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Huckepack zum Ziel

Es ist nicht einfach, einen Wirkstoff in der Zelle genau dort zu platzieren, wo man ihn haben möchte, damit er seinen therapeutischen Zweck erfüllt. Auf seinem Weg zum Ziel muss er viele Hürden in Form von Membranen nehmen, die es zu überwinden gilt. Nils Metzler-Nolte vom Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie erläutert anschaulich, wie die "Bioorganometallchemie" dazu beitragen kann, Verbindungen geschickt so zu präparieren, dass sie zuvor unüberwindliche Grenzen, etwa die Blut-Hirn-Schranke, passieren.

Ferrocen, das Molekül im Zentrum des Bildes

Ferrocen, das Molekül im Zentrum des Bildes, ist eine typische Organometallverbindung. Zusammen mit typischen Biomolekülen wie Proteinen (links) und der DNS (rechts) zählt es zu den Hauptakteuren der "Bioorganometallchemie".


Im Jahre 1964 erhielt Dorothy Crowfoot-Hodgkin den Nobelpreis für Chemie. Sie war nach Marie Curie (1911) und Irène Jolio-Curie (1935) die dritte Frau, die mit dem begehrten Preis ausgezeichnet wurde. Ein Meilenstein ihrer Arbeiten war die Strukturaufklärung einer Verbindung namens Cyanocobalamin – besser bekannt als Vitamin B12. Dieses Vitamin hat eine Besonderheit: Es enthält als einziges ein Metallatom, Kobalt, und es kommt in drei verschiedenen Formen vor: Im "Adenosylcobalamin" ist ein Adenosinmolekül – normalerweise ein Bestandteil des Erbmoleküls DNS – an das Kobaltatom gebunden; im "Methylcobalamin" sitzt an dieser Stelle eine Methylgruppe; das "richtige" Vitamin B12, das man in der Apotheke kaufen kann, enthält eine Cyanidgruppe. Dieses "Cyanocobalamin", dessen dreidimensionale Struktur von Crowfoot-Hodgkin im Jahre 1955 publiziert wurde, ist von allen drei Verbindungen die stabilste. Sie hat allerdings keine physiologische Bedeutung, sondern wird im Körper in eines der beiden anderen Cobalamine umgewandelt. Stoffe, die erst im Stoffwechsel ihre wirksame Form annehmen, nennt man "Prodrugs".

Alle Biomembranen sind gleich gebaut

Alle Biomembranen sind gleich gebaut: Sie bestehen aus einer Phospholipid-Doppelschicht, in die verschiedene Proteine eingebettet sind. An der Außenseite sind Kohlenhydrate angeheftet. Grafik : Herbert Thum, Viskon Design


Alle drei Cobalamine eint ein in der Natur nahezu einmaliges Phänomen: Direkt an das Metallatom Kobalt bindet ein Kohlenstoffatom. Solche Verbindungen werden als "metallorganisch" bezeichnet. Unter Chemikern gelten sie als besonders empfindlich gegenüber Luft und Wasser – und somit als untauglich für biologische Systeme. Das Cobalamin macht auch hier eine Ausnahme: Es ist die Stammverbindung der so genannten Bioorganometallchemie.

Auch die Blut-Hirn-Schranke ist eine Membran

Auch die Blut-Hirn-Schranke ist eine Membran, allerdings eine mit besonderen Eigenschaften: Sie schützt das Gehirn vor schädlichen Substanzen. Grafik : Herbert Thum, Viskon Design

Insgesamt enthält unser Körper nur drei Milligramm Kobalt als Zentralatom im Vitamin B12. Zum Vergleich: Von dem häufigsten Metall, Calcium, findet sich in unserem Körper ein gutes Kilogramm, vor allem in Knochen und Zähnen. Trotz der geringen Menge ist Kobalt in Form des Cobalamins für uns lebensnotwendig. Menschen, denen es an Cobalamin mangelt, entwickeln eine Blutmangelkrankheit (Anämie), die unbehandelt zum Tode führt.

In den letzten 15 Jahren haben sich Organometall- verbindungen in zunehmendem Maße einen Platz in medizinischen und pharmazeutischen Anwendungen erobert. Derzeit entwickelt werden beispielsweise Medikamente gegen Krebs oder Malaria. Sie enthalten als aktives Prinzip eine Organometallverbindung. Dabei sind metallhaltige Medikamente nicht neu: Elementares Quecksilber wurde bereits im Mittelalter als Abführmittel verwendet, und der bis in das letzte Jahrhundert zur Desinfektion offener Wunden verwendete "Höllenstein" besteht aus Silbernitrat. Das wohl bekannteste metallhaltige Medikament ist Cisplatin. Es enthält das Metall Platin und zählt zu den drei meistverwendeten zellteilungshemmenden Medikamenten zur Behandlung von Krebserkrankungen, den "Zytostatika".

Cisplatin hat erhebliche Nebenwirkungen, etwa Erbrechen und Haarausfall. Es ist deshalb immer wieder versucht worden, die platinhaltigen Medikamente zu verbessern, allerdings bislang mit nur bescheidenem Erfolg. Die Suche nach Zytostatika, die ein anderes Metall als Platin enthalten, ist daher eine aktuelle Forschungsrichtung der medizinischen anorganischen Chemie.

Eine viel versprechende Substanzklasse sind die so genannten Metallocene. Sie enthalten ein Metallatom, das zwischen zwei Ringe aus Kohlenstoffatomen "eingeklemmt" ist und – im Gegensatz zu Cisplatin – eine typische metallorganische Verbindung ist. Für viele Verbindungen aus der Substanzklasse der Metallocene ist bereits eine zellteilungshemmende Wirkung nachgewiesen worden, unter anderem auch für den Prototyp, das "Ferrocen" mit einem Eisenatom zwischen den Kohlenstoffringen. Mit dieser Verbindung beschäftigt sich unsere Arbeitsgruppe. Wir interessieren uns vor allem für zwei Fragen: Wie wirkt die Verbindung auf molekularer Ebene? Wie können ihre Eigenschaften verändert werden, um stärker wirksame Abkömmlinge zu erhalten?

In der wissenschaftlichen Literatur sind mindestens drei verschiedene Wirkweisen für Ferrocen beschrieben. Am häufigsten wird postuliert, dass durch Ferrocen hochreaktive Hydroxylradikale gebildet werden. Um sie zu bekämpfen, hält der Körper zwar spezielle Enzyme als eine Art "Radikalenpolizei" bereit. Wenn sie aber in unmittelbarer Nähe der DNS gebildet werden, reagieren sie sofort mit dem Erbmolekül und hindern die Krebszelle daran, sich zu vermehren. Aus anorganischer Sicht ist diese Hypothese jedoch wenig plausibel, scheint sie doch elementare physikalisch-chemische Eigenschaften des Ferrocens zu ignorieren.

Um diesen Widerspruch aufzuklären, entwickelten wir folgende Arbeitshypothese: Falls die Schädigung der DNS das zellteilungshemmende (zytostatische) Prinzip des Ferrocens ist, dann sollten Ferrocenverbindungen, die sich im Zellkern anreichern (in ihm befindet sich auch die DNS), besonders giftig sein. Verbindungen hingegen, die nicht in den Zellkern gelangen, sollten unwirksam sein. Wie aber gelingt es, eine Ferrocenverbindung entsprechend innerhalb der Zelle zu platzieren? Hier nutzen wir die neueren Erkenntnisse der Zellbiologie zum Transport von Proteinen durch Membranen: Jede Zelle eines höheren Lebewesens ist in mehrere Räume, so genannte Kompartimente, unterteilt. Umgrenzt werden sie von dünnen Häutchen, den Membranen. Während ihrer Biosynthese in der Zelle werden vielen Proteinen zusätzliche kurze Peptidketten "angeklebt" – etwa so, wie ein Paket einen Adressaufkleber erhält. Diese Peptidketten werden von speziellen Transportproteinen erkannt. Sie binden an die "Adressaufkleber" und helfen dabei, das Protein durch die Membranen der diversen Kompartimente hindurch bis zu ihrem jeweiligen Zielort zu schleusen.

Wird beispielsweise ein Enzym (Enzyme sind Proteine) im Zellkern benötigt, etwa um bei der Abschrift der DNS zu helfen, erhält es als Adressaufkleber ein Peptid namens "Nuclear Localization Sequence", kurz NLS. Dieses NLS-Peptid ist imstande, schnell und zuverlässig die ansonsten nur schwer zu durchdringende Membran des Zellkerns zu durchqueren. Dabei schleppt es das "Enzym-Paket" gleichsam Huckepack mit.

Solche Adressaufkleber-Peptide haben wir benutzt, um Organometallverbindungen wie Ferrocen gezielt im Innern der Zelle zu platzieren. Wenn man, so unsere Überlegung, ein NLS-Peptid mit Ferrocen belädt, so müsste sich Ferrocen selektiv im Zellkern anreichern lassen. Bevor wir unsere Idee jedoch umsetzen konnten, galt es zunächst, ein praktisches Problem zu lösen: die Herstellung eines NLS-Ferrocen-Konjugats. Die natürlichen Konjugate aus NLS und Enzym werden von der Synthesemaschinerie der Zelle hergestellt. Bei Ferrocen handelt es sich jedoch um ein künstliches Molekül, das im Labor mit dem NSL-Peptid verbunden werden muss. Dazu nutzten wir die so genannte Festphasen-Peptidsynthese, ein Verfahren, bei dem das gewünschte Peptid schrittweise – Aminosäure für Aminosäure – an einem festen Träger, dem "Harz", heranwächst. Der große Vorteil der Methode ist, dass im idealen Fall alleine das gewünschte Peptid am Harz entsteht und abgespalten werden kann. Für Organometallverbindungen ist diese Technik bislang nur selten angewandt worden. Dank langjähriger Erfahrung können wir jedoch fast jede Kombination von Peptiden mit Organometallverbindungen herstellen.

Für unsere zellbiologischen Experimente haben wir die NLS-Organometall-Konjugate zusätzlich mit einem leuchtenden Fluoreszenzfarbstoff markiert. So gelang es uns, den Weg, den die Konjugate in der Zelle nehmen, unter dem Mikroskop zu verfolgen. Auf diese Weise konnten wir nachweisen, dass manche unserer NLS-Organometall-Konjugate tatsächlich von den Zellen aufgenommen und bevorzugt im Zellkern angereichert werden.

Wie sich während der Experimente herausstellte, ist das NLS-Peptid zwar hilfreich, um Organometallverbindungen wie Ferrocen in den Zellkern zu bringen. Dennoch gelangen sie nicht ohne weiteres von außen in das Innere der Zelle: Ein bekanntes Phänomen ist, dass NLS-Konjugate zunächst in den Endosomen zwischengelagert werden – kleinen Bläschen im Innern der Zelle. Die Zelle stuft das NLS-Konjugat zunächst als fremd ein und hält es in den Endosomen gewissermaßen in Quarantäne. Wir haben kürzlich herausgefunden, dass die Quarantäne nicht allzu lange dauert: Die NLS-Organometallkonjugate werden bald als unbedenklich erkannt und zur Auslieferung in das Innere der Zelle frei gegeben.

Wir prüfen derzeit, ob sich diese besondere Eigenschaft für zellbiologische Experimente oder pharmazeutische Anwendungen verwerten lässt. Die meisten Arzneistoffe sind kleine Moleküle und gelangen durch einfache Diffusion durch die Zellmembran. Für größere Moleküle oder Moleküle mit unvorteilhaften Eigenschaften ist dies jedoch ein Problem. Die von uns entwickelte Methode zur gezielten Aufnahme von Organometallverbindungen ist ein einfacherer und eleganterer Weg, zumal die zugrundeliegende Chemie universell ist.

Und noch eine weitere Frage verfolgen wir derzeit intensiv: Wie kann es gelingen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden? Auch die Blut-Hirn-Schranke ist eine Membran, allerdings mit besonderen Eigenschaften. Ihre Aufgabe ist es, das hochempfindliche Gehirn vor schädlichen Substanzen zu schützen. Nur sehr wenigen Verbindungen dürfen diese strenge Grenzstation passieren. Die meisten werden zurückgewiesen und können nicht bis zum Gehirn vordringen. Dieser physiologisch sinnvolle Schutz kann sich nachteilig auswirken. Es gelangen beispielsweise nur sehr wenige Arzneistoffe durch die Blut-Hirn-Schranke, was die Behandlung von Krankheiten des Gehirns und des zentralen Nervensystems enorm erschwert. Ein Hirntumor ist beispielweise nicht grundsätzlich anders zu behandeln als irgendeine andere Krebserkrankung. Allerdings können die meisten Zytostatika, darunter auch Cisplatin, die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden und erreichen den Tumor nicht.

Grundsätzlich haben so genannte lipophile Substanzen verbesserte Chancen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Lipophil heißt: Die Substanzen lösen sich schlecht in Wasser – aber gut in Fetten. Unter den Metallverbindungen sind die Organometallverbindungen oft relativ lipophil, weil die Metalle zumeist in niedrigen Oxidationsstufen vorliegen und die kohlenstoffhaltigen Liganden eine hohe Lipophilie verursachen. Wenn man die Liganden des Metallatoms gezielt verändert und das Metall zudem geschickt auswählt, lässt sich die Lipophilie noch deutlich steigern. Der Chemiker spricht bei dieser Vorgehensweise von "Ligandendesign". Wir haben herausgefunden, dass Neuropeptide (körpereigene wasserlösliche Stoffe), die normalerweise nicht durch die Blut-Hirn-Schranke treten können, als Konjugate mit bestimmten Organometallverbindungen um mehrere Größenordnungen lipophiler werden. Unser Modellpeptid für diese Untersuchungen ist das Enkephalin, ein nur fünf Aminosäuren großes Eiweißmolekül, das an die Opiat-Rezeptoren von Zellen des zentralen Nervensystems bindet. Der Körper produziert Enkephaline in Stress-Situationen, etwa wenn Schmerzen unterdrückt oder die Ausdauer gesteigert werden müssen. Es ist uns gelungen, eine Vielzahl verschiedener Enkephalin-Organometallkonjugate herzustellen. Als wir deren Lipophilie bestimmten, zeigte sich, dass sie sich um mehrere Größenordnungen unterschied – genau, wie wir es auf Grund unseres vorangegangenen Ligandendesigns erwartet hatten. Gemeinsam mit Mitarbeitern der Arbeitsgruppe von Professor Gert Fricker von der Abteilung Pharmazeutische Technologie und Biopharmazie unseres Instituts untersuchen wir derzeit, inwieweit sich die von uns synthetisierten Organometallverbindungen als Carrier eignen, um Neuropeptide oder andere Wirkstoffe durch die Blut-Hirn-Schranke hindurchzuschleusen.

Wie diese Beispiele zeigen, hat die moderne Organometallchemie viele Facetten. Unsere Forschung kombiniert die präparative anorganische Chemie mit zellbiologischen Experimenten – und zeigt in dieser Kombination interessante medizinische Anwendungen, die sonst verborgen bleiben würden.

Autor:
Nils Metzler-Nolte ist Professor für Bioanorganische Chemie im Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg.
Adresse: Im Neuenheimer Feld 364, 69120 Heidelberg.
Telefon (0 62 21) 54 48 75,
e-mail: nils.metzler-nolte@urz.uni-heidelberg.de
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