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Ein deutscher Hunger

Ohne Nahrungsreserven in einen vermeintlich kurzen Krieg
von Wolfgang U. Eckart

Der Erste Weltkrieg forderte das Leben von zehn Millionen Soldaten, 20 Millionen wurden verwundet. Zu den militärischen kamen die zivilen Opfer, die auf sieben Millionen geschätzt werden. Mit dem Schicksal der Soldaten an der Front beschäftigen sich zahlreiche medizinhistorische Beiträge. Über die Gesundheits- und Ernährungslage der Bevölkerung aber ist bislang nur wenig gearbeitet worden. Dieser Frage geht ein Projekt nach, das die Ernährungssituation der Zivilbevölkerung in Deutschland zwischen 1914 und 1918 erforscht und dazu bislang kaum gesichtete Akten des Kriegsernährungsamtes und des Kaiserlichen Gesundheitsamtes auswertet.

Im Spätsommer des Jahres 1914 glaubte niemand ernsthaft, dass die Ernährung des deutschen Volkes iim Kriegsfall gefährdet sei oder gar gesundheits- und lebensbedrohliche Hungersnöte drohen könnten. Der Öffentlichkeit jedenfalls wurde die feste Überzeugung vermittelt, dass die eigenen Ressourcen an Rohstoffen und Nahrungsmitteln ausreichen würden. Der Generalstab indes hatte sich intern bereits ab dem Jahr 1883 mit der Möglichkeit einer Wirtschafts- und Nahrungsmittelblockade beschäftigt; etwa ab dem Jahr 1906 rechneten die Militärbehörden im Kriegsfall ernsthaft mit einer wirtschaftlichen Blockadepolitik Englands. Konsequenzen hatte dies nicht. Allenfalls im Reichsamt des Inneren erwog man mit Beginn des Jahres 1914 die Gefahr einer vollständigen Blockade und veranlasste daraufhin den Ankauf von – geringen – Getreidereserven. Insgesamt kann die ernährungswirtschaftliche Vorbereitung des Kaiserreichs auf den Krieg im Sommer 1914 kaum anders denn als abenteuerlich beschrieben werden. Die militärischen und zivilen Behörden in Berlin waren weder auf eine Seeblockade noch auf eine längere Kriegsdauer eingestellt. Spätestens im Winter 1915/16 jedoch war nicht mehr zu kaschieren, dass es dramatische Versorgungsengpässe gab, vor allem bei der armen und weniger wohlhabenden Stadtbevölkerung.

 

Die Feldpostkarte aus dem Jahr 1916 karikiert die Zuteilung von Kartoffeln.  
Die Feldpostkarte aus dem Jahr 1916 karikiert die Zuteilung von Kartoffeln.

Kriegsernährungsamt und „Lebensmitteldiktatur“
Da offensichtlich weder Reichs- noch Landesbehörden in der Lage waren, dem drückenden Mangel gegenzusteuern, wurde der Ruf nach einem „Lebensmitteldiktator“ laut. Er sollte mit harter Hand möglichst noch im letzten Dorf das eklatante Versorgungschaos beseitigen. Am 22. Mai 1916 wurde auf Grundlage von Artikel 4 der Verordnung des Bundesrates über „Kriegsmaßnahmen zur Sicherung der Volksernährung“ das Kriegsernährungsamt gegründet. Sein erster Leiter war Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe (1868-1944), ein erfahrener Jurist und Staatswissenschaftler. Die Frankfurter Zeitung feierte das neue Kriegsernährungsamt in einem Artikel vom 23. Mai 1916 als „Reichsexekutive“ zur Organisation der Ernährung des deutschen Volkes mit weitreichenden, quasi diktatorischen Befugnissen und Weisungskompetenz gegenüber einzelstaatlichen Behörden. Die Hoffnungen allerdings trogen: Die Einwirkungsmöglichkeiten des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, dem das Amt unmittelbar unterstand, blieben gegenüber der Regelungskompetenz des Bundesrates, der Länder und des Kriegsministeriums außerordentlich beschränkt. In Anspruch genommen werden konnten lediglich die in den Reichsgrenzen vorhandenen Lebensmittel; auf die besetzten Gebiete hatten Bethmann Hollweg und Batocki keinen Zugriff, für Fragen der landwirtschaftlichen Produktion waren allein die einzelstaatlichen Landwirtschaftsministerien zuständig. So blieben allenfalls das Verordnungsrecht des Reichskanzlers und die dem Reichsamt des Inneren verbliebene Weisungsgewalt, um die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Lebensmitteln zu regeln. Damit aber war das eigens geschaffene Kriegsernährungsamt im Grunde kaum mehr als eine Ausgliederung des früheren Unterstaatssekretariats für Volksernährung im Reichsamt des Inneren. Anstelle der von der Öffentlichkeit erhofften „Reichsexekutive“ in Lebensmittelfragen war Bethmann Hollweg allenfalls ein „Schwert ohne Schärfe“ in die Hand gegeben. Immerhin verlieh der Gründungsvorgang der Kriegsernährungsfrage eine gewisse Dringlichkeit, was durch einen ergänzenden Vorstand, einen sachkompetent besetzten Beirat und einen von Batocki eigens einberufenen Frauenbeirat unterstrichen wurde. Der Berliner Physiologe und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie Max Rubner (1854-1932) beriet das Amt als graue wissenschaftliche Eminenz im Hintergrund. Gleichwohl scheiterte das Kriegsernährungsamt bereits bei den ersten größeren ernährungspolitischen Herausforderungen – der „Schweinemordaktion“ des Jahres 1915 und im „Kohlrübenwinter“ 1916/17.

Schweinemord und Kohlrübenwinter

Kartoffelwucher und die erfolglosen Maßnahmen des Kriegsernährungsamtes zur Regulation der Preise hatten bereits im Jahr 1914 bewirkt, dass die Bauern ihre Ernteerträge verheimlichten und ihre Kartoffeln lieber zurückhielten und ans Vieh verfütterten, als zu niedrigsten Preisen an die Bevölkerung zu verkaufen. Vor diesem Hintergrund kam es bei den kaiserlichen Statistikern und Ernährungswissenschaftlern zu der fatalen Fehleinschätzung, dass es an Futterkartoffeln für Schweine mangele. Eine massenhafte Schlachtung erschien die Lösung, um den vermeintlichen Mangel an Kartoffeln mit tierischen Fetten auszugleichen und die Ernährungssituation der Bevölkerung aufzubessern. Und so gingen die Schlachter ans Werk: Mehr als fünf Millionen Schweine fielen ihnen im ersten Quartal des Jahres 1915 zum Opfer. Bedingt durch das Überangebot an Schweinefleisch sank der Fleischpreis zunächst, stieg danach aber schnell in exorbitante Höhen. Die langfristigen Folgen dieser Maßnahme verschärften die Versorgungssituation der deutschen Zivilbevölkerung im Kriegswinter 1915/16 erheblich. Die Massenschlachtungen gingen als „Schweinemord“ und als „Bartholomäusnacht der Schweine“, gelegentlich aber auch in Andeutung der geistigen Urheber dieses Massakers als „Professorenschlachtung“, in die Literatur ein.

 

Bezugsmarke  

Besonders hart waren die Insassen geschlossener Anstalten von der Hungersnot betroffen: Die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten der Länder wiesen im Winter 1916/17 Übersterblichkeiten von bis zu 20 Prozent auf. Vom Leiter der Oberfränkischen Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth stammt ein vertraulicher Bericht, den er dem Königlich Bayerischen Staatsministerium des Inneren im September 1917 zukommen ließ. Er lässt erahnen, welche Zustände herrschten: „Das ständige Geschrei der Kranken bzw. ihre unaufhörlichen Klagen über Hunger, ihre beim Gartenbesuch zutage tretende Gier nach unreifem Obst, ja selbst nach Gras, Blumen, Laub, Eicheln, Kastanien etc. angesichts der Unmöglichkeit der Abhilfe“ seien ein „die Nerven stark ergreifendes Moment“. Mit sozialdarwinistischen Erklärungen wie der des Münchener Universitätsprofessors und Direktors des Krankenhauses links der Isar, Dr. Friedrich Ritter von Müller (1858-1941), wurden die eigentlichen Ursachen des überdurchschnittlichen Anstaltssterbens gelegentlich kaschiert: Das Leben an sich sei eben ein „Kampf ums Dasein“. In einem Bericht aus der Hansestadt Lübeck vom August 1918 hieß es, dass die „betrübende Tatsache“ der deutlichen Übersterblichkeit in Irrenhäusern dadurch „etwas gemildert“ werde, „daß es [doch] vorzugsweise die geistig tiefstehenden, dem Blödsinn nahe befindlichen Kranken“ gewesen seien, die dem Hunger erlegen waren. Äußerungen wie diese lassen darauf schließen, dass es sich beim Hungersterben in den Anstalten wohl um ein schulterzuckend hingenommenes Phänomen handelte. Es lässt sich darüber streiten, ob hier bereits von stiller Euthanasie zu sprechen ist.

 

Soldaten bei einer Mahlzeit in einem Lazarett in Weimar, Feldpostkarte, August 1918  
Soldaten bei einer Mahlzeit in einem Lazarett in Weimar, Feldpostkarte, August 1918

Die Bevölkerung wurde mit den Ernährungsverhältnissen immer unzufriedener, was sich bereits in den ersten Jahren des Krieges mit gelegentlichen kleinen Unruhen bemerkbar machte, etwa Ende des Jahres 1916 auf dem Münchener Marienplatz. An der Organisation der Demonstration war der Schriftsteller und Pazifist Erich Mühsam (1878-1934) maßgeblich beteiligt. In einem anonymen Flugblatt vom Juni 1916, dessen Verfasser wohl dem marxistischen Spartakusbund angehörte, hieß es:

„Was kommen mußte, ist eingetreten: Der Hunger! In Leipzig, in Berlin, in Charlottenburg, in Braunschweig, in Magdeburg, in Koblenz und Osnabrück, an vielen anderen Orten gibt es Krawalle der hungernden Menge vor den Läden mit Lebensmitteln. Und die Regierung des Belagerungszustandes hat auf den Hungerschrei der Massen nur die Antwort: Verschärften Belagerungszustand, Polizeisäbel und Militärpatrouillen. Herr von Bethmann-Hollweg klagt England des Verbrechens an, den Hunger in Deutschland verschuldet zu haben, und die Kriegsdurchhalter und Regierungszuhälter schwätzen es nach. [...] Der Krieg, der Völkermord ist das Verbrechen, der Aushungerungsplan nur eine Folge dieses Verbrechens. [...] Auf das Verbrechen der Anzettelung des Weltkrieges wurde ein weiteres gehäuft: die Regierung tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient. Weil, wenn man von Anfang an den Kampf gegen Hunger und Not durch ernsthafte Maßnahmen aufgenommen hätte, den verblendeten Massen der furchtbare Ernst der Lage klar geworden wäre. Dann wäre aber die Kriegsbegeisterung alsbald verraucht.“

 

Feldpostkarte aus dem Hungerwinter 1915/16  
Dem „Schweinemord“ folgten das Horten und Verteuern von Wurst- und Fleischwaren, Feldpostkarte aus dem Hungerwinter 1915/16.

Als sich der Mangel an Nahrungsmitteln während des „Kohlrübenwinters“ 1916/17 noch weiter zuspitzte, kam es zu größeren Demonstrationen und Streiks. Rund 20 000 Essener Bergarbeiter legten in der zweiten Februarhälfte des Jahres 1917 die Arbeit nieder; am 26. Februar des Jahres 1917 zogen bis zu 10 000 von Fronturlaubern angeführte Menschen zum Rathaus der Stadt Barmen, um höhere Lebensmittelrationen zu fordern. Im brandenburgischen Prenzlau demonstrierten im Jahr 1917 berufstätige Frauen gegen den Hunger. Als die Behörden in der zweiten Märzhälfte des Jahres 1917 ankündigten, die täglichen Mehlrationen von 200 auf 170 Gramm zu reduzieren, kam es erneut zu spontanen, von der breiten Bevölkerung getragenen Unruhen. Sie weiteten sich vor allem unter den Rüstungsarbeitern in Berlin, aber auch in Halle, Leipzig, Braunschweig und weiteren Orten zu Massenstreiks aus. Die Aufstände sollten sich bis in das letzte Kriegsjahr hinein dramatisch verschärfen. Nicht selten schoss das Militär auf die Demonstranten. In den Zeitungen des Reichs war davon jedoch nur wenig zu lesen. Aufschlussreicher sind hier die Korrespondenzen der amerikanischen Botschaften und Gesandtschaften in den Nachbarländern und im Kaiserreich selbst. So telegrafierte etwa die US-Botschaft aus Bern am 4. August 1917 den Bericht eines deutschen Informanten über schwere Lebensmittelkrawalle in Leipzig: Das Feuer von Polizei und Soldaten auf die Menge sei erwidert worden und zwölf Soldaten, zwei Polizisten und 26 Frauen und Kinder dabei umgekommen. Um zu verhindern, dass solche Nachrichten zu den Soldaten an der Front gelangten, wurde für einige Zeit alle Briefpost aus Leipzig an die Fronten unterbunden.

Die verfassungsmäßig offensichtlich nicht erreichbare zentralistische Exekutivkompetenz des Kriegsernährungsamtes sollte nun zumindest im größten Bundesstaat Preußen realisiert werden. Dazu wurden im Februar 1917 alle sich auf Ernährungsfragen erstreckenden Teilkompetenzen des Preußischen Landwirtschafts-, Handels- und Innenministeriums gebündelt und mit Wirkung vom 17. Februar 1917 in die Hände eines „Preussischen Staatskommissars für Volksernährung“ gelegt, wozu der Jurist Georg Michaelis (1857-1936) ernannt wurde. Michaelis, seit 1909 Unterstaatssekretär im preußischen Finanzministerium und mit Kriegsbeginn Leiter der Reichsgetreidestelle, sollte das neue Amt – das nun in sonderbarer und durchaus kontraproduktiver Weise mit dem Kriegsernährungsamt konkurrierte – jedoch nicht lange innehaben. Der weitgehend unbekannte Staatskommissar Georg Michaelis löste bereits am 14. Juli 1917 Reichskanzler von Bethmann Hollweg nach dessen Sturz im Amte ab und wurde zugleich zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Nun endlich bot sich die Gelegenheit, das Kriegsernährungsamt und das Staatskommissariat für Volksernährung in Personalunion zu leiten. Mit der solchermaßen gestärkten und nun scheinbar uneingeschränkten Exekutivkompetenz betraute Michaelis am 6. August 1917 den Juristen und Oberpräsidenten der Provinz Pommern, Wilhelm von Waldow (1856-1937).

An Erfolglosigkeit sollte allerdings auch Waldow seinem Vorgänger Batocki nicht nachstehen. Die KriegsZwangswirtschaft Waldows war gekennzeichnet von strengsten Rationierungen, einer inkonsequenten Preispolitik und dem Kampf gegen privaten Schleichhandel und Hamsterei. All diese Maßnahmen trafen die ohnehin schon mittellose Bevölkerung. An den Profiteuren und Lebensmittelproduzenten aber gingen sie vorbei. Hinzu kam, dass die Lebensmittel spätestens seit Sommer 1917 so knapp waren, dass selbst die subtilste Verteilungskunst ins Leere lief. Das „System Waldow“ führte die Kriegsernährungswirtschaft an den Rand des Abgrunds, noch bevor der Krieg sich erkennbar dem Ende zuneigte. Gleichwohl empfahl es sich, das Waldow‘sche Zwangssystem auch während der und über die Novemberrevolution hinaus fortzuführen, allein schon aufgrund der Notwendigkeit, die in Heeresbeständen verbliebenen Lebensmittelreserven der Zivilversorgung zuzuführen. Dieser Aufgabe widmete sich nach von Waldows Abgang der Sozialdemokrat Emanuel Wurm (1857-1920). Er war zwischen dem 14. November 1918 und dem 13. Februar 1919 noch Staatssekretär im Kriegsernährungsamt. Am 19. November 1918 wurde es in „Reichsernährungsamt“ umbenannt und Wurm der erste Reichsernährungsminister. Als Jude geriet Wurm unmittelbar nach seinem Dienstantritt in die Schusslinie der Antisemiten.

 

„Der Zentral-Polyp und seine Opfer“  
„Der Zentral-Polyp und seine Opfer“: Die Karikatur in der österreichischen Satirezeitschrift „Kikeriki“ vom 11. August 1918 bezieht sich auf die zentrale Verteilung von Lebensmitteln in Österreich-Ungarn.

Dem Kriegsernährungsamt war es weder durch Rationierungen noch durch eine bessere Koordination des Lebensmitteltransports oder durch Preisinterventionen gelungen, die Bevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Bald bestimmten nur noch Schwarzhandel und Wucher den Markt. Die Erzeuger selbst stellten ihre Produkte dem überregionalen Markt nicht mehr zur Verfügung; stattdessen sicherten sie zunächst ihre eigene Versorgung, verfütterten wichtige Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, für die keine hinreichenden Erträge zu erzielen waren, an die Schweine oder verkauften sie zu überhöhten Preisen an die Gastronomie in Kur- und Tourismusregionen. Dies geschah vor allem in den klassischen Fremdenverkehrsgebieten Bayern, Württemberg und Mecklenburg. Im Sommer 1917 war es schließlich so weit gekommen, dass Hamsterfahrten der hungernden Bevölkerung zunehmend erfolglos blieben, weil die Bauern ihre Erzeugnisse zurückhielten, um wohlhabende Kurgäste und Touristen zu versorgen, die es trotz Hunger und Krieg immer noch gab. Doch allmählich, so wurde es auf einer Sitzung des Kriegsernährungsamtes im Februar 1918 laut, sei die Situation „selbst in Heilbädern“ mehr und mehr „zu übelsten Formen des Schleichhandels“ ausgeartet. Mit diesem Notstand beschäftigte sich das Kriegsernährungsamt, als das letzte Kriegsjahr begann. Es schlug erhebliche Reisebeschränkungen vor, um solchen „Übelständen“ entgegenzutreten, zumal es inzwischen weite Bezirke gebe, „die durch einen unbeschränkten Fremdenverkehr tatsächlich vollkommen ausgeraubt würden“.

Auch die Versorgung mit Brot verschlechterte sich im letzten Kriegsjahr dramatisch. Dies ging vor allem auf den Mangel an Kohle zurück, die in der Rüstungsindustrie gebraucht wurde und nicht mehr für Getreidemühlen verfügbar war. Hinzu kam, dass die Landwirte zunehmend Hafer an das Heer lieferten, sodass immer weniger Hafer für die Ernährung der Zivilbevölkerung vorhanden war. Im Januar 1918 wurde eine Genehmigungspflicht für Ersatzlebensmittel eingeführt, die für Zuwiderhandlungen Geldstrafen bis zu 10 000 M. oder Gefängnis bis zu einem Jahr vorsah. Auch diese drastischen Sanktionen trugen dazu bei, dass das Nahrungsmittelangebot immer mehr verknappte. Insgesamt sind die Sitzungen, die in den letzten Monaten des Krieges im Kriegsernährungsamt stattfanden, von zunehmendem Bürokratismus und einem Verzetteln in marginalen Einzelfragen geprägt. Debattiert wurde etwa darüber, ob es zulässig ist, Weinessig mit Teerfarben zu färben, oder ob Lupinensamen eingeführt werden soll, um das Eiweißangebot zu verbessern. Den Überblick über die Bestände an Vieh aber hatte man im Kriegsernährungsamt zwischenzeitlich ganz verloren, weshalb darüber nachgedacht wurde, die für den 4. Dezember 1918 vorgesehene Volkszählung gleich mit einer „Reichsviehzählung“ zu koppeln.

Der Tiefpunkt der Ernährungssituation war im Herbst 1918 erreicht. Es fehlten die wichtigsten Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Brotmehl, Fleisch und Fett. Die tägliche Fettration lag pro Kopf bei etwa zehn Gramm. Am 10. September 1918 kommentierte der „Vorwärts“ die dramatische Lage und wies dem Kriegsernährungsamt die Hauptschuld an der Misere zu: „Während Millionen Männer auf dem Schlachtfelde ihr Blut dem Vaterland geben müssen, werden ihre Angehörigen zur ewigen Schande unserer Zeit von den eigenen Volksgenossen ausgesogen, die durch schamlosen Wucher mit Lebensmitteln die letzten Kräfte der Armen verzehren.“

Gespenstische Pläne am Vorabend der Apokalypse
Im Kriegsernährungsamt hatte man im Herbst 1918 angesichts der sich bedrohlich zuspitzenden Kriegslage offensichtlich alle Hoffnung fahren lassen, das Ernährungsproblem innerhalb des Reiches zu lösen. Ebenso panisch wie unrealistisch setzte man nun darauf, die Lebensmittelausbeute in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten, besonders im Osten, zu steigern. Dieses Vorhaben wurde noch wenige Tage vor Ende des Krieges während einer außerordentlichen Sitzung des Kriegsernährungsamtes in großer Runde im Reichstagsgebäude besprochen. Während der Sitzung am 5. November 1918 anwesend waren neben den führenden Mitgliedern des Kriegsernährungsamtes über 70 militärische und zivile Spezialisten der Ernährungsorganisation und des Transportwesens. In seinem einleitenden Referat stellte von Waldow die dramatische Ernährungskrise in apokalyptischer Deutlichkeit dar: „In das fünfte Wirtschaftsjahr des Krieges sind wir ohne alle Reserven eingetreten (…). Die Fettversorgung ist bedeutend zurückgegangen. Seit zwei Jahren leben wir hinsichtlich des Viehverbrauchs vom Kapital. Die Einfuhr an Lebens- und Futtermitteln hat im letzten Jahr sehr nachgelassen. Dieser Ausfall an Zufuhren bedeutet eine Mehrbelastung für Menschen und Pferde. Die Haltung der Bevölkerung, die bisher für ihren Willen zum Durchhalten ein Ziel vor Augen hatte, wird bis zu beziehungsweise in einem Waffenstillstand im weitesten Maße abhängig sein von der Gestaltung der Ernährungslage. Es ist deshalb erforderlich, daß bei der Ergreifung von Vorräten in den besetzten Gebieten mit der größten Energie vorgegangen wird. [...] Auf die Stimmung der Bevölkerung der besetzten Gebiete kann bei der Erfassung und dem Abschub der Vorräte keine Rücksicht genommen werden. Die einzige Forderung muss sein, das Staatswesen im Inneren aufrecht zu erhalten. Alle greifbaren Vorräte müssen der Heimat zugeführt werden.“

 

Die Feldpostkarte aus dem Jahr 1915 appelliert an die Daheimgebliebenen, mit allen Ressourcen sparsam umzugehen und so zum Sieg beizutragen.  
Die Feldpostkarte aus dem Jahr 1915 appelliert an die Daheimgebliebenen, mit allen Ressourcen sparsam umzugehen und so zum Sieg beizutragen.

Von Waldows Blick war im Grunde schon nicht mehr auf die Kriegswirtschaft, sondern auf die „Übergangswirtschaft“ nach Kriegsende gerichtet. Ziel war nicht mehr der Sieg, sondern das Bewältigen innerer Probleme in der Situation des Waffenstillstands. In Torschlusspanik sollten nun letzte Ausbeutungsanstrengungen unternommen werden. Was aber gab es überhaupt noch auszubeuten? Die Antworten der befragten Experten waren deprimierend. Im Generalgouvernement Warschau war das Ziel der „Fleischplünderung“ nicht erreicht worden: Statt 50 000 seien nur 20 000 Schweine abgeliefert worden. Auch habe die polnische Bevölkerung inzwischen nicht nur das Zahlen von Steuern verweigert, sondern auch damit begonnen, Vorräte zu verbrennen und alle Naturallieferungen einzustellen. Man habe „keine Mittel in der Hand, die Polen zur Ablieferung der Reste zu zwingen“. Die Ausfuhr von Lebensmitteln aus Rumänen sei eine Transportfrage, die davon abhänge, dass Wagenschmiermittel aus Galizien und Kohle aus Deutschland geliefert werden würden. Mit einem derartigen Nachschub war am 5. November 1918 allerdings nicht mehr zu rechnen. In Oberost war die Ernte weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben; in Kurland stehe das Getreide noch auf dem Halm, und die Kartoffeln steckten noch in der Erde. Auch sei aufgrund der „Umtriebe der Bolschewisten“ nicht mehr daran zu denken, die Ernteerträge zu erfassen. In einer offensichtlichen Sabotageaktion seien „an weit voneinander entfernen Stellen kürzlich 40 Ernteschober in Brand gesteckt worden“; zudem blühe ein „lebhafter Schmuggelverkehr nach Russland und Finnland“. Lebensmittel aus den besetzten Gebieten im Westen heranzuschaffen, scheitere an den Bedürfnissen des Heeres und am Ausbruch der Maul- und Klauenseuche. Überschüssiges Vieh, das in Belgien vorhanden sei, könne deshalb nur vor Ort geschlachtet und verwertet werden. Ein Fazit der Katastrophen zu ziehen, war wohl am Ende der Sitzung nicht mehr nötig: Die entstandene Kriegslage gestattete keine weitere Ausbeutung der besetzten Gebiete. Entsprechend mutlos fiel daher auch der Appell von Waldows aus, der forderte „bei allen Maßnahmen stets in erster Linie den dringenden Bedarf der Heimat zu berücksichtigen“. An eine zufriedenstellende Sicherung der Ernährung war auch für die Zeit der „Übergangswirtschaft“ nicht zu denken. Desillusioniert löste sich die Versammlung in den späten Abendstunden des 5. November 1918 auf. Die Katastrophe nahm ihren Lauf.

Illusion und Revolution

Der Vorstand des neuen Reichsernährungsamtes traf sich bereits am 19. November 1918. Diese Sitzung ist bemerkenswert, weil in ihr thematisiert wurde, dass es nur dann gelänge, die Ernährung der deutschen Bevölkerung auf einem Existenzminimum zu sichern, wenn das Ausland, vor allem die Vereinigen Staaten, dabei helfen. Man habe, so heißt es im Vortrag des leitenden Medizinalreferenten Alter, „der Entente den Wunsch ausgesprochen [...], für jeden Versorgungsberechtigten in Deutschland eine tägliche Kalorienzahl von 3000 zu gewährleisten“. Den gleichen illusorischen Kaloriensatz hatte man noch im Januar 1918 als Mindesternährung für Tuberkulosekranke vorgeschlagen. Tatsächlich, so Alter, liege die tägliche Kalorienzufuhr pro Kopf der Bevölkerung nur bei etwa 1200 Kalorien pro Tag, mit allen „Nebenbezügen“ höchstens bei 1500 Kalorien. Ohne Auslandshilfe, betonte Alter, sei zu befürchten, dass die Ernährungsmöglichkeiten schon in nächster Zukunft erheblich nachlassen würden. Die Ernährung der Bevölkerung könne für einen Zeitraum von etwa vier bis fünf Monaten nur dann gesichert werden, wenn aus dem Ausland monatlich 76 500 Tonnen Speisefett, 180 000 Tonnen Fleisch und etwa 420 000 Tonnen Getreide geliefert würden. Besonders die Fettration der Bevölkerung könne auf diese Weise bei mindestens 40 Gramm pro Tag gehalten werden, hätten doch England und Amerika große Vorräte an Speck und Schmalz hinsichtlich einer möglichen Weiterführung des Krieges aufgehäuft. Ähnlich sei es um Ölfrüchte, Kopra und Viehbestände bestellt.

Politisch naive und ernährungspolitisch gewagte Zahlenspiele solcher Art zeigen erneut, wie orientierungslos das Kriegsernährungsamt auch nach Kriegsende war. Von einer möglichen Nahrungsmittelzufuhr aus Amerika hatte das Kriegsernährungsamt zudem lediglich aus Pressemeldungen erfahren, die berichteten, dass eine solche Lieferung von den Entente-Mächten während der Waffenstillstandsverhandlungen angesprochen worden sei. Ein Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 16. Dezember, wonach die Frage der Lebensmittelversorgung gar nicht verhandelt werde, war offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden. Hinzu traten nun auch noch durch die Revolution generierte Probleme, etwa, dass sich Arbeiter- und Soldatenräte in die Lebensmittelerzeugung und -verteilung einmischten. Man habe „zahlreiche und schwerwiegende Eingriffe der örtlichen Arbeiter- und Bauernräte in die Ernährungswirtschaft“ beobachten müssen; eine Reihe von Nährmittelfabriken sei von ihnen geradezu „mit Beschlag belegt“. Auch die neuen Bestimmungen zum Schutz der Arbeiter seien kontraproduktiv: „In der gesamten Nährmittel- und Zuckerindustrie ist auf Anordnung der Arbeiter- und Soldatenräte der Acht-Stunden-Tag eingeführt und damit jede rationelle Arbeitsmethode unmöglich gemacht worden.“

Bald wurde deutlich, dass sich die dramatische Ernährungslage der deutschen Bevölkerung nach Kriegsende noch weiter verschärfen sollte. Wie die Auswertung der Dokumente zeigt, kann nicht allein die vielbeschworene „Hungerblockade der Entente“, die in der letzten Phase des Krieges und in der Nachkriegszeit stereotyp für die zivilen Opfer ins Feld geführt wurde, verantwortlich gemacht werden. Zum „deutschen Hunger“ beigetragen haben auch ganz wesentlich Missmanagement, politische Fehlentscheidungen und rivalisierende Kräfte im Reich. Die Konsequenzen reichten weit über den Krieg hinaus: Als großes Problem erwies sich der gewaltige Rückstrom von Soldaten und Kriegsgefangenen, von Verschleppten und Vertriebenen. Mit ihm und der vermeintlichen „Seuchenbedrohung aus dem Osten“ setzte nun ein gänzlich neuer Katastrophendiskurs ein.

 

 

Prof. Wolfgang U. Eckart  
Foto: Friederike Hentschel, Heidelberg

Wolfgang U. Eckart ist Professor für Geschichte der Medizin und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Medizin im europäischen Kolonialismus, Ärztliche Mission, Medizin und Krieg und die Medizin im Nationalsozialismus. Sein jüngstes Buch beschäftigt sich mit der Medizin von der französischen Revolution bis zur Gegenwart.
Kontakt: wolfgang.eckart@histmed.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 15.01.2012
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