikel verlassen das Endoplasmatische Retikulum, um in ein anderes Membransystem der Zelle, den "Golgi-Apparat", einzuwandern. Dort erfahren die Proteine weitere Veränderungen, die für ihre korrekte Funktion wichtig sind. Wiederum als Frachtgut in Transportvesikeln gelangen die sekretorischen Proteine vom Golgi-Apparat zur Plasmamembran, der äußeren Umhüllung der Zelle. Die Membran der Transportvesikel verschmilzt nun mit der Plasmamembran. Daraufhin wird die Fracht des Transportvesikels – das sekretorische Protein – frei und wird in den extrazellulären Raum ausgeschüttet. Auf diese Weise gelangt zum Beispiel das Blutzucker senkende Proteinhormon Insulin vom Ort seiner Entstehung, den Ribosomen im Innern der "Beta-Zellen" der Bauchspeicheldrüse, in den Blutkreislauf.

Dieser "klassische" Mechanismus hat Alternativen. Dass es alternative Wege zum Freisetzen von Proteinen geben muss, vermuteten die Zellbiologen nach einer unerwarteten Entdeckung, die ihnen zunächst Rätsel aufgab. Das Protein Interleukin 1b, ein Botenstoff des Immunsystems, wird von bestimmten Immunzellen im Bedarfsfall ausgeschüttet – allerdings fehlt diesem Protein das Signalpeptid, das ihm den Weg weist. Bald wurde klar, dass es sich dabei keineswegs um eine exotische Spezialität des Interleukin-Proteins handelt. Es konnten im Gegenteil weitere Proteine identifiziert werden, die auch ohne Signalpeptid über einen von der Funktion des Endoplasmatischen Retikulums unabhängigen Weg die Zelle verlassen. Zu diesen Proteinen zählt FGF-2.

Warum es solche alternativen Wege zur Freisetzung von Proteinen gibt, ist noch unklar. Möglicherweise handelt es sich um eine besonders ursprüngliche Sekretionsform, die sich während der Evolution zu einem Zeitpunkt entwickelte als das Endomembransystem der Säugetierzellen noch nicht in der heutigen Form existierte.

Dass FGF-2 fähig ist, die Zelle über einen vom Endoplasmatischen Retikulum unabhängigen Weg zu verlassen, hat uns nicht nur aus Sicht der Grundlagenforschung fasziniert, sondern auch deshalb, weil sich daraus interessante medizinische Anwendungen ergeben. Denkbar ist es beispielsweise, Wirkstoffe zu entwickeln, welche die Sekretion eines bestimmten Faktors – in diesem Fall von FGF-2 – unterdrücken, ohne dass dabei das für viele Zellfunktionen unentbehrliche Endoplasmatische Retikulum "in Mitleidenschaft" gezogen wird. Solche Wirkstoffe (Inhibitoren) würden zudem einen der ersten Schritte blockieren, die neue Blutgefäße zur Versorgung von Tumoren entstehen lassen. Derart früh ansetzende Inhibitoren versprechen eine erheblich effizientere Wirkung als Inhibitoren, die erst später in den Prozess der Angiogenese eingreifen.

Wie aber sehen die molekularen Komponenten des alternativen Weges zur Sekretion von FGF-2 aus? Diese Frage ist der Schwerpunkt unseren Arbeiten. Um sie beantworten zu können, haben wir zunächst ein Modellsystem entwickelt, das eine quantitative und qualitative Analyse der FGF-2-Sekretion sowohl in lebenden Zellen (in vivo) als auch im Reagenzglas (in vitro) erlaubt. Um die Bildung (Expression) von FGF-2 unmittelbar sichtbar zu machen, fusionierten wir ein FGF-2-Molekül mit dem grün fluoreszierenden Protein (GFP) der Qualle Aequorea victoria. Das Freisetzen des "FGF-2-GFP-Moleküls" kann mit diesem experimentellen Ansatz bestimmt werden, weil die von der Zelle sezernierten Moleküle mit der Zelloberfläche assoziiert bleiben. Die grüne Fluoreszenz kann genutzt werden, um auf die Expressionsrate von FGF-2 rückzuschließen. Gleichzeitig lässt sich mithilfe markierter Antikörper, die sich gegen FGF-2 richten, die Anzahl von FGF-2-Molekülen auf der Oberfläche der Zelle bestimmen. Zur quantitativen Analyse nutzen wir die Flusszytometrie, eine Methode, mit der gleichzeitig bis zu sechs verschiedene Fluoreszenzarten auf der Basis von Einzelzellen exakt erfasst werden können. Qualitativ kann man das Experiment mit der so genannten konfokalen Laserscanmikroskopie analysieren.

Mit diesem experimentellen System sind uns drei wesentliche Entdeckungen gelungen. Wir konnten erstens nachweisen, dass FGF-2 direkt vom Zytoplasma über die Plasmamembran (Membrantranslokation) in den extrazellulären Raum gelangt. Im Gegensatz zum klassischen Sekretionsweg erfolgt der Transport also ohne Transportvesikel. Zweitens erfolgt die Freisetzung von FGF-2 im Gegensatz zu anderen zellulären Membrantranslokationsprozessen im nativen Zustand des Moleküls. Drittens konnten wir zeigen, dass die Freisetzung von FGF-2 von bestimmten Strukturen auf der Zelloberfläche abhängig ist, den so genannten Heparansulfat-Proteoglykanen (HSPGs). Sie fungieren als "Exporteure". Ob FGF-2 mit seinen Exporteuren interagieren kann, ist wiederum von seinem Faltungszustand abhängig. Dies könnte auf einen Mechanismus zur Qualitätskontrolle hindeuten: Ausschließlich korrekt gefaltete und mithin ausschließlich funktionstüchtige FGF-2-Moleküle werden von der Zelle in den Extrazellularraum transportiert.

Zurzeit ist es unser Ziel, diejenigen Moleküle zu identifizieren, die unmittelbar an der Membrantranslokation von FGF-2 beteiligt sind. Gemeinsam mit Wissenschaftlern des "European Molecular Biology Laboratory" (EMBL) in Heidelberg führen wir derzeit eine funktionelle Genomanalyse der FGF-2-Sekretion durch. Außerdem verwenden wir unser Modellsystem, um Wirkstoffsammlungen nach Substanzen zu durchsuchen, die imstande sind, das Freisetzen von FGF-2 zu unterbinden. Wenn erst der molekulare Mechanismus und die molekulare Zusammensetzung der FGF-2-Sekretionsmaschinerie vollständig aufgeklärt sind, sind die Voraussetzungen geschaffen, Wirkstoffe zu finden, die bereits die ersten Schritte der Angiogenese verhindern und es Tumorzellen unmöglich machen, neue Blutgefäße für ihr Überleben zu acquirieren.

Autor:
Prof. Dr. Walter Nickel
Biochemie-Zentrum der Universität Heidelberg (BZH)
Telefon (0 62 21) 54 54 25, E-Mail: walter.nickel@urz.uni-heidelberg.de

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