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Raymond Klibansky: Erinnerungen an ein Jahrhundert

Der Philosoph Raymond Klibansky zählt zu den größten Gelehrten, die aus der Ruprecht-Karls-Universität hervorgegangen sind. Wie kaum ein anderer hat er die Vorstellung vom "schwarzen Loch" zwischen Antike und Neuzeit korrigiert und legte Denktraditionen des Mittelalters frei, welche beide Epochen verbinden. Seine persönliche Lebensgeschichte ist exemplarisch für das Schicksal vieler jüdischer Wissenschaftler im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Am 5. August starb Raymond Klibansky, den die Heidelberger Universität im Jahr 1933 nicht schützte und der zuletzt in Kanada lebte; am 15. Oktober wäre er 100 Jahre alt geworden. Jens Halfwassen vom Philosophischen Seminar beschreibt Leben und Werk des großen Philosophen.

Der Philosoph Raymond Klibansky
Foto: M. Schwarz

Die Philosophie hatte von Anfang an ein besonderes Verhältnis zu ihrer Geschichte. Schon Aristoteles entwickelte seine eigene Philosophie in ständiger Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Platon und mit dessen Vorläufern, den Vorsokratikern. Dass wir von diesen überhaupt noch wissen, verdankt sich vor allem dem Interesse, das Aristoteles ihnen entgegenbrachte. Die europäische Philosophie entfaltet sich von da an in einem ständigen Dialog mit ihrer eigenen Geschichte. Gehaltvolle Philosophie entstand zu allen Zeiten stets in der denkenden Auseinandersetzung mit den großen Denkern der Vergangenheit; die beiden größten, Platon und Aristoteles, prägten alle späteren Epochen des Denkens, das Gleiche gilt von Plotin, dessen Neuplatonismus das Denken von Platon und Aristoteles vereinigt.

Auf dem Höhepunkt der neuzeitlichen Philosophie unternahm es der deutsche Idealismus, das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte bestimmend werden zu lassen für den Begriff, den die Philosophie von sich selbst hat: "Das Studium der Geschichte der Philosophie ist das Studium der Philosophie selbst", so formulierte Hegel dieses Programm. Seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sind denn auch der umfangreichste Text in Hegels Gesamtwerk. Fast zwei Drittel dieses Textes sind der antiken Philosophie gewidmet; Hegels Deutungen von Platon und Aristoteles, Plotin und Proklos sind von größter Eindringlichkeit. Um so auffälliger, dass Hegel über jene Epoche, die Antike und Neuzeit miteinander verbindet, in Siebenmeilenstiefeln hinwegeilte: In den mehr als 1000 Jahren des Mittelalters zwischen Proklos und Descartes fand Hegel keinen wesentlichen Fortschritt in der Selbsterfassung des Geistes. Dieses Bild vom Mittelalter war für lange Zeit prägend; es wirkt bis heute nach, bis hinein in Institutsstrukturen und Studienpläne. Trotzdem ist dieses Bild nachweisbar falsch und wird heute von keinem Kenner mehr verteidigt.

Am 5. August 2005 starb ein Gelehrter, der wie wenige andere die Vorstellung vom schwarzen Loch zwischen Antike und Neuzeit korrigiert hat: der Philosoph Raymond Klibansky, der am 15. Oktober 100 Jahre alt geworden wäre. Er arbeitete mit den großen Gelehrten der zwanziger Jahre wie Ernst Cassirer und Aby Warburg, Erwin Panofsky, Ernst Robert Curtius und Etienne Gilson zusammen, die den Beweis erbracht haben, dass es den großen Sprung von der Antike zur Neuzeit nicht gegeben hat. Sie legten die Traditionen frei, welche die Antike mit der Neuzeit verbinden, und konzentrierten sich dabei auf die vermeintlich leeren Jahrhunderte des Mittelalters. Dabei entdeckten sie nicht nur den Reichtum und die Vielfalt des mittelalterlichen Denkens. Es zeigte sich auch, dass dieses Denken das neuzeitliche Europa in einem Ausmaß geprägt hat, dass noch der Rückgriff auf die Antike nur aus den Denktraditionen des Mittelalters zu verstehen ist.

Im Kontext dieser Forschungen nimmt Raymond Klibansky eine herausragende Rolle ein. Er arbeitete maßgeblich an der Erschließung jener intellektuellen Tradition, die den deutschen Idealismus mit dem Neuplatonismus der Spätantike verbindet. Mehrfach gelangen ihm bedeutende Durchbrüche. Er bewies aus den Texten, dass die neuplatonische Philosophie während des gesamten Mittelalters kontinuierlich weitergewirkt hatte; der Titel seines Buches The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle Ages (zuerst 1939) formuliert ein Forschungsprogramm, das Klibanskys Lebenswerk bestimmte. Einige der wichtigsten Texte, die diese Kontinuität belegen, hat Klibansky entdeckt, andere hat er ediert und kommentiert. Im Platonismus der Spätantike und des Mittelalters entwickelten sich jene Denkmotive, die für die Philosophie des deutschen Idealismus, also für Kant und Fichte, Hegel und Schelling, grundlegend werden sollten: die Entdeckung der weltsetzenden und gegenstandsformenden Eigentätigkeit des Denkens, die Denkform der Dialektik, die alle Bestimmtheit des Einzelnen und Besonderen durch die entgrenzende Kraft der Negation transzendiert, der Gedanke eines Unendlichen, das die Fülle aller Gehalte einschließt, ohne von ihnen begrenzt zu werden, die Einheit der Gegensätze und nicht zuletzt die Untrennbarkeit der menschlichen Vernunft vom göttlichen Absoluten, dessen Selbstbeziehung die Selbstbestimmung unserer Vernunft einschließt. Die beiden wichtigsten Denker, die den Neuplatonismus in dieser Weise weiterentwickelten, waren Meister Eckhart und Nikolaus von Kues; beide haben Hegel nachweisbar beeinflusst, Eckhart direkt, Cusanus indirekt über Bruno und Hamann. Dass ihre Werke in historisch-kritischen Ausgaben wissenschaftlich erschlossen wurden, ist Klibanskys Initiative zu verdanken; an beiden Editionen hat er maßgeblich mitgewirkt.

Raymond Klibansky wurde 1905 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Frankfurt in Paris geboren, wo er seine frühe Kindheit verbrachte. Bei Ausbruch des Weltkriegs 1914 kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Klibansky besuchte die Odenwaldschule und bezog 1921 als Student die altehrwürdige Universität Heidelberg, die damals in höchster Blüte stand. Er traf dort auf Gelehrte wie Karl Jaspers und Alfred Weber, Friedrich Gundolf und Ernst Kantorowicz, deren intellektuelle Wirkung weit über das akademische Milieu hinausreichte; er verkehrte im Salon von Marianne Weber; zu seinen Studienfreunden gehörten die Söhne Thomas Manns, Klaus und Golo Mann, sowie der Indologe Heinrich Zimmer. Früh trat er in eine intensive Arbeitsbeziehung zu Ernst Cassirer und Aby Warburg; Warburgs Programm einer die Disziplinen übergreifenden allgemeinen Kulturwissenschaft und Cassirers Forschungen zur Vorgeschichte der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft in der Renaissance wurden wegweisend für Klibanskys eigene Forschung, die Philosophie und Theologie, Kunst- und Wissenschaftsgeschichte souverän verbindet.

Klibansky errang früh akademischen Ruhm: durch eine aufsehenerregende Entdeckung, über die er 1929 in dem Buch Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung berichtete. In der Bibliothek des Nikolaus von Kues fand er die lateinische Übersetzung eines der wichtigsten philosophischen Texte der Spätantike: des umfangreichen Kommentars, den der Neuplatoniker Proklos Platons Dialog Parmenides gewidmet hatte. Hegel wies auf diesen Kommentar hin; dass er im Mittelalter bekannt war und gewirkt hatte, wusste man nicht. Die Übersetzung aus dem 13. Jahrhundert bietet einen vollständigeren Text als die griechischen Handschriften, vor allem aber enthält sie den bis dahin verloren geglaubten Schluss des Kommentars. In diesem entwickelt Proklos Platons negative Dialektik des transzendenten Einen konsequent weiter bis zur Negation der Negation und zur Selbstaufhebung des Denkens, Motive von größter Bedeutung für die Geschichte der Dialektik. Die Handschrift hatte Cusanus gehört. Sie ist übersät mit unzähligen Randbemerkungen des Kardinals, die bezeugen, dass Nikolaus den Kommentar über Jahrzehnte hinweg immer wieder intensiv durchgearbeitet hat, und aus denen hervorgeht, wie sich seine eigene Philosophie des unendlichen Einen in der Aufnahme der Gedanken von Platon und Proklos ausgebildet hatte.

Damit war nicht nur eine wichtige Quelle für Cusanus entdeckt, sondern auch die geistesgeschichtliche Kontinuität zwischen Neuplatonismus und Idealismus durch ein höchst aufschlussreiches Bindeglied belegt. Kriegsbedingt konnte Klibansky den von ihm entdeckten Text erst 1953 publizieren; er erschien im Rahmen des von Klibansky begründeten Corpus Platonicum Medii Aevi, das in sieben voluminösen Bänden die lateinischen und arabischen Übersetzungen der Dialoge Platons und ihrer antiken Kommentare zugänglich machte. Sie belegen die permanente Präsenz des platonischen Denkens während des gesamten Mittelalters.

1931 war Klibansky habilitiert. Mehrere Jahre zuvor, als 22-jähriger Student, hatte er die Notwendigkeit, die Werke von Nikolaus von Kues und Meister Eckhart in wissenschaftlich zuverlässigen Editionen herauszugeben, so überzeugend begründet, dass die Heidelberger Akademie der Wissenschaften den Plan annahm. Schon 1932 erschien – herausgegeben von Raymond Klibansky und Ernst Hoffmann – der erste Band der Cusanus-Ausgabe, der die berühmte Schrift über das wissende Nichtwissen, De docta ignorantia, enthielt. 1934 und 1936 folgten die beiden ersten Bände der lateinischen Werke Eckharts mit einem lateinischen Kommentar von Klibansky. "In Hunderten von Einzelnachweisen zeigte Klibansky, wie Nikolaus von Kues in der Tradition wurzelte und zugleich über sie hinausging und in die frühe Neuzeit ausstrahlte ... Früh hat Klibansky den Zusammenhang zwischen Cusanus und Meister Eckhart erkannt. Kein einzelner hat für die Erkenntnis dieser beiden Philosophen mehr geleistet als er", so beschrieb Kurt Flasch Klibanskys Leistung.

Im Februar dieses Jahres feierte die Heidelberger Akademie die Vollendung der Cusanus-Ausgabe. Die Eckhart-Edition geriet in die Mühlen der Politik. Alfred Rosenberg hatte in seinem Mythos des Zwanzigsten Jahrhunderts Eckhart zum Vordenker eines mystisch wabernden Germanentums ausgerufen. Dessen lateinische Texte, die man erst 1886 wiederentdeckt hatte, beweisen indes Eckharts Abhängigkeit von dem jüdischen Philosophen Moses Maimonides, dessen Programm einer Vereinigung von Philosophie und Religion durch die konsequente philosophische Ausdeutung der Offenbarung Eckhart übernahm und auf das Christentum anwandte. Klibanskys Absicht, diese programmatisch wichtigen Texte zu edieren, wurde zum Politikum, widerlegten sie doch die nationalsozialistische Vereinnahmung des Pariser Magisters. Die schon begonnene Edition musste abgebrochen werden, weil eine Gruppe ideologisch gleichgeschalteter Wissenschaftler um den Theologen Erich Seeberg eine neue Eckhart-Ausgabe begann, die Seeberg mit rassistischer Hetze gegen Klibansky begleitete.

Klibansky hat die Gefährlichkeit Hitlers früh erkannt. Als der die Macht übernahm, wusste er, dass er nicht in Deutschland bleiben konnte: 1933 ging er ins Exil nach England. Seiner besonnenen Voraussicht ist es zu verdanken, dass die Bibliothek Warburg in letzter Minute vor der braunen Barbarei nach London gerettet werden konnte. Klibansky hat als Nachrichtenoffizier des britischen Geheimdienstes aktiv gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Die zugleich logische und historische Schulung des Philosophen, seine Erfahrung im deutenden Umgang mit Texten kamen ihm dabei zugute. Während des Krieges konnte er erneut einen kulturellen Schatz von europäischer Bedeutung vor dem Untergang bewahren: Klibansky verhinderte die wegen der Moselbrücke geplante Bombardierung von Bernkastel-Kues und rettete dadurch die einzigartige Bibliothek des Cusanus.

Nach Kriegsende setze er seine akademische Laufbahn fort: 1946 wurde er Professor an der McGill-Universität in Montreal, später dann zusätzlich Fellow am Wolfson College in Oxford. Er erhielt höchste akademische Ehren. Der Heidelberger Akademie gehörte er als Mitglied an; als emeritierter Professor zählte er zur Philosophischen Fakultät. 1986, im 600. Jahr ihres Bestehens, ernannte ihn die Universität Heidelberg zu ihrem Ehrensenator. 1994 erhielt er den Lessingpreis der Stadt Hamburg. 1995 wurde er Ehrendoktor der ältesten europäischen Universität in Bologna.

Nach der schrecklichen Erfahrung des Naziterrors wurde die Verbreitung des Toleranzgedankens, für den schon Cusanus eingetreten war, ein zentrales Anliegen für Klibansky. Der erfolgreiche Organisator wissenschaftlicher Großunternehmen wollte dem Gedanken der Toleranz und der Verständigung zwischen den Völkern und Kulturen auch ein institutionelles Forum verschaffen. Ein solches will das 1937 gegründete Internationale Institut für Philosophie sein, das Philosophen aus allen Kontinenten und Kulturen von Nordamerika bis Indien, China und Japan zusammenführt und dessen Präsident Klibansky für viele Jahre war. Während des Kalten Krieges setzte er sich für den Dialog mit den Intellektuellen des Ostblocks ein. Befürworter eines Appeasement war er jedoch nie. Mit Vehemenz trat er für den verfolgten Philosophen Jan Patocka ein, den Initiator der Charta 77, den die Prager Kommunisten 1977 ermordeten.

An der Erforschung der metaphysischen Tradition und ihrer Wirkungen arbeitete Klibansky permanent weiter. Sein Blick weitete sich dabei auf die ganze Breite der Kultur. Er bezog die Kunst und ihren Zusammenhang mit der Religion in seine Forschungen ein. Die Geschichte der Naturwissenschaften, besonders der Medizin, auch der Astrologie, wurde wichtig. Daraus entstand ein großes Buch, das den Historiker der Metaphysik bei einem breiten Lesepublikum weltweit bekannt machte: die umfassende Studie über Saturn und Melancholie, die Klibansky gemeinsam mit Erwin Panofsky und Fritz Saxl verfasste. Das Manuskript war 1937 abgeschlossen. Dann kam der Krieg, und es dauerte bis 1964, bis der Band endlich in englischer Sprache erscheinen konnte; die deutsche Ausgabe folgte erst 1990. 1998 blickte Klibansky im Gespräch mit seinem Schüler Georges Leroux auf sein bewegtes und intellektuell so reiches Leben zurück; die Erinnerungen an ein Jahrhundert sind 2001 auf deutsch erschienen.

Raymond Klibansky während einer Würdigung in der Universität Heidelberg zusammen mit Hans-Georg Gadamer und dem damaligen Rektor.
Raymond Klibansky während einer Würdigung in der Universität Heidelberg zusammen mit Hans-Georg Gadamer und dem damaligen Rektor.
Foto: M. Schwarz

Er hatte sich einst geschworen, Deutschland nie wieder zu betreten. Als er es dann doch tat, führte sein Weg nach Heidelberg. Dieser Stadt und ihrer Universität blieb Klibansky sein Leben lang innerlich verbunden. Er liebte die Tradition und Weltoffenheit, die sie in ihren besseren Zeiten stets ausgezeichnet hat. Nie hat er vergessen, dass die Ruperto Carola die Größe hatte, dem wegen seiner Bibelkritik verfemten Philosophen Spinoza einen Lehrstuhl anzubieten. Ihren Privatdozenten Klibansky schützte die Universität 1933 nicht. Als der Terror vorbei war, erinnerte sie sich seiner erst spät. In diesem Jahr gedenkt die Ruprecht-Karls-Universität eines der größten Gelehrten, die aus ihr hervorgegangen sind. Wir sind stolz, dass er zu uns gehörte.

Autor:
Prof. Dr. Jens Halfwassen
Philosophisches Seminar
Schulgasse 6, 69117 Heidelberg
Tel. (0 62 21) 54 24 83
E-Mail: j.halfwassen@urz.uni-heidelberg.de

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