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Unverfasstes Italien

Ein vielversprechender Ansatz, die Dynamik der italienischen Novellistik der Romantik zu verstehen, geht von einer strukturellen Kopplung von Einzeltext und dem Geschehen aus, das alle sozialen Systeme des Jahrhunderts und somit auch die Literatur geprägt hat: die Bewegung der nationalen Einigung, das Risorgimento. Christof Weiand vom Romanischen Seminar stellt ein literaranalytisches Projekt vor, das in paradigmatischen Einzelanalysen erstmals die Interaktion von Novelle und Zeitdiagnose untersucht. Das Ziel ist es, die neue literarisch fundierte Semantik des nationalen Selbstbewusstseins in ihrer Entstehung zu beobachten. Der Versuch, den Leser für das Werden des staatlich verfassten Italiens zu sensibilisieren, wird an einer Novelle von Cesare Cantù exemplifiziert. Sie trägt den Titel La Valanga ("Die Lawine") und wurde 1836 geschrieben, als Italien von sich noch in romantischen Bildern träumte.

 Cesare Cantù, der Verfasser der Novelle

Cesare Cantù, der Verfasser der Novelle "La Valanga" ("Die Lawine")

Der Prozess der Kanonisierung der italienischen Novelle besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Primo Ottocento) ist im interpretatorischen Rekurs auf die Texte selbst noch nicht beschrieben worden. Weder in noch außerhalb Italiens. Das hat mehrere Gründe. Zum einen dauert es eine ganze Weile bis die Novelle lernt, sich selbst im Wettbewerb der Gattungen zu behaupten. Besonders der historische Roman (zum Beispiel Manzoni) tritt als mächtiger Rivale auf. Die Anfänge der Novellistik um 1830 sind außerdem literarästhetisch recht bescheiden und interpretatorisch – auf den ersten Blick – unergiebig und wenig attraktiv. Zum anderen steht die romantische Novelle erst im Begriff, ihr großes Thema zu finden: Italien und das Italienbewusstsein im Prozess der nationalen Einigung. Diesen Zusammenhang hatte die Mailänder Aufklärung bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts thematisch gemacht. So veröffentlicht beispielsweise Gian Rinaldo Carli im Jahr 1765 in dem Aufsehen erregenden Feuilleton-Periodikum Il Caffè ("Das Kaffeehaus") einen Beitrag mit dem Titel Della patria degli Italiani ("Über das Vaterland der Italiener"). Der Begriff der patria ("Vaterland") soll als nationale Zielvorstellung dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt werden. Und die Wirkung des Patria-Diskurses lässt sich tatsächlich in der Novellistik der italienischen Romantik und der Folgezeit nachlesen.

Die umfangreiche Sammlung italienischer Novellen des Ottocento, die Gilberto Finzi im Mailänder Garzanti-Verlag herausgegeben hat, ordnet die Texte um das Stichwort der Einigung ("unificazione") des risorgimentalen Italiens. Der verborgene Text vieler Novellen ist demnach im Sinne dieser epochalen Entwicklung lesbar. Das soll die nur sieben Taschenbuchseiten lange Erzählung Cesare Cantùs La Valanga ("Die Lawine") illustrieren.

Ein Bergdorf in extremer geographischer Lage der Piemonteser Seealpen ist unter einer Lawine begraben worden. Die gewaltigen Schneemassen verzögern viele Tage lang jede Hilfe. Erst das mit dem Frühling einsetzende Tauwetter bringt die Wende. Der Ort oder besser das, was von ihm übrig geblieben ist, wird endlich freigelegt. Und siehe: In einem stark zerstörten Stall finden sich Überlebende. Zwei Frauen, zwei Kinder. Sie haben siebenunddreißig Tage des Eingeschlossenseins überlebt. Ein gewiss unerhörtes Ereignis, das der Erzähler melodramatisch effektvoll stilisiert. Vieles, das Grauen erregen könnte, bleibt dabei ästhetisch absichtsvoll der Phantasie des Lesers überlassen.

Erzählt wird die Katastrophe in wechselnder Perspektivierung einmal aus der Sicht der Männer, die von außen Hilfe bringen wollen und dabei scheitern. Dann aus der Sicht der Frauen, die lebendig begraben sind. Die Rollenverteilung ist also stereotyp angelegt und scheint dem antithetischen Schema von maskuliner Aktivität und femininer Passivität folgen zu wollen. Es kommt aber anders als gedacht. Cantù beziehungsweise sein Erzähler wartet immer wieder mit Überraschungen auf. Die eigentlichen Helden der Geschichte sind nämlich die Frauen. Sie organisieren das Überleben in aussichtsloser Lage.

Im Stall sind Tiere miteingeschlossen: ein paar Hühner, zwei Ziegen, ein Lasttier. Dieses Rest-Ensemble bukolischer Tradition funktionalisiert Cantù neu: Die Ziegen geben Milch. Das ist die karge Nahrung, über die die Eingeschlossenen verfügen können. Die Hühner sind eine Weile lebende Uhren und rhythmisieren das vom Kalender abgeschnittene Leben ohne Licht.

Sinnbild der Symbiose von Mensch und Tier ist folgende Szene. Um an unerreichbar hoch gelagertes Futter heranzukommen, lernen die Ziegen, auf den Schultern der Frauen balancierend, sich selbst zu versorgen. Märchenhaftes hält an solchen Stellen Einzug in das Gefüge der Novelle. Der Ausflug in den Raum des Märchens soll das romantische Träumen des Lesers beflügeln. Dennoch verflacht die Novelle nicht zum Lehrstück für Kinder oder seltsam kindliche Gemüter.

 

Denn im Restidyll von Geburt und Überleben in Stall ("la stalla") und Krippe ("la mangiatoia") ist der Tod mit präsent. Zicklein sind tot zur Welt gekommen, eines der Kinder verstirbt, viele Dorfbewohner haben ihr Leben verloren. Die düstere Stimmung prägt folglich auch die Metaphern.

So verwandeln sich die Schneemassen in der Imagination des Erzählers zu einem Leichentuch ("lenzuolo funerale"), die Stille des unter Schneemassen verschütteten Raums ist die eines Grabes ("silenzio di sepolcro"). Gerettet werden schließlich – und hier vollendet sich der Bildkreis in der freudigsten Überraschung – "le tre sepolte", die drei Begrabenen. Inszeniert La Valanga folglich die Naturkatastrophe als Auftakt zu einer modernen Auferstehungsgeschichte italo-romantischer Prägung?

Der Text ist wirkungsvoll mit topischen Versatzstücken christlicher Symbolik ausgestattet. Das Unglück ereignet sich am 19. März. Das ist der Patronatstag des Heiligen Josef. Giuseppe (Josef) heißt in der Tat der Familienvater, Anna Maria seine Frau, Roccia – Fels – der ganze Clan.

Der Leser darf vermuten (und das gleichsam bibel-ikonographisch eingeleitete Datumskalkül geht auf), dass der wundersame Ausgang der Geschichte nach siebenunddreißig Tagen mit dem Ostersonntag koinzidieren soll. Die Rückkehr in das Leben und der Auferstehungsmythos werden narrativ enggeführt. Darüber hinaus gibt es Gebete, Gelübde, prophetische Träume, die glückliche Rettung verheißen und den erfahrenen Leser an Parallelstellen in Manzonis Promessi Sposi ("Die Verlobten"), Italiens risorgimentaler Roman par excellence, erinnern.

Cantù setzt indes nicht auf Nachahmung. Das romantisch-katholische Substrat seines Textes hat eine Funktion zu erfüllen, die über die Strategien der Ikonographie hinausgehen. Und das hat etwas mit profanen Jahreszahlen zu tun. Das Lawinenunglück ist nämlich auf den Winter 1755-56 datiert. Wir erinnern uns: Cantùs Novelle wird 1836 geschrieben. Das erzählte Ereignis der Lawine ist zu diesem Zeitpunkt bereits achtzig Jahre her. Was bedeutet dieser Blick in die Vergangenheit? Geht es um Geschichten von gestern? Gewiss nicht. Denn das Datum scheint auf eine legendäre Katastrophe verweisen zu sollen: das Erdbeben in Lissabon vom 1. November 1755. Dieses schreckliche Ereignis hat das Denken Europas, besonders innerhalb der französischen Aufklärung, sofort beschäftigt. Mit dem Stichwort Lissabon verbindet Voltaire in seinem Gedicht über das Desaster ("Poème sur le désastre de Lisbonne") das Problem der Theodizee. Das ist die Frage, ob Gott selbst als Ursprung auch des Bösen zu denken ist. Ob sich auch Cantù mit dieser Frage beschäftigt?

Gewiss nicht. Er distanziert sich von aufgeklärten französischen Positionen. Diese sind für ihn wie für viele seiner Schriftstellerkollegen in mancherlei Hinsicht fremd und bedrohlich für das neu zu denkende Italien. Er dezentriert folglich das ideologisch aufgeladene Theodizeeproblem. Aus der Frage nach letzten Gründen und Metaphysik wird bei ihm die nach Solidarität und Selbsthilfe. Was jemand glaubt oder wie Gott die Hand im Spiel haben mag, das soll jeder für sich selbst entscheiden. So heißt es im Text ganz lapidar: "Lasciamo stare quel che è disopra ai tetti." ("Lassen wir das, was über den Dächern ist, auf sich beruhen.")

Allerdings: Nur in der verantwortungsvollen Symbiose von Mensch und Natur – dazu gehören in der Novelle auch die Tiere ("capre salvatrici" – rettende Ziegen) – hat der Einzelne die Chance, in extremer Lage zu überleben. Zu dieser Alltags-Pragmatik gehört auch die Ethik des Nicht-Verzweifelns ("non disperarsi"), die in der Novelle explizit mitgeführt wird. Und der Optimismus, den Cantù verbreitet, ist nicht ironisch gemeint. Er gründet im Vertrauen auf menschliche Solidarität. Alle stehen für Alle ein.

Die Bewohner der benachbarten Bergdörfer eilen herbei, um mit den Betroffenen zu retten, was zu retten ist. Sie fürchten sich auch nicht davor, statt Lebender nur noch Tote zu bergen. Diese Solidarität wiederum fördert die Zugehörigkeit zu dem Identifikationsraum, den die Novelle patria nennt. Die Katastrophe wird die Alpigiani ("Alpenbewohner") nämlich nicht dazu bewegen, ihre patria zu verlassen. So nennen sie, beziehungsweise der Erzähler den Ort, wo neben den von der Lawine zerstörten, bald neue Häuser stehen. Die Pointe der Novelle läuft auf diesen einen Begriff zu: Patria. Und diesen Begriff semantisiert die Novelle doppelt: als Heimat und – in risorgimentaler Erweiterung – als Heimatland, als neues Italien.

Einerseits also ist Cantùs Novelle ein Text italo-romantischer, ja katholisch-liberaler Gegenaufklärung. Er polemisiert (leise) gegen das skeptische Frankreich der "Philosophen". Aber das ist nur die eine Seite patriotischer und zugleich moralischer Auflehnung. Die andere richtet sich gegen Italien selbst. Denn die Novelle sucht auch die produktive Auseinandersetzung mit Boccaccio. Genauer: mit den Italienern des Jahres 1348, die bei Boccaccio selbst schon in die Kritik geraten sind.

Der Decamerone inszeniert bekanntlich kunstvoll den Zusammenhang von Flucht vor der Pest und Erzählen zum Zweck der Überlebenssicherung. Im Erzählrahmen ("Introduzione") meldet sich Boccaccio (der Rahmenerzähler) selbst entsetzt zu Wort. In der Panik des Peststerbens, so berichtet er, denkt jeder nur an sich. Alle Bande der Menschlichkeit sind wie zerschnitten. Wer infiziert ist, wird sich selbst überlassen. Kinder kennen keine Eltern mehr, Eltern keine Kinder. Auch um die Toten mag sich niemand kümmern. Die compassione ("Mitleid"), das der Decamerone so nachdrücklich auslobt, ist wie vernichtet. Boccaccio verwendet wiederholt Verben wie abbandonare (im Stich lassen), fuggire (fliehen), um das fürchterliche Skandalon zu benennen.

Während also Boccaccio den zynischen Zerfall jeder Humanität beklagen muss, weiß Cantù ein halbes Jahrtausend später, im Zeitalter der Romantik, aus anderen, ja besseren Annalen der Philanthropie zu berichten. Was die hier skizzierte Interpretation der Novelle dazu motiviert, Cantù in Boccaccio sich spiegeln zu lassen, hat zunächst mit der formalen Anlage der Novelle zu tun. Cantù orientiert sich absichtsvoll, wie wir vermuten dürfen, am Paradigma der inszenierten Mündlichkeit, die Boccaccio, Vater der modernen Novelle, in die Literatur eingeführt hat. Damit stellt unser Autor seine Erzählung in den größtmöglichen Horizont novellistischer Gattungstradition.

Vor diesem Horizont stellt sich die inszenierte Mündlichkeit, die Cantùs Text formal prägt, folgendermaßen dar: Zwei Freunde, Cantùs Erzähler und ein Arzt, unterhalten sich über bedrohliche Schneeverhältnisse im Norden Italiens anno 1836. Ganze Regionen, besonders die Valtellina und der Friaul, sind im Schnee versunken. Rasch beschäftigt die beiden Menschenfreunde nur noch eine Frage: wie viele Verschüttete eine Chance haben, gerettet zu werden.

Und schon erinnert sich der Arzt an die Geschichte von der Lawine. Er selbst hat sie gehört, als er im Jahr zuvor nach Cuneo im Piemont eilt, um dort gegen die Cholera medizinische Hilfe zu leisten. Erzählt hat sie ihm ein Gastwirt. Und der hat auf Nachfragen versichert, sie aus direkter Quelle erfahren zu haben. Von dem Mädchen, das im Stall überlebt hat.

Wiedererzählen und kommentieren in dialogischer Form, das ist gemeint mit dem Begriff der inszenierten Mündlichkeit. Bei Boccaccio und strukturell analog bei Cantù. Die Pest des Decameron findet also in der Cholera bei Cantù ihre ereignishafte Entsprechung. Aber das Eigentliche ist die ethische Differenz der beiden erzählten Welten. Cantùs Arzt flieht nicht vor der Gefahr in Gestalt einer Epidemie. Im Gegenteil. Er eilt herbei, um zu helfen. Natürlich ist das ein romantischer Traum, der hier bei Cantù geträumt wird, um Einmütigkeit, beziehungsweise Zusammengehörigkeit hervorzubringen. Solcherart artikuliert sich in der spontanen Geste des Arztes beispielhaft das moderne und zugleich patriotische Italienbewusstsein. Und das soll Schule machen.

Zwei Begriffe fallen im gegebenen Kontext besonders auf. Der eine meint spontane Hilfsbereitschaft ("andare ad incontrare un malore" – einem Unheil begegnen). Er konterkariert das Im-Stich-Lassen und das Fliehen bei Boccaccio. Der andere nennt die in Not geratenen Menschen "concittadini" ("Mitbürger").

Mit dem Begriff des Mitbürgers, der sich auch in Ugo Foscolos Della servitù d'Italia ("Über die Knechtschaft Italiens") findet – eine Streitschrift des Risorgimento, aus der Cantù an anderer Stelle zitiert -, verbindet die Novelle eine politische Botschaft. Denn im ungeeinten Italien des romantischen Zeitalters gibt es nur für Idealisten einen nationalen Raum der Identifikation. Um diesen utopischen Raum, der mit dem Begriff der Patria identisch ist, Realität werden zu lassen, hat Cantù zur Feder gegriffen. Darauf verweist nicht zuletzt auch die geographische Anlage der Novelle. Indem der Arzt als Lombarde in den Piemont aufbricht, begibt er sich gleichsam in ein anderes Land. Dieser Stand der Dinge soll überwunden werden. Zur Ideologisierung im Sinne nationaler Einigung, die wir hier dem Text hermeneutisch unterlegen, tragen auch gleichsam touristische Details des Dekors bei. Als der Arzt vom rauen Piemont der Bergregionen erzählt, er- wähnt er eine mächtige Festung, die ein Tal dominiert.

Es ist eine von jenen Trutzburgen, die den Anschein erwecken, als sei Italien uneinnehmbar, ("impenetrabile"). Uneinnehmbar für jene Fremdländer ("forestieri"), die in der Vergangenheit nach Lust und Laune einmarschierten – und der historisch versierte Leser mag zum Beispiel Napoleons Revolutionsarmee erinnern – und Italien unterwarfen. Sie alle, gleich welcher Herkunft, hätten im geeinten Italien der Patrioten als Fremdherrscher keine Chance mehr. Oder sie sollten jedenfalls keine mehr haben.

Das Italien des Risorgimento, Italien als Utopie zueinander findender Regionen und Teilstaaten, Italien als Patria: Davon träumt Cantùs Novelle.

Cantù, politisch aktiver Italienpatriot des Risorgimento, der für seine Ideen sogar im Gefängnis büßen musste, hat seine Novelle erst spät, 1868, in eine Buchveröffentlichung integriert. Die Sammlung, ein romantisches Reisetagebuch durch den Norden Italiens und die Alpenländer, trägt den Titel: Paesaggi e Macchiette, was soviel heißt wie "Landschaften und Flecken". Eine zeitlos gemeinte Hommage an den Patriotismus des Nordens. Sieben Jahre zuvor, 1861, war es – zumindest auf dem Papier – doch schon politische Realität geworden: das Staatengebilde mit dem Namen Italia.

Autor:
Prof. Dr. Christof Weiand,
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