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Kurzbericht junger Forscher

Europäische Aktiengesellschaft – ein Flaggschiff setzt Segel

Sofja Kovalevskaja hatte es schwer. Sie kam im Jahr 1869 nach Heidelberg, um Mathematik und Naturwissenschaft zu studieren. Dass eine junge und begabte Frau studieren kann und soll, war allerdings in der damaligen Zeit nicht so selbstverständlich wie heute. Deswegen wurde sie zuerst abgewiesen, erhielt dann aber doch die Erlaubnis, inoffiziell an den Vorlesungen teilzunehmen. Sofja Kovalevskaja blieb drei Semester in Heidelberg und wechselte dann nach Berlin, um dort ihr Studium – ebenfalls inoffiziell – fortzusetzen. 1889 erhielt sie als eine der ersten Frauen in Europa einen Lehrstuhl an der Universität Stockholm.

Leichter haben es heute die jungen ausländischen Wissenschaftler, die mit dem Sofja Kovalevskaja-Preis gefördert werden. Dieser von der Alexander von Humboldt-Stiftung ins Leben gerufene Preis erlaubt ausländischen Nachwuchswissenschaftlern, unbeeinträchtigt von administrativen und finanziellen Zwängen ein eigenes Forschungsprojekt gemeinsam mit deutschen Fachkollegen einzurichten. Eines der geförderten Projekte ist die wissenschaftliche Aufbereitung der Europäischen Aktiengesellschaft – jenes europäischen Vorhabens, das fast so alt wie die Europäische Gemeinschaft selbst ist und Ende 2000 auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Nizza endlich Wirklichkeit geworden ist.

Hinter der Idee der Europäischen Aktiengesellschaft, die – vielleicht zum Zwecke der Erinnerung an gemeinsame sprachliche Wurzeln – auf lateinisch "Societas Europaea (SE)" genannt wird, steht der Gedanke, dass europäische Unternehmen, die europaweit tätig sein wollen, eine einheitliche Organisationsstruktur benötigen. Denn eine deutsche Aktiengesellschaft ist anders organisiert als eine französische oder englische und kann ihren Sitz nicht in einen anderen Mitgliedstaat verlegen. Den Unternehmen im einheitlichen Markt fehlte also bislang die adäquate einheitliche Organisationsform. Sie soll mit der Europäischen Aktiengesellschaft, die nicht von ungefähr als "Flaggschiff des Europäischen Gesellschaftsrechts" tituliert wird, geschaffen werden. Die neue supranationale Rechtsform kann unter anderem im Wege der Verschmelzung von zwei oder mehreren nationalen Gesellschaften aus verschiedenen EU-Ländern oder durch Bildung einer Holding-Gesellschaft gegründet werden. Europäische Unternehmen können dadurch ihr Wirtschaftspotenzial zusammenfassen und im Wettbewerb mit außereuropäischen Unternehmen stärker auftreten.

Nicht zu unterschätzen ist dabei der psychologische Faktor: Der Zusammenschluss mehrerer Unternehmen zu einer deutschen, französischen oder sonst nationalen Gesellschaft hatte für die Aktionäre und die Unternehmensleitung der jeweils untergehenden Gesellschaft den negativen Beigeschmack, von einem ausländischen Unternehmen übernommen worden zu sein. Bei Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft hingegen entsteht eine Gesellschaft, die ihre Grundlage nicht im nationalen, sondern im vereinheitlichten europäischen Recht hat. So haben die Chemiefirmen Hoechst AG und Rhône-Poulenc S.A. seinerzeit bei ihrem Zusammenschluss zur (französischen) Aventis S.A. betont, sie hätten von der Europäischen AG Gebrauch gemacht – wenn es sie denn damals schon gegeben hätte.

Warum aber dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis der Europäischen AG der Durchbruch gelang? Die ursprüngliche Idee war eine im europäischen Recht abschließend geregelte Gesellschaftsform; dies hat der niederländische Professor P. Sanders 1959 vorgeschlagen und noch der Entwurf der Europäischen Kommission von 1975 war dem gefolgt. Die Mitgliedstaaten konnten sich jedoch nur schwer auf ein einheitliches Regelungskonzept einigen. Der Abschied von nationalen Traditionen fiel schwer; man befürchtete, dass die Europäische Aktiengesellschaft eine zu große Konkurrenz für die im nationalen Recht vorgesehenen Gesellschaftsformen sein werde.

Insbesondere in Deutschland hegte man Ängste, dass die Europäische Aktiengesellschaft, wenn ihr eine dem deutschen Recht entsprechende obligatorische Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat fehle, die deutschen Unternehmen zur "Flucht" vom nationalen ins europäische Recht veranlassen könne. Die anderen Mitgliedsstaaten jedoch wollten das hohe deutsche Mitbestimmungsniveau für die Europa-AG nicht akzeptieren. Lange Zeit war auch umstritten, wie die interne Organstruktur der SE ausgestaltet werden soll: Nach dem "germanischen" dualistischen System mit den streng zu trennenden Organen Vorstand und Aufsichtsrat? Oder nach dem in Großbritannien, aber auch in romanischen Ländern praktizierten monistischen Modell mit nur einem Organ an der Spitze des Unternehmens?

Diese beispielhaft dargestellten Streitigkeiten führten letztlich zu einem Paradigmenwechsel im Regelungskonzept der Europäischen Aktiengesellschaft: Zahlreiche Einzelfragen wurden aus dem europäischen Statut herausgenommen und statt dessen der Regelung durch nationales Recht überlassen. Da in der Zwischenzeit die europäisch vorgegebene Angleichung nationalen Rechts als Ergebnis der Umsetzung der EU-Richtlinien stark voranschritt, wurde das Bedürfnis nach einem europaweit einheitlichen "Aktiengesetzbuch" immer weniger empfunden.

Darüber hinaus scheint sich auch allmählich die Auffassung durchzusetzen, dass Vereinheitlichung und Harmonisierung des Rechts nicht ein Zweck an sich sein sollen, sondern nur insoweit erforderlich sind, als sie europäischen Unternehmen von Nutzen sein können. Die im Jahre 2001 erlassene Verordnung über das Statut der Europäischen Gesellschaft verzichtet dem gemäß in weiten Bereichen auf eine eigenständige europäische Regelung. Ihr wesentlicher Inhalt sind die Regeln über die Gründung der Europäischen Aktiengesellschaft, ihre interne Struktur und die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Sitzverlegung.

In Bezug auf die interne Organstruktur hat man es der freien Wahl der Gründer der SE überlassen, ob die von ihnen errichtete Europäische Gesellschaft nach dem "Vorstand-Aufsichtsrat-Modell" deutscher Prägung oder nach dem monistischen Modell angelsächsischer Provenienz geführt wird. Indessen sind die meisten anderen Regelungsfragen an das nationale Recht verwiesen. Dies geschieht einerseits durch direkte Verweise auf das für nationale Aktiengesellschaften geltende Recht; andererseits enthält der europäische Rechtstext Regelungsaufträge an den nationalen Gesetzgeber, wonach er speziell für die Europäische Aktiengesellschaft eigene nationale Regeln erlassen kann, ja in Einzelfällen sogar muss.

Im Bereich der Arbeitnehmerbeteiligung einigte man sich auf einen "Vorrang der Verhandlungen": Die Sozialpartner müssen bei Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft in Verhandlungen eintreten und können dabei ein ihrem Unternehmen angemessenes Modell der Mitbestimmung vereinbaren. Erst wenn dabei keine Einigung zustande kommt, greift eine Auffangregelung, die sich im Wesentlichen an den vorhandenen nationalen Standards der beteiligten Unternehmen orientiert. Die europäischen Regelungen treten am 8. Oktober 2004 in Kraft und gewähren den Mitgliedstaaten damit eine Übergangsfrist, um sich auf diese völlig neuartige Rechtskonstruktion einzustellen.

Die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft stellt auch die Rechtswissenschaft vor neue Aufgaben, wenn sie den nationalen Gesetzgeber bei der Einführung der Europäischen Gesellschaft unterstützen will. Alle für die Gründung und Geschäftstätigkeit einer Europäischen Aktiengesellschaft relevanten Rechtsbereiche müssen daraufhin untersucht werden, ob sie in der europäischen Verordnung abschließend geregelt sind oder auch die Ergänzung durch den nationalen Gesetzgeber zulassen beziehungsweise vorschreiben. Erst nach Ermittlung der Regelungskompetenzen können konkrete Regelungsvorschläge an den Gesetzgeber erarbeitet werden. Jede SE wird ungeachtet ihrer europäischen Grundlagen auch eine nationale Prägung durch das Recht ihres Sitzstaates aufweisen.

Insoweit kann zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Standortwettbewerb um die Niederlassung von SE entstehen. Um in diesem Wettbewerb bestehen zu können, muss der europäische Charakter der SE auch in den nationalen Begleitregelungen respektiert werden. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, für das nationale Recht diejenigen Bereiche herauszuarbeiten, in denen eine Sonderbehandlung der SE auf Grund ihres europäisch-supranationalen Charakters geboten und gerechtfertigt ist.

 

Weitere wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaft ist das Herausarbeiten der allgemeinen Grundsätze des Europäischen Gesellschaftsrechts, die sowohl bei der Auslegung der europäischen Rechtsakte über supranationale Rechtsformen als auch bei der Beseitigung der in diesen Akten enthaltenen Rechtslücken und Ungereimtheiten von Nutzen sind. Bei der Ermittlung der allgemeinen Grundsätze des Europäischen Gesellschaftsrechts kommt der so genannten funktionalen und wertenden Rechtsvergleichung besondere Bedeutung zu.

Die Rechtswissenschaft muss sich im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft ganz besonders für Lösungsvorschläge anderer europäischer Rechtsordnungen öffnen. Die Analyse der europäischen Rechtsordnungen wird nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die praktische Tätigkeit jeder Europäischen Aktiengesellschaft, die typischerweise grenzüberschreitend agiert, relevant sein. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der europäischen Rechtsordnungen müssen daher untersucht werden, um spätere Friktionen in der praktischen Handhabung der Gesellschaft nach Möglichkeit zu vermeiden.

Das von der Humboldt-Stiftung geförderte Projekt arbeitet unmittelbar an der Einführung der Europa-AG mit. Die jungen Forscher untersuchen die rechtswissenschaftlichen Grundfragen und formulieren konkrete Vorschläge für den Gesetzgeber in Deutschland und die mitteleuropäischen Beitrittstaaten. Anfang November 2002 versammelte die Nachwuchsgruppe Wissenschaftler und Vertreter von Justizministerien aus 13 europäischen Ländern in Heidelberg, um Rechtsfragen der Europa-AG zu diskutieren.

In den Referaten und Statements sowie im intensiven Gedankenaustausch wurden unter anderem methodische Grundfragen der Auslegung und Anwendung europäischer Rechtsakte, Probleme aus der Gründung und Besteuerung der Europäischen Aktiengesellschaft sowie der Ausgestaltung ihrer internen Organstruktur behandelt. Damit hat die Konferenz personell und thematisch auch den Grundstein für die zukünftige dauerhafte Zusammenarbeit junger Wissenschaftler am Projekt "Europäisches Gesellschaftsrecht" gelegt.

Autor:
Dr. Krzysztof Oplustil studierte Rechtswissenschaft an der Universität Krakau. In seiner Promotion untersuchte er den Gläubigerschutz im deutschen und polnischen Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht. Seit 2002 arbeitet er in Heidelberg am Institut für deutsches und europäisches Gesellschaftsrecht an Rechtsfragen der Europäischen Aktiengesellschaft.

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