Siegel der Universität Heidelberg
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Aus der Stiftung Universität Heidelberg

In der Jury, die die Aufgabe hat, die Preisträger für die Ruprecht-Karls-Preise und den Fritz-Grunebaum-Preis auszuwählen, taucht meiner Erinnerung nach ein Satz mit verlässlicher Regelmäßigkeit auf: "Wir haben aus den besten Qualifikationsarbeiten die allerbesten auszuwählen". Dieser Satz fällt immer dann, wenn einer der Juroren – was nicht selten der Fall ist – die Auffassung vertritt, es gebe unter den eingereichten Arbeiten noch andere, die eigentlich auch einen Preis verdienten. In solchen Situationen müssen wir uns daran erinnern, dass es unsere Aufgabe ist, die Gipfel der Exzellenz auszuzeichnen, die sich auf den Inseln der Exzellenz erheben.

Die Rede von "Gipfeln der Exzellenz" ist freilich missverständlich. Sie könnte den Eindruck erwecken, hier handle es sich um besonders "abgehobene" Formen der Forschung, fern unserer Lebenswelt. Dass es sich dabei um ein Missverständnis handeln würde, belegen gerade in diesem Jahr die Themen der zur Preisverleihung ausgewählten Arbeiten. Sie beziehen sich alle auf Phänomene, die wir aus unserer Lebenswelt kennen oder auf die wir in unserem alltäglichen Nachdenken stoßen. Das kann nicht in allen Fällen hochrangiger Wissenschaft so sein. Denn der wissenschaftliche Fortschritt lebt auch von Formen der Grundlagenforschung, deren Praxisrelevanz oft lange Zeit unerkennbar bleibt. Aber wenn beides zusammentrifft – die hochrangige Forschungsqualität und der unmittelbare lebenspraktische Bezug -, dann zeigt sich, in welchem Maße die Gesellschaft von den wissenschaftlichen Leistungen der Universität profitiert.

 

In diesem Sinne möchte ich zunächst die fünf Arbeiten vorstellen, die für den Ruprecht-Karls-Preis 2003 ausgewählt wurden:

Der "Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal" widmet sich die von Prof. Borchmeyer betreute Dissertation von Dr. Heike Grundmann. Sie leistet einen Beitrag zum Verständnis literarischer Erinnerungskultur, indem sie die subtilen Beobachtungen des österreichischen Dichters zum Phänomen des Erinnerns behutsam erhebt und zu gleichzeitigen oder späteren Theorien, wie denen von Edmund Husserl, Sigmund Freud oder Jacques Derrida in Beziehung setzt. Dabei lässt sich der spezifische Beitrag, den von Hofmannsthal zu diesem Thema geleistet hat, gut veranschaulichen in der von ihm selbst gebrauchten Metapher vom Leben als einem Buch. Hofmannsthal versteht dieses Lebensbuch wie ein Palimpsest, also wie eine alte Handschrift, die abgeschabt und wieder überschrieben wird, um neue Botschaften festzuhalten. So erweist sich die Hermeneutik des Erinnerns einerseits als eine archäologische Freilegung der vergessenen und verdrängten Anteile aus der Geschichte des Subjekts, andererseits aber auch als Entdeckung überindividueller kultureller Traditionen, die in unserem Bewusstsein wie in einem Traum redigiert und komponiert werden. Hugo von Hofmannsthal schrieb einmal: "Die Geste unserer Zeit ist der Mensch mit einem Buch in der Hand". Ach, wenn das doch auch heute noch gälte, möchte man wehmütig hinzufügen und damit der Hoffnung Ausdruck geben, dass die Literaturwissenschaft durch solche Arbeiten dazu beiträgt, die Kultur des Erinnerns durch eine Kultur des Lesens zu beleben und zu fördern.

In einen ganz anderen Bereich führt uns die von Prof. Bette betreute Dissertation von Dr. Peter Dewald über "Baseball als heiliges Symbol". Baseball ist ein US-amerikanischer Nationalsport, dessen Regeln, vor allem aber dessen Faszination sich uns Europäern nicht auf Anhieb erschließt. Peter Dewald zeigt, welche Bemühungen es schon im 19. Jahrhundert gab, dieses Spiel als ein getreues Abbild der amerikanischen Demokratie, seiner Fortschrittsorientierung, Lebendigkeit und Leistungsbereitschaft zu preisen. Eine solche Sportart als "heiliges Symbol" zu kennzeichnen und zu analysieren ist im säkularisierten europäischen Kontext dazu angetan, ein Missverständnis auszulösen, für das freilich der Autor dieser Arbeit nicht die Verantwortung trägt. Man könnte meinen, Baseball sei so etwas wie Religionsersatz. Aber das Gegenteil der Fall ist: Diese Sportart ersetzt nicht die tief verwurzelte amerikanische Religiosität, sondern hat an ihr Anteil. Das Scharnier, durch das dieser Zusammenhang hergestellt wird, entdeckt Herr Dewald in den puritanischen Tugenden, die gerade im Baseball-Spiel zum Ausdruck kommen. So erschließt diese Arbeit nicht nur einen neuen, phänomengerechten Zugang zu einer uns relativ fremden Sportart und zu ihrem geschichtlichen Hintergrund, sondern sie leistet zugleich einen Beitrag zum Verständnis US-amerikanischer Mentalität.

Dr. Claus Wendt leistet mit seiner von Prof. Kohl betreuten soziologischen Dissertation über "Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung?" einen Beitrag zu einer hochaktuellen Thematik. Dazu hat er zwei unterschiedliche Typen von Gesundheitssystemen untersucht: einerseits den Typ des überwiegend durch Beiträge finanzierten gesetzlichen Krankenversicherungssystems (in Deutschland und Österreich), andererseits den Typus des steuerfinanzierten nationalen Gesundheitsversorgungssystems (in Dänemark und Großbritannien). Dass Claus Wendt für jeden dieser beiden Systemtypen zwei Beispiele auswählt und präsentiert, hat den Sinn, dass damit differenzierte Varianten in den Blick kommen: eine eher dezentrale und eine eher zentralisierte Organisationsstruktur. Anhand einer Vielzahl von Kriterien unternimmt Claus Wendt es, diese vier verschiedenen Gesundheitssysteme zu analysieren und miteinander zu vergleichen. Dabei verdient es besondere Beachtung, dass nicht nur so genannte "harte", gut messbare Faktoren in die Untersuchung einbezogen werden, sondern auch "weichere" wie etwa das Solidaritätsprinzip, das Vertrauen und die Zufriedenheit der betroffenen Bürger. Dabei schneidet Dänemark besonders gut ab. Diese Arbeit kann helfen, die bei uns anstehenden Entscheidungen auf noch besserer empirischer und argumentativer Grundlage zu fällen. Und das ist ja eine der Funktionen, die wissenschaftliche Arbeit für Politik und Gesellschaft leisten soll.

Die von Prof. Siebert betreute Dissertation von Dr. Andre Weiß trägt den Titel: "Synthesen, Strukturen und Reaktivität von Imidazolyl- und Imidazolboranen sowie von Diboryl- und Diboranyl(4)porphyrinen". Dem Nicht-Naturwissenschaftler erschließt sich erst auf den zweiten Blick, um was für ein faszinierendes, praxisrelevantes und therapeutisch innovatives Projekt es sich hier handelt. Andre Weiß beschäftigt sich nämlich mit neuartigen Molekülen, deren Gerüst in abgewandelter Form sowohl in unserem Blutfarbstoff als auch im Chlorophyll der Blätter unserer Bäume sowie schließlich im Vitamin B12 als Baustein enthalten ist. Er hat diese Moleküle durch den Einbau von Boratomen so modifiziert, dass sich dadurch Perspektiven in Richtung auf die Entwicklung neuer Materialien und Werkstoffe auftun. Ebenso eröffnet sich die Möglichkeit, bei der Bestrahlung von Tumoren den Einfang der Neutronen, die das kranke Gewebe zerstören, effizienter zu machen; denn Bor ist im Vergleich zu Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff wesentlich besser in der Lage, langsame Neutronen einzufangen. Die kleinen Molekülbausteine, die Andre Weiß entwickelt hat, sind aber auch in sich interessant: Von ihnen her lassen sich grundlegende Fragen zur Bindungstheorie und Elektronenverteilung in borhaltigen Porphyringerüsten mathematisch exakt beantworten.

Aus dem Bereich der theoretischen Physik stammt die von Prof. Wetterich betreute Arbeit von Dr. Michael Doran. Sie trägt den Titel: "Theory and Phenomenology of Quintessence". Der Begriff Quintessenz weckt Assoziationen an alchimistische Vorstellungen oder an die alte Idee vom Äther als einem fünften Element. Hier jedoch bezeichnet Quintessenz kein Element und keine Substanz, sondern eine Energie. Den besten Zugang zum Thema dieser Arbeit bietet wohl die Erinnerung an die im Jahr 1929 durch Hubble entdeckte Rotverschiebung der Spektren ferner Galaxien, durch die eine Expansion des Universums belegt ist. Dieser so genannte Hubble-Effekt ist eine der wesentlichen Begründungen für die Urknall-Theorie. Auf Grund dieser Theorie müsste man eigentlich erwarten, dass sich die Expansion des Universums allmählich verlangsamt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass sich diese Expansion sogar beschleunigt. Um dieses Phänomen zu erklären, wurde die Existenz einer bis dahin unbekannten "dunklen Energie" postuliert, die aber in Laborexperimenten bisher nicht nachweisbar ist. Zur Beschreibung dieser "dunklen Energie" wird der Begriff "Quintessenz" verwendet. Michael Doran hat in seiner Arbeit Kriterien entwickelt, um die Vorhersagen aus verschiedenen Modellen der Quintessenz im Blick auf die Schwankungen der kosmischen Hintergrundstrahlung vergleichen zu können, und konnte dabei einige dieser Theorien ausschließen. Weil diese technisch aufwändige Arbeit das Gesamtverständnis unseres Universums betrifft, ist sie von großer Bedeutung.

Der Fritz-Grunebaum-Preis wird in diesem Jahr verliehen an Dr. Nicole Sommerschuh für ihre von Magnifizenz Hommelhoff betreute Dissertation über die Regelungen der Berufshaftung und der Berufsaufsicht bei Wirtschaftsprüfern im Vergleich mit Rechtsanwälten und Notaren. Diese drei Berufsgruppen sind dadurch untereinander verbunden, dass auf ihre Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit die einzelnen Bürger, aber auch ganze Wirtschaftsunternehmen angewiesen sind. Im Blick auf die Berufsgruppen der Rechtsanwälte und Notare, mit denen wir als normale Bürger eher zu tun haben, kommt die Arbeit zu dem beruhigenden Ergebnis, dass die Berufsaufsicht und die Berufshaftung grundsätzlich gegeben ist und insofern weder zu Besorgnissen noch zu Veränderungen Anlass besteht. Anders bei den Wirtschaftsprüfern. Zwar ist auch hier die Berufshaftung gegenüber dem jeweils zu prüfenden Unternehmen gegeben, sie fehlt jedoch völlig im Blick auf Dritte, beispielsweise Gläubiger oder Anteilseigner. Auch die Berufsaufsicht bei Wirtschaftsprüfern ist nach Ansicht von Nicole Sommerschuh zur Zeit nur unzureichend gewährleistet. Sie hält es deshalb für geboten, dass es hier zu veränderten Einstellungen der Aufsichtsgremien und Gerichte und auch zu neuen gesetzlichen Regelungen kommen müsse. Der Fritz-Grunebaum-Preis wird damit an eine Arbeit vergeben, die in konkreter Form Vorschläge für gesetzliche Veränderungen im Interesse potenzieller Schadensopfer unterbreitet.

Prof. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg

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