Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Auf Umwegen zum Ziel

Erkrankungen des zentralen Nervensystems wie Parkinson, Epilepsie oder Tumoren des Gehirns lassen sich mit Medikamenten nur schwer behandeln. Die Blut-Hirn-Schranke, eine von der Natur eingerichtete Barriere, ist dabei ein grundsätzliches Problem: Sie schützt das zentrale Nervensystem entschieden vor allen körperfremden Substanzen. Gert Fricker vom Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie erläutert, mit welchen Tricks die Forscher arbeiten müssen, um die Blut-Hirn-Schranke vorübergehend zu überlisten. Die neuen Methoden sollen es erlauben, die Schutzbarriere gezielt zu umgehen und Erkrankungen des zentralen Nervensystems besser zu therapieren.

Weltweit ist zu beobachten, dass Erkrankungen des zentralen Nervensystems zunehmen. Dazu zählen die Parkinson'sche Krankheit, Epilepsie, viral bedingte Hirnerkrankungen, Infektionen oder Gehirntumoren. Sie sind nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine große Belastung, sondern auch für die öffentlichen Gesundheitssysteme und haben weitreichende sozioökonomische Konsequenzen. Wissenschaftler und Ärzte bemühen sich schon seit langem intensiv um neue therapeutische Strategien, mit denen man den Erkrankungen wirksam begegnen kann. Dabei gibt es jedoch ein grundsätzliches Problem: Ein wesentlicher Hinderungsgrund für eine erfolgreiche Behandlung ist häufig der begrenzte Durchtritt von Wirkstoffen durch die so genannte Blut-Hirn-Schranke: Mehr als 98 Prozent aller niedermolekularen und praktisch alle hochmolekularen Wirkstoffe, etwa gentechnisch hergestellte Proteine, als Medikamente eingesetzte monoklonale Antikörper oder Gentherapeutika, sind nicht in der Lage, diese Schutzbarriere zu durchqueren.

Die Blut-Hirn-Schranke wird vom Endothel der cerebralen Kapillaren, den feinsten Haargefäßen (Kapillaren) des Gehirns (cerebrum), gebildet. Beim Endothel handelt es sich um eine einlagige Zellschicht, die die Blutgefäße von innen wie eine Tapete auskleidet. Die cerebralen Kapillaren haben einen mittleren Abstand von 40 µm voneinander und ziehen mit einer erstaunlichen Länge von etwa 600 km durch unser Gehirn.

Bereits vor 120 Jahren beobachtete der deutsche Pharmakologe Paul Ehrlich, dass sich das Endothel der cerebralen Kapillaren deutlich von dem Endothel unterscheidet, welches die peripheren Kapillaren – also alle übrigen Blutgefäße des Körpers – auskleidet. Bei Untersuchungen an Tieren beobachtete Ehrlich im Jahr 1885, dass der in die Blutbahn injizierte Farbstoff "Evans Blau" Gehirngewebe nicht anzufärben vermochte. Injizierte man jedoch den Farbstoff direkt in den Liquor, die lymphähnliche Flüssigkeit des Gehirns, färbte sich auch das umliegende Hirngewebe. Offensichtlich verhinderte eine Art Barriere, dass der Farbstoff von "außen" in das Innere des Gehirns eintrat. Einige Jahre später gab man dieser Barriere den Namen Blut-Hirn-Schranke. Bald darauf fanden die Wissenschaftler heraus, dass die peripheren Kapillaren des Körpers auch anders aufgebaut sind als Hirnkapillaren: Das Endothel der peripheren Kapillaren ist fenestriert, es hat gleichsam Fenster; cerebrale Endothelzellen hingegen sitzen extrem dicht aneinander, sie bilden eine geschlossene, lückenlose Zellschicht und sind von einer Basalmembran umgeben, die so genannte Perizyten enthält, Zellen, denen eine Abwehrfunktion zugeschrieben wird. Die Oberfläche der Basalmembran ist mit so genannten Astrozyten besetzt, über deren Funktion jedoch erst wenig bekannt ist. Vermutlich sondern sie Wachstumsfaktoren ab, die für die Differenzierung, das Heranreifen, des Endothels bedeutend sind.

Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass nicht nur die Dichtigkeit der Endothelzellen darüber entscheidet, welche Substanzen hindurchgelassen werden oder nicht. Auch Transportproteine, die in der Membran (der äußeren Hülle) der Endothelzellen sitzen, spielen eine entscheidende Rolle. Von diesen Transportproteinen gibt es mehrere Gruppen: Bislang kennt man 15 Transportproteine, die in den Gehirnkapillaren oder im Gehirnendothel entdeckt worden sind und speziell Arzneistoffe transportieren.

Von herausragender Bedeutung für die Funktion der Blut-Hirn-Schranke ist ein spezielles Exportprotein, das "Multidrug-Resistenzprotein", auch "p-Glykoprotein" genannt. Es gehört zu Familie der so genannten ABC-Proteine (ATP-Binding-Cassette-Proteins), die ihre Substrate transportieren, wobei sie ATP (Adenosintriphosphat, die "Energiewährung" der Zelle) verbrauchen. Das p-Glykoprotein wurde Ende der 1970er Jahre in Tumorzellen entdeckt. Dort bewirkt es, dass die entarteten Zellen Medikamenten (Zytostatika) widerstehen, die sie eigentlich abtöten sollen. Sie werden "resistent", daher auch der Name Multidrug-Resistenzprotein (MDR). Das Protein wurde nicht nur in der Membran von Tumorzellen gefunden. Es kommt in großer Anzahl auch in der so genannten Bürstensaummembran der Niere vor, in der dem Darminneren zugewandten Membran der Darmepithelzellen, in der Gallenkapillarmembran von Leberzellen, im Throphoblasten der Plazenta – und eben auch in der Membran der Zellen der Blut-Hirn-Schranke. Kurzum überall dort, wo Gewebe eine exkretorische (ausscheidende) oder schützende Funktion haben.

Das p-Glykoprotein ist damit ein wesentlicher Eliminationsmechanismus unseres Körpers: In der Blut-Hirn-Schranke fängt es körperfremde und potenziell neurotoxische (Nervenzellen schädigende) Substanzen bereits in der Membran der Endothelzellen ab und transportiert sie unmittelbar in den Blutkreislauf zurück. Zu den Medikamenten, die von p-Glykoprotein eliminiert werden, gehören verschiedenste Opioide, Steroide, Antibiotika, Kalziumkanal-Blocker, Zytostatika, Immunsystem hemmende Substanzen, Medikamente gegen das Aids verursachende HI-Virus (Human Immunodeficiency Virus, HIV), Beta-Blocker und viele andere mehr (siehe Tabelle).

Wie bedeutend p-Glykoprotein ist, zeigt sich deutlich in Untersuchungen mit Mäusen, bei denen das Gen, das für die korrekte Konstruktion des Proteins zuständig ist, ausgeschaltet ("knock out") wurde. Wird diesen "Knock-out-Mäusen" beispielsweise Ivermectin verabreicht, ein weit verbreiteter Wirkstoff gegen Parasiten, zeigt sich eine starke Neurotoxizität (Nervenzellschaden); Kontrolltiere mit intaktem p-Glykoprotein zeigen hingegen keinerlei Auffälligkeiten. Von unmittelbarer therapeutischer Bedeutung ist p-Glykoprotein etwa bei der Behandlung von HIV-Erkrankungen. Die meisten HIV-Protease-Inhibitoren (Medikamente, die eingesetzt werden, um den Ausbruch der Immunschwäche Aids hinauszuzögern) sind Substrate von p-Glykoprotein und haben eine entsprechend schlechte Gehirngängigkeit. Befinden sich HI-Virusnester im Gehirn, sind sie einer medikamentösen Therapie nicht mehr zugänglich.

Eine Möglichkeit, die Durchlässigkeit von Geweben, die p-Glykoprotein enthalten (etwa Tumoren), zu erhöhen oder die Blut-Hirn-Schranke selbst durchlässiger zu machen, ist, p-Glykoprotein an seiner Exportfunktion zu hindern. Wie diese Hemmung erfolgen könnte, lässt sich anhand von Experimenten mit isolierten Blutgefäßen illustrieren: Wenn Kapillaren Substrate (z.B. Stoffe, die transportiert werden) angeboten werden, die zuvor mit Farbstoffen markiert wurden, so ist zu beobachten, dass diese schnell in das Innere der Gefäße ausgeschieden werden – also dorthin, wo das Blut strömt. Wird gleichzeitig ein Inhibitor, ein Hemmstoff, verabreicht, der die Exportpumpe ausschaltet, findet keine Ausscheidung mehr statt. Derartige Inhibitoren werden derzeit von Pharmafirmen entwickelt. Allerdings hat es trotz teilweise guter Erfolge noch keiner der Hemmstoffe zur Marktreife gebracht.

Ein mögliches Einsatzgebiet für derartige Inhibitoren ist das Glioblastom, ein lebensbedrohlicher Hirntumor, der mit den herkömmlichen Medikamenten kaum zu erreichen ist, weil ihn die Blut-Hirn-Schranke abschottet. Selbst sonst bewährte Zytostatika, beispielsweise Taxol – ebenfalls ein Substrat von p-Glykoprotein – haben wegen ihrer schlechten Gehirngängigkeit keinen therapeutischen Nutzen.

Untersuchungen mit Taxol haben unlängst Folgendes gezeigt: Zunächst wurden Mäusen menschliche Glioblastomzellen ins Gehirn übertragen, wo sie zu einem Tumor heranwuchsen. Verabreichte man gleichzeitig einen p-Glykoprotein-Hemmstoff (Valspodar), so reicherte sich Taxol im Gehirn an, und der Zustand der Tiere verbesserte sich deutlich. Die gleichzeitige Gabe von Taxol und Valspodar reduzierte die Größe des Tumors um 90 Prozent. Die Erklärung: Valspodar hemmt das p-Glykoprotein; nun kann Taxol die Blut-Hirn-Schranke überwinden und das Tumorgewebe erreichen.

P-Glycoprotein wird jedoch nicht exklusiv im gewünschten Zielorgan gehemmt, sondern auch in allen anderen Geweben, in denen dieses Exportprotein vorkommt. Dies ist einer der Gründe dafür, warum noch nach anderen Wegen gesucht werden muss, um die Blut-Hirn-Schranke gezielt zu überwinden. Ein neuer Ansatz ist, so genannte Nanopartikel oder Immunliposomen anzuwenden, die in die Blutbahn (intravenös) injiziert werden können.

Nanopartikel sind winzig kleine Polymere mit einem Durchmesser von 50 bis 200 nm. Bei den Liposomen handelt es sich um ebenso winzige Fettbläschen, die mit Wirkstoffen gefüllt werden können. Werden Liposomen verabreicht, ohne sie zuvor zu "präparieren", binden sie an bestimmte Blutbestandteile, die "Opsonine". Die Folge ist, dass die Liposomen vom so genannten Retikulo-Endothelialen-System (RES) in Leber, Milz, Lunge oder Knochenmark abgefangen werden, bevor sie ihren Zielort erreicht haben. Dies kann man verhindern, wenn man die Oberfläche der Liposomen verändert, "hydrophilisiert", beispielsweise durch das Anhängen von Polyethylenglykolketten (so genannte Stealth®-Liposomen). Der besondere Trick dabei: An die Enden dieser Polyethylenketten können Antikörper oder andere Strukturen gekoppelt werden, die fähig sind, bestimmte Orte gezielt aufzuspüren.

Wenn dieses "Drug Targeting" tatsächlich funktioniert, wird es möglich, einen Arzneistoff (fast) ausschließlich an eine bestimmte Stelle des Körpers zu bringen und dort eine konzentrierte Wirkung zu erreichen. Dieser Gedanke – eine der größten Herausforderungen der modernen Pharmakotherapie – ist nicht neu: Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Paul Ehrlich die Idee von den "Magic Bullets", den unfehlbaren Zauberkugeln. In den letzten Jahren haben molekularbiologische Erkenntnisse neue Dimensionen eröffnet, um die Wechselwirkungen von Liganden (etwa einem Medikament) und den Rezeptoren (den aufnehmenden Strukturen auf der Membran von Zellen) zu identifizieren und geeignete Signalmoleküle zu kreieren, etwa "Immunliposomen". An die Polyethylenketten dieser Liposomen ist ein zielsicher arbeitender Antikörper gekoppelt. Sie können eingesetzt werden, um einen Wirkstoff erfolgreich ins Gehirn zu transportieren. Die derart präparierten Liposomen umgehen das p-Glykoprotein und docken stattdessen an den so genannten Transferrinrezeptor der Endothelzellen in der Blut-Hirn-Schranke an. Ist das erfolgt, werden die Liposomen mitsamt ihrem Inhalt von den Kapillarendothelzellen aufgenommen, und der Wirkstoff gelangt in das Gehirn.

Ein weiterer Vorteil des Liposomentransports ist, dass an einen einzelnen Antikörper nur wenige Wirkstoffmoleküle gekoppelt werden können – ein einzelnes Liposom hingegen kann mit bis zu 30 000 Wirkstoffmolekülen beladen werden. Die zugrundeliegende Technik ist übrigens nicht nur einsetzbar, um die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und Wirkstoffe in das zentrale Nervensystem zu bringen. Sie ist auch zur Behandlung von Tumoren einsetzbar, die sich an anderer Stelle des Körpers befinden. Erste Studien mit Patienten haben bereits die Wirksamkeit des Liposomentransports bewiesen.

Ein anderer großer Vorteil dieses Verfahrens ist, dass das p-Glykoprotein umgangen wird. Es wird in seiner Funktion nicht beeinträchtigt, seine schützende Funktion in der Blut-Hirn-Schranke und an anderen Stellen des Körpers bleibt erhalten. Substanzen, die einmal über die Liposomen in die Zielzellen eingeschleust wurden, werden vom p-Glykoprotein jedenfalls kaum mehr aus dem Zellinnern hinausgepumpt.

Unser Verständnis darüber, wie die Blut-Hirn-Schranke funktioniert, ist im vergangenen Jahrzehnt stetig gewachsen. Neue Methoden, etwa zur Isolierung intakter Gefäßstücke zu Untersuchungszwecken, die Entwicklung von Zellkulturmodellen oder die Anwendung moderner molekularbiologischer Methoden erlauben weitere, völlig neue Einblicke in die zellulären und molekularen Mechanismen, die der Barrierefunktion der Blut-Hirn-Schranke zugrunde liegen. Vor allem die Entdeckung der aktiven Transportproteine und der zellbiologischen Prozesse, die zur Wirkstoffdurchlässigkeit beitragen, sind ein großer Fortschritt.

Derzeit arbeiten Forscher daran, die genetischen Prozesse zu verstehen, die die Transportproteine regulieren und steuern. Möglicherweise lassen sich diese Erkenntnisse nutzen, um die Blut-Hirn-Schranke vorübergehend, in bestimmten Zeitfenstern, zu öffnen. Die Weiterentwicklung der Vektorsysteme, etwa der Liposomentechnik, wird zu neuen Möglichkeiten des gezielten Drug-Targetings führen und die Wirkstoffverabreichung, nicht nur ins Gehirn, verbessern (siehe auch "Kurzberichte junger Forscher").

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Vorteile solch innovativer Darreichungssysteme generell darin bestehen, ansonsten nur schwer gehirngängige Arzneistoffe niedrig dosiert an ihren Wirkort zu bringen, dass anhaltend therapeutische Wirkstoffspiegel erreicht werden, weniger Nebenwirkungen zu befürchten sind und invasive Eingriffe reduziert werden können. Und letztlich bedeutet dies, dass den Patienten besser wirksame Therapien gegen bislang nur schwer behandelbare Leiden angeboten werden können.

Autor:
Prof. Dr. Gert Fricker
Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie
Im Neuenheimer Feld 366, 69120 Heidelberg
Telefon (06221) 54 83 36,
e-mail: gert.fricker@uni-hd.de

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang