Siegel der Universität Heidelberg
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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

im Jahr 1937 identifizierte eine von Präsident Roosevelt eingesetzte Kommission die wichtigsten technologischen Erneuerungen der kommenden 30 Jahre. Unter den damals zu erwartenden Innovationen sucht man vergebens nach Computer, Xeroxmaschine, Radar, Sonar, Antibiotika, Laser und Nuklearenergie. Kein Wunder: Wichtige Entdeckungen sind oft das Nebenergebnis von Forschungsarbeiten, die andere Ziele verfolgen. Die Grundlagenforschung hat ein enormes innovatives Potenzial – gerade weil sie grundsätzlich für jede überraschende, unvorhergesehene und unbeabsichtigte Erkenntnis offen ist.

Das Land Baden-Württemberg, das die Grundlagenforschung mit dem höchst dotierten deutschen Landesforschungspreis unterstützt, hat mehr Voraussicht gezeigt als die Autoren des europäischen Vertrags von Amsterdam: Letzterer sieht nur die Unterstützung der angewandten Forschung als eine zentrale Aufgabe der Europäischen Union vor. Diese Haltung hat beträchtliche negative Auswirkungen für die europäischen Universitäten, die der wichtigste – in manchen europäischen Ländern der einzige – Ort der Grundlagenforschung sind. Zwölf europäische Universitäten reagierten auf diese Herausforderung und gründeten im vergangenen Juli in Leiden die "League of European Research Universities" (LERU). Mitglied der LERU ist auch die Ruperto Carola.

Die LERU hat sich die Aufgabe gestellt, die Interessen aller forschungsorientierten Universitäten gegenüber der Europäischen Union und den europäischen Regierungen zu vertreten, die Bedeutung der forschungsorientierten Universitäten, gerade als Orte der Grundlagenforschung und der engsten Verbindung von Lehre und Forschung zu verdeutlichen und die Europäische Union und die europäischen Regierungen in Angelegenheiten zu beraten, welche die Forschung betreffen.

Wie allzu oft spielt bei den gegenwärtigen Diskussionen der Vergleich mit den amerikanischen Universitäten eine große Rolle. Und wie oft in der Vergangenheit werden einige maßgebliche Unterschiede zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union kaum beachtet: Im vereinten Europa gibt es mehr Forschungsministerien als Mitgliedstaaten; in den Vereinigten Staaten gibt es keins. Die amerikanischen Universitäten besitzen Autonomie bei Stellenausschreibungen und somit die strategische Flexibilität, schnell auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren; eine deutsche Universität darf nicht einmal einen für ein Projekt qualifizierten Wissenschaftler einstellen, wenn er zwölf Jahre lang befristete Verträge hatte. Nur zehn Prozent der amerikanischen Universitäten sind staatlich; in einigen europäischen Ländern sind private Universitäten ein Fremdwort.

Angesichts der uneinheitlichen Rahmenbedingungen für die Forschung in den europäischen Staaten scheint zweifelhaft, ob der beste Weg, die europäischen Universitäten als Orte der Grundlagenforschung im Wettkampf mit den amerikanischen Universitäten zu unterstützen, darin besteht, Teile amerikanischer Modelle zu übernehmen, ohne darüber nachzudenken, worin die spezifischen europäischen Schwächen und Stärken liegen. Einige Defizite sind evident: die geringe Finanzierung der Forschung durch die europäische Industrie, die eher zögernden Investitionen in junge Forscher, die Mängel bei der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Eines haben jedoch die Vereinigten Staaten von Amerika und die nicht vereinten Länder der Europäischen Union gemeinsam: Die Grundlagenforschung ist Angelegenheit einer kleinen Minderheit von Hochschulen. Unter den fast 3 500 amerikanischen Universitäten vergeben die 61 Mitglieder der "American Association of Universities" mehr als die Hälfte der Doktortitel; in Deutschland finden 60 Prozent der Promotionen in 20 Universitäten, darunter Heidelberg an der Spitze, statt. Die unterschiedlichen Leistungen und Beiträge erfordern auch eine unterschiedliche Behandlung. Eine differenzierte Behandlung und Finanzierung der forschungsstarken und forschungsintensiven Universitäten ist ein dringendes Desiderat.

In diesem Zusammenhang wird bereits – auch in Baden-Württemberg – über die Bildung von Exzellenz- oder Kompetenzzentren nachgedacht. Spitzenforschung braucht gewiss eine kritische Masse, und die Stärkung bestimmter Standorte bietet evidente Vorteile. Dies darf allerdings nicht zur Schließung dezentraler Lehr- und Forschungsstandorte führen, die vor allem für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, aber auch der Führungskräfte der Wirtschaft notwendig sind. Investiert man nur in Kompetenzzentren und vernachlässigt die anderen Standorte, schafft man Oasen in der Wüste.

Die Kompetenzzentren werden in politischen Kreisen gerne als "Leuchttürme" bezeichnet. Es macht allerdings wenig Sinn, Leuchttürme zu bauen, wenn man gleichzeitig die Schiffe versenkt, die sich an ihnen orientieren sollen.

Ihr
Angelos Chaniotis, Prorektor

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