SUCHE
Bereichsbild

Wer bewacht die Wächter?

Das Militär in Zeiten politischen Umbruchs
von Aurel Croissant

Welche Rolle spielt das Militär, wenn eine Diktatur in eine Demokratie übergeht? Wie gelingt es, das Militär dem Primat der Politik unterzuordnen, und wann scheitert diese Herausforderung? Welche Konsequenzen hat das für die Qualität und Konsolidierung junger Demokratien? Zu diesen Fragen steuert das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Demokratische Transformation und zivile Kontrolle des Militärs“ Antworten bei. Konkret untersuchen Heidelberger Politikwissenschaftler seit dem Jahr 2008 die Interaktion von politischen und militärischen Akteuren in sieben asiatischen Staaten. Die systematische Analyse der Stellung des Militärs und der zivil-militärischen Beziehungen auf dem Weg zur Demokratie ist eine dringliche Forschungsaufgabe, wie nicht zuletzt die jüngsten Umbrüche im arabischen Raum zeigen.

Welche Rolle spielt das Militär, wenn eine Diktatur in eine Demokratie übergeht? Wie gelingt es, das Militär dem Primat der Politik unterzuordnen, und wann scheitert diese Herausforderung? Welche Konsequenzen hat das für die Qualität und Konsolidierung junger Demokratien? Zu diesen Fragen steuert das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Demokratische Transformation und zivile Kontrolle des Militärs“ Antworten bei. Konkret untersuchen Heidelberger Politikwissenschaftler seit dem Jahr 2008 die Interaktion von politischen und militärischen Akteuren in sieben asiatischen Staaten. Die systematische Analyse der Stellung des Militärs und der zivil-militärischen Beziehungen auf dem Weg zur Demokratie ist eine dringliche Forschungsaufgabe, wie nicht zuletzt die jüngsten Umbrüche im arabischen Raum zeigen.

Ein zentrales Ordnungsproblem politischer Systeme ist umschrieben mit der Frage „Wer bewacht die Wächter?“. Während ihrer funktionalen Differenzierung schaffen Gesellschaften militärische Organisationen, um sich gegen Bedrohungen zu schützen. Das Militär verfügt jedoch über Mittel der physischen Gewalt, die die Möglichkeiten aller anderen Gesellschaftsgruppen übersteigen. Somit besitzen die Streitkräfte grundsätzlich das Potenzial, die effektive Herrschaftsgewalt ziviler Regierungen einzuschränken und der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen. Daraus ergibt sich für alle politischen Systeme die Notwendigkeit der politischen Kontrolle über die Streitkräfte, und zwar unabhängig davon, ob sie demokratisch oder autokratisch regiert werden.

Zivile Kontrolle und Demokratie
Autokratien, in denen das Herrschaftsmonopol nicht bei demokratisch legitimierten Autoritäten liegt und in denen die Ausübung von Herrschaft nicht durch rechtsstaatliche und demokratische Verfahren eingegrenzt, reguliert und kontrolliert wird, beantworten die Frage nach der zivilen Kontrolle unterschiedlich. In Militärregimen etwa entscheidet das Militär, welche Ziele es verfolgt und welche sozialen Kräfte in die Herrschaftsausübung eingebunden sind.

 


Länder in Asien:
Beginn der Demokratisierung
Philippinen 1986
Taiwan 1986
Pakistan 1987
Südkorea 1987
Bangladesh 1990
Thailand 1992
Indonesien 1999

 

In Parteiregimen, wie im ehemals kommunistischen Osteuropa, in der Sowjetunion oder in China und Vietnam, liegt das Herrschaftsmonopol bei der Partei. In der Beziehung von Militär und Politik gilt das Primat der Herrschaftspartei, das Militär ist dem Anspruch nach Parteiarmee. In Führerregimen, wo das Herrschaftsmonopol bei einem politischen Führer liegt (beispielsweise die Präsidialdiktaturen im arabischen Raum und in Zentralasien), und in autokratischen Monarchien ist das Militär politisch ebenfalls untergeordnet. Ob und in welchem Umfang die Streitkräfte über institutionelle Autonomie verfügen und an der Regierung beteiligt sind, hängt ab von der Form der Herrschaftsorganisation und Herrschaftsausübung.

Demokratien basieren auf dem Prinzip der Unterordnung des Militärs unter die zivilen Institutionen und Autoritäten, die ihrerseits dem demokratischen Prozess unterworfen und durch demokratische Verfahren legitimiert sind. Nur wenn die demokratisch legitimierten Autoritäten die volle politische Entscheidungsmacht über den Sicherheitssektor besitzen, können die Institutionen des demokratischen Verfassungsstaats ihre legitimierende und kontrollierende Funktion leisten. Die konsolidierten Demokratien der OECD-Welt besitzen effektive Systeme der zivilen demokratischen Kontrolle. Für viele junge Demokratien in Asien und in anderen Weltregionen gilt das nicht. Hier muss zivile Kontrolle häufig erst durchgesetzt werden. Das Forschungsprojekt, über das hier berichtet wird, untersucht für sieben Transformationsstaaten in Asien, wie solche Prozesse verlaufen und wovon der Erfolg oder das Scheitern der Neuordnung zivil-militärischer Beziehungen in Richtung auf institutionalisierte zivile Kontrolle abhängt.

In den asiatischen Autokratien war der Militarisierungsgrad von Staat und Gesellschaft durchweg hoch, gemessen am Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt und an der Truppengröße im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. In allen Autokratien war das Militär in die autoritäre Regimekoalition integriert. Dort, wo die Streitkräfte direkt die Herrschaft ausübten, wie in Bangladesch, Pakistan, Thailand und Südkorea, legitimierte das Militär seine Regierungsübernahme mit der vermeintlichen Schwäche der zivilen Institutionen, beanspruchte eine Führungsrolle bei der Modernisierung von Staat, Gesellschaft und Ökonomie und besetzte Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Aber auch in zivilen Diktaturen wie Taiwan und den Philippinen hatten die Armeen weit reichende Vorrechte, da sie als Instrument der Herrschaftssicherung lebensnotwendig für die Aufrechterhaltung der autoritären Ordnung waren.

Die Ursprünge der exponierten Stellung der Streitkräfte in asiatischen Gesellschaften reichen zurück in die Frühphase der Staats- und Regimebildung. In Indonesien und Bangladesch etwa hatten die Streitkräfte einen eigenen Beitrag zur Erlangung der Unabhängigkeit geleistet. Zudem kam dem Militär neben der Sicherung staatlicher Souveränität nach außen immer auch die Rolle einer Ordnungsmacht im Inneren zu. Das war besonders dort der Fall, wo die mangelnde Integrationsleistung der politischen Institutionen und Ideologien sich immer wieder Bahn brach in ethnopolitischen Konflikten oder Bauernrevolten, wie beispielsweise in Thailand, auf den Philippinen, in Pakistan und Indonesien.

Die Nähe zur Politik forderte jedoch einen Preis. In den Militärregimen kam es unvermeidlich zu Interessenkonflikten zwischen dem Militär als Regierung und dem Militär als Institution. Die Übernahme politischer Rollen förderte die Radikalisierung von Teilen des Offizierskorps, und der innermilitärische Wettbewerb um Zugang zu politischen Ämtern schwächte die Disziplin und Hierarchie in den Streitkräften. Daher waren Konflikte im Militär sowie zwischen Militär- und Regimeführung ein treibender Faktor in fast allen Regimeübergängen in den Jahren 1986 (Philippinen) bis 1999 (Indonesien). Einzig in Taiwan wirkten die etablierten Mechanismen der Parteikontrolle und die lange personelle Kontinuität an der Regimespitze Radikalisierungstendenzen entgegen.

Besonders schwierig gestaltete sich die Neuordnung des Verhältnisses von Militär und Politik, wenn der Übergang zur Demokratie aus einem Militärregime heraus erfolgte oder wenn die Streitkräfte aktiv Einfluss auf die „Transition“, den kompletten Wechsel der Organisationsform eines politischen Systems, hatten, etwa weil das Militär aus Gründen des institutionellen Selbsterhalts aus der autoritären Regimekoalition ausscherte oder den Regimewechsel „von oben“ lenkte. In diesen Fällen (Südkorea, Philippinen, Pakistan, Thailand) nutzte das Militär seinen politischen Einfluss dazu, sich politische Vorrechte zu sichern, die nach dem Übergang zur Demokratie die zivile Kontrolle und damit die Geltungskraft demokratischer Prinzipien insgesamt einschränkten.

Das Heidelberger Konzept der zivilen Kontrolle
Um zu ergründen, wie militärische und zivile Akteure in demokratischen Transformationen zusammenspielen, bedarf es eines Konzeptes, das unterschiedliche Formen der politischen Einflussnahme der Streitkräfte erfassen kann. Das in Heidelberg entwickelte mehrdimensionale Konzept der zivilen Kontrolle ist hierfür gut geeignet. Es unterscheidet fünf Arenen der Beziehungen zwischen Militär und dem politischen System: „politische Rekrutierung“ (Auswahl des politischen Personals), „public policies“, „innere Sicherheit“, „Landesverteidigung“ (äußere Sicherheit) und „Militärorganisation“. Darüber hinaus wird zivile Kontrolle als graduelles Konzept verstanden: Die Verteilung der politischen Entscheidungsrechte zwischen zivilen und militärischen Akteuren kann in jedem Politikbereich auf einem Kontinuum von „Dominanz der zivilen Autoritäten“ bis „Dominanz des Militärs“ verortet werden. Zivile Kontrolle in einer Demokratie ist dann erreicht, wenn zivile Autoritäten in allen fünf Bereichen die volle Entscheidungsmacht besitzen, Mechanismen der Kontrolle über das Handeln des Militärs erfolgreich institutionalisiert wurden und so eine dauerhafte Machtverlagerung vom Militär auf die demokratisch legitimierten Institutionen gesichert ist.

Dieses Konzept ermöglicht eine nach Politikfeldern differenzierte Analyse, erfasst graduelle Unterschiede und niederschwellige Konflikte, die ansonsten leicht übersehen werden, und erlaubt Rückschlüsse von den Auswirkungen einer eingeschränkten oder fehlenden zivilen Kontrolle in einzelnen Politikbereichen auf das demokratische System insgesamt. Letzteres ist schon deshalb essenziell, da es für die Effektivität der Demokratie einen Unterschied macht, ob Militärs die Zusammensetzung von Kabinetten und Parlamenten beeinflussen und eine Regierung zum Rücktritt zwingen können, ob sie eine eigene, parallele Außenpolitik fahren oder ob sich ihre Autonomie von der Politik „nur“ auf Regelungen zu ihrer inneren Verfasstheit beschränkt. Schließlich kann auch systematisch berücksichtigt werden, in welchen Bereichen die politischen Eliten versuchen, ihre Kontrolle auszudehnen, wo das Militär nach Autonomie und Einfluss strebt und welche Politikarenen besonders anfällig für Konflikte sind.

Der auf Fallstudien basierende qualitative Vergleich unter Einbeziehung der auf Interviews und intensive Materialsammlung, Datenerhebung und -auswertung gestützten Methode der Prozessanalyse fördert drei Hauptbefunde zutage.

Erstens: Am weitesten vorangeschritten ist die Neuordnung der zivil-militärischen Beziehungen in Taiwan und Südkorea. In den anderen politischen Systemen ist sie unvollständig geblieben. Allerdings muss auch hier differenziert werden. Die Bandbreite der Zustandsbeschreibungen reicht von der bedingten Unterordnung des Militärs in Indonesien über die Machtteilung zwischen zivilen und militärischen Eliten in Bangladesch und auf den Philippinen bis hin zur Kontrolle weiter Bereiche des politischen Prozesses durch das Militär in Pakistan und Thailand, wo die Streitkräfte als Staat im Staate ein unkontrollierbares Eigenleben führen und sich trotz gewählter Parlamente und ziviler Regierungen die Entscheidung vorbehalten, ob, wann und wie sie gegebenenfalls an die Macht zurückkehren.

Zweitens unterscheiden sich Problemdruck, Herausforderungen und Reformagenden deutlich: In Südkorea und Taiwan, teilweise auch in Indonesien, sind die Etablierung von Verfassungsprinzipien, ihre gesetzliche Verankerung und die Zustimmung zu den Normen von Demokratie und ziviler Kontrolle weit vorangeschritten. In den Vordergrund treten nun Fragen der Effizienz und Effektivität der geschaffenen Institutionen und der vollständigen Durchsetzung ziviler Autorität auch in jenen Teilarenen der zivil-militärischen Beziehungen, die weniger herrschaftssensibel sind als die Rekrutierung politischen Führungspersonals, insbesondere die Bereiche der Militärorganisation und Verteidigungspolitik. Die übrigen Staaten hingegen sind weiterhin auf der Suche nach einem tragfähigen Modell der zivil-militärischen Beziehungen, das es erlaubt, Konflikte zwischen Militär und Politik friedlich und in demokratieverträglicher Weise zu regeln.

Drittens variieren die Auswirkungen der zivil-militärischen Beziehungen auf die Funktion und Qualität der Demokratie. Neben der demokratietheoretisch und demokratiepraktisch eminenten Frage, wer in einem politischen System die Herrschaft ausübt, strahlt das Problem weit in andere Bereiche der Politik und des Verhältnisses von Bürger und Staat hinein. So lässt sich erkennen, dass mit der Gewährung von reservierten Politikbereichen und Vetorechten für das Militär allgemein ein latentes Bedrohungspotenzial für die junge Demokratie existiert, das in Krisenzeiten das Militär dazu prädestiniert, als „vermittelnde Macht“ aufzutreten. Aber auch „weiche“ Formen der Einschränkung ziviler Kontrolle – etwa die Ausnutzung von Informationsasymmetrien, um von den Vorgaben der demokratisch legitimierten Entscheidungsträger abweichende sicherheitspolitische Präferenzen zu realisieren – beeinträchtigen die effektive Regierungsgewalt demokratischer Regierungen, das Vertrauen der Bürger in die Institutionen der Demokratie und die Legitimation demokratischer Herrschaft. Schließlich beeinflusst das Zusammenspiel von zivilen und militärischen Eliten auch die Bereitstellung von Kollektivgütern wie Sicherheit, den Schutz von Menschenrechten oder die Regulierung innergesellschaftlicher Konflikte.

Reformwege: Strukturen, Pfade, Strategien
Um zu ergründen, warum es zur Transformation der zivil-militärischen Beziehungen kommt und wie sie sich vollzieht, wurde im Heidelberger Projekt ein strategischer Ressourcenansatz entwickelt. Der Zustand der zivil-militärischen Beziehungen allgemein und insbesondere der zivilen Kontrolle ist demnach das Ergebnis der Interaktion von zivilen und militärischen Eliten. Dabei können demokratische Autoritäten aus unterschiedlichen Strategien im Umgang mit dem Militär wählen. Das Repertoire der verfügbaren Handlungsoptionen wird jedoch durch die bereits bestehenden Institutionen, die Erblasten der autoritären Herrschaft sowie durch viele Einflüsse aus Gesellschaft, internationalem System und Wirtschaft beeinflusst. Die Wahlmöglichkeiten der Zivilisten und der Erfolg ihrer Kontrollstrategien werden dementsprechend durch die Ressourcen bedingt, zu welchen sie Zugang haben und die es ihnen gestatten, Veränderungen der zivil-militärischen Beziehungen zu initiieren.

Das Menü ziviler Handlungsoptionen umfasst harte, tief in die Streitkräfte hinein wirkende Maßnahmen wie die Schaffung von neuen, zivilen Institutionen zur Überwachung und Lenkung der Streitkräfte, von parallelen Machtorganisationen wie paramilitärischen Milizen, Präsidentengarden oder intramilitärischen Überwachungseinheiten bis hin zur Bestrafung militärischen Fehlverhaltens, etwa bei der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen durch Soldaten. Dazu zählen aber auch „weichere“ Maßnahmen wie die Ernennung politisch loyaler Offiziere, die Reorganisation der Offiziersausbildung und der militärischen Führungsprinzipien, um die Akzeptanz der demokratischen Normen im Militär zu stärken, oder die Beschwichtigung der Militärführung durch die Gewährung von institutionellen Privilegien, Karrierechancen in Staat und Politik und neue Missionsprofile, beispielsweise im Rahmen von Blauhelm-Missionen der Vereinten Nationen.

Zu den ersten Befunden der Fall- und Vergleichsanalysen gehört unter anderem, dass zivile Regierungen in Asien während des politischen Umbruchs und in den ersten Jahren der Demokratie in aller Regel nicht über die Handlungsressourcen verfügen, um robuste Strategien gegenüber dem Militär zu fahren. Meist greifen sie auf weniger konfliktträchtige Ausweichstrategien zurück. Dabei erweist sich insbesondere die Personalpolitik als ein wichtiger Hebel für Regierungen in jungen Demokratien. Die Institutionalisierung der zivilen Dominanz im Sicherheitssektor erfolgte, wenn überhaupt, erst später. Innere und am Leitbild eines demokratischen Professionalismus orientierte Reformen der Streitkräfte, die den Mangel an demokratischen Einstellungen im Offizierskorps in den Blick nehmen, sind selten. Wo es zu inneren Anpassungen des Militärs an die veränderten Gegebenheiten der Demokratie kommt, sind sie eher vom Bestreben der Streitkräfte getrieben, Professionalismus und innere Integrität zu stärken, als vom Reformwillen der politischen Akteure. Ferner hängen Erfolg oder Scheitern von Reformen in hohem Maße von der Formierung zivil-militärischer Reformkoalitionen ab. Dort, wo diese Allianzen zwischen demokratischen Eliten und reformbereiten Militärs fehlen, müssen Veränderungen der zivil-militärischen Beziehungen gegen den Willen der Streitkräfte durchgesetzt werden, wozu die zivile Politik aber insbesondere dann nur schwerlich in der Lage ist, wenn sie einem hierarchisch geschlossenen und ideologisch geeinten Militär gegenübersteht, das seine schon im autoritären Regime bestehenden Vorrechte über den Wechsel von der Diktatur zur Demokratie hinüberretten konnte. Schließlich zeigt sich, dass neben der unterschiedlichen Rolle des Militärs im alten Regime und dem Einfluss der Streitkräfte auf die Transition der Verlauf der postautoritären Entwicklung selbst erhebliche Auswirkungen auf die Neuordnung der zivil-militärischen Beziehungen hatte.

In der Logik unseres Ansatzes versorgt eine breite Unterstützung der Bürger für die Demokratie die demokratischen Eliten mit Legitimationsressourcen, um auch gegen Widerstand ihre Autorität über Militär und Sicherheitssektor geltend zu machen und auf Dauer sicherzustellen. Daher erstaunt es nicht, dass die Durchsetzung ziviler Kontrolle in Südkorea und Taiwan am weitesten vorangeschritten ist, da hier unter Bürgern, Parteien und Eliten breiter Konsens bestand über den zivilen Charakter der neuen politischen Ordnung, die Beseitigung der verbliebenen Rechtsprechung des autoritären Regimes sowie die Beendigung der militärischen Vorrechte. Umgekehrt wurde die Position der zivilen Eliten gegenüber dem Militär in Thailand, Bangladesch und auf den Philippinen durch die schwache Verankerung der Demokratie bei Bürgern und Eliten, Konflikte zwischen zivilen Teileliten und deren Streben nach Unterstützung durch das Militär („Klopfen ans Kasernentor“) deutlich geschwächt.

Insgesamt zeigt sich, dass die politischen Umbrüche der letzten drei Dekaden Veränderungsprozesse im Verhältnis von Militär und Politik angestoßen haben. Die Beharrungskraft der bestehenden Institutionen ist jedoch beträchtlich. Oftmals markiert der Übergang zur Demokratie nur scheinbar einen tiefen Bruch in den zivil-militärischen Beziehungen eines Landes, häufig dominieren die Kontinuitäten in den Haltungen, Institutionen und Praktiken der Beziehungen von Militär und Politik.

Der Fall Libyen
Allerdings stehen diese Ergebnisse unter einem doppelten Vorbehalt. Zum einen resultieren sie aus noch laufenden Forschungen und längst nicht alle theoretisch interessanten Befunde sind abschließend ausgewertet. Zum anderen gilt es, die Verallgemeinerungen in weiteren Vergleichsstudien sowohl innerhalb Asiens als auch in anderen Forschungsregionen zu überprüfen. Insbesondere der Vergleich mit den demokratischen Systemwechseln in Lateinamerika, Afrika südlich der Sahara und dem postkommunistischen Raum bietet sich hier an.

Vor allem aber hat sich mit den jüngsten Umbrüchen im Nahen und Mittleren Osten neuer Forschungsbedarf zum Thema ergeben, zumal die Erforschung der zivil-militärischen Beziehungen im arabischen Raum seit langer Zeit kaum noch auf der Agenda der Regional- oder Sozialwissenschaften stand. Die Zahl der systematischen Analysen zur Stellung des Militärs in den Autokratien der Region ist gering, neuere Studien sind rar. Letztere sind aber, wie auch in diesem Essay thematisiert, zentral für das Verständnis der Rolle, die die nationalen Streitkräfte in den aktuellen Prozessen spielen.

Zu denken ist etwa an den Unterschied zwischen Ägypten und Tunesien, wo das Militär dem Regime jeweils die Loyalität aufkündigte und damit den Weg zum friedlichen Kollaps der bestehenden Diktatur frei machte, und der Haltung der Streitkräfte in Syrien, die bislang überwiegend treu zu den Regimeführern stehen. Interessant ist auch der Kontrast zum Fall Libyen. Der Aufbau einer dualen Militärstruktur aus regulären Streitkräften und einem darüberliegenden Netz von Milizen, nicht-militärischen Sicherheitsdiensten und Prätorianergarden außerhalb der Befehlsstruktur der Streitkräfte unter Oberst Gaddafi erfüllte zwar seinen Zweck, nämlich das Entstehen eines hierarchisch geeinten, politisch auch in Opposition zum Regimeführer handlungsfähigen Militärapparats zu verhindern. Dies geschah allerdings um den Preis einer fast vollständigen Deinstitutionalisierung der zivil-militärischen Beziehungen. Die organisatorische Zersplitterung des Sicherheitssektors, die zahlreichen internen Konflikte zwischen rivalisierenden Organisationen, Einheiten und Cliquen sowie die subalterne Stellung des Militärs im Herrschafts- und Unterdrückungsapparat des Regimes förderten sein Auseinanderbrechen auf dem Höhepunkt der Regimekrise. Eine der Herausforderungen, denen sich die Übergangsregierung nun gegenübersieht, wird darin bestehen, aus den Trümmern der staatlichen Streitkräfte und der Vielzahl nur lose verbundener Rebelleneinheiten eine geeinte, professionelle und zugleich dem Primat der zivilen Führung verpflichtete nationale Armee zu schaffen. Hierin liegt eines der größten Obstruktionspotenziale für die politische und staatliche Neuordnung des Landes in der nachrevolutionären Phase.

Die Rolle des Militärs in Zeiten des politischen Umbruchs ist grundsätzlich von großer Bedeutung für die zivil-militärischen Beziehungen nach dem Ende von Autokratien und für die Effektivität und Qualität der möglicherweise danach entstehenden Demokratie. Diese Prozesse zu erforschen, ist eine dringliche Herausforderung für die Regional- und Politikwissenschaft. Die hier vorgestellten Hypothesen, Befunde und Generalisierungen bieten wichtige Anknüpfungspunkte, um diese Herausforderung zu bewältigen.

 

Prof. Dr. Aurel Croissant  
Foto: Friederike Hentschel, Heidelberg

Prof. Dr. Aurel Croissant unterrichtet seit dem Jahr 2006 Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg. Zuvor forschte und lehrte er an der Naval Postgraduate School in Monterey, CA, zu den politischen Systemen in Südostasien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die theoretische und empirisch-vergleichende Demokratieforschung, die politischen Systeme in Ost- und Südostasien sowie die empirisch-vergleichende Konfliktforschung.
Kontakt: aurel.croissant@uni-heidelberg.de
www.uni-heidelberg.de/politikwissenschaften/personal/croissant/croissant.html

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 14.01.2012
zum Seitenanfang/up