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Im Fokus der Mensch

Wie werden Patienten unter Alltagsbedingungen vom Hausarzt, dem Facharzt oder in Krankenhäusern versorgt?
von Gunter Laux und Joachim Szecsenyi


Werden Privatpatienten, die an Bluthochdruck erkrankt sind, besser behandelt als Kassenpatienten? Sind Diabetiker, die regelmäßig an Schulungen teilnehmen, gesünder als Diabetiker in der Regelversorgung? Das sind zwei Beispiele für Fragen, die Versorgungsforscher interessieren. Sie vertreten eine noch junge wissenschaftliche Disziplin, die konsequent den Menschen und die Qualität seiner tatsächlichen medizinischen Behandlung in den Mittelpunkt stellt.


Was Versorgungsforschung ist, was Versorgungsforscher tun und was sie für die Patienten zu leisten vermögen, lässt sich exemplarisch an einer Studie der Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung der Universitätsklinik Heidelberg zeigen, die folgende Frage stellte: „Werden Privatpatienten, die an Bluthochdruck leiden, besser behandelt als Kassenpatienten?“ Das Ergebnis der Studie: Nein, beide Patientengruppen werden gleich gut versorgt – aber die Therapiekosten bei privat versicherten Patienten liegen um über 60 Prozent höher als bei gesetzlich versicherten Patienten.

Was also ist „Versorgungsforschung“? In Deutschland hat sich folgende Definition durchgesetzt: „Versorgungsforschung ist ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert.“ (Pfaff H, 2010)

 

Foto: Georg Schreiber, Essen  
Foto: Georg Schreiber, Essen

Drei wesentliche Eigenschaften der neuen Forschungsdisziplin lassen sich aus dieser Definition ableiten:

  • Die Versorgungsforschung ist patientenorientiert: Im Fokus stehen immer die Qualität der Patientenversorgung und die Bedürfnisse des Patienten.
  • Die Versorgungsforschung ermittelt unter Alltagsbedingungen: Das Ermitteln von Ergebnissen der medizinischen Versorgung unter Alltagsbedingungen („Effectiveness“) ist sehr wichtig. Denn die aus kontrollierten Studienbedingungen („Efficacy“) stammenden Ergebnisse können von den Ergebnissen, die unter Alltagsbedingungen beobachtet werden, oft erheblich abweichen.
  • Die Versorgungsforschung ist multidisziplinär und multiprofessionell.


Die medizinische Versorgung von Patienten ist ein komplexes Geschehen, an dem viele unterschiedliche Leistungserbringer beteiligt sind. Um Fragen der Versorgungsforschung angemessen beantworten zu können, ist es meist erforderlich, dass Vertreter unterschiedlicher Fachdisziplinen (Multidisziplinarität) miteinander kooperieren. Das Umsetzen von Verbesserungsmaßnahmen erfordert in der Regel, dass die Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen eng zusammenarbeiten (Multiprofessionalität).

Die wesentlichen Teilgebiete der Versorgungsforschung sind die Bedarfsforschung, die Inanspruchnahmeforschung, das sogenannte Health Technology Assessment, die Versorgungsökonomie und die Versorgungsepidemiologie.

 

Foto: Georg Schreiber, Essen  
Foto: Georg Schreiber, Essen

 

Wie geht es dem Patienten?

Die Bedarfsforschung fokussiert auf den subjektiven und objektiven Versorgungsbedarf und dessen Einflussfaktoren. Die Inanspruchnahmeforschung befasst sich mit der Quantität und Qualität der Nutzung des Versorgungssystems sowie mit den Zugangsoptionen. Durch „Health Technology Assessments“ (HTA) werden Versorgungstechnologien hinsichtlich Leistung und Kosten evaluiert. Die Versorgungsökonomie konzentriert sich auf das Ermitteln von Kosten des Versorgungssystems durch den Verbrauch von Ressourcen und auf die Gegenüberstellung von Aufwendungen und Ergebnissen. Bei der Versorgungsepidemiologie stehen patientenseitige Faktoren wie Wohlbefinden, Lebensqualität oder Lebenserwartung im Mittelpunkt.

Die Funktionen der Versorgungsforschung sind vielfältig. Sie kann etwa die Kranken- und Gesundheitsversorgung beschreiben (Deskriptionsfunktion) oder die potenziellen Ursachen einer bestimmten Versorgungssituation aufzeigen (Erklärungsfunktion). Die Konzeptentwicklungsfunktion wiederum zielt darauf ab, anhand gewonnener Erkenntnisse sinnvolle Versorgungskonzepte oder erforderliche Interventionen zu entwickeln.Die Evaluationsfunktion bewertet und steuert die Umsetzung von Versorgungskonzepten oder Interventionen unter realen Bedingungen. Die Belegfunktion schließlich zielt darauf ab, die tatsächliche Wirksamkeit neu umgesetzter Versorgungskonzepte oder Interventionen nachzuweisen und zu dokumentieren.

Zum Spektrum der Versorgungsforschung zählen viele unterschiedliche Fragestellungen, und es liegt deshalb nahe, dass es keine bestimmte, allein gültige Methode der Versorgungsforschung gibt. Dementsprechend werden bei Studien zur Versorgungsforschung viele unterschiedliche Methoden eingesetzt.

Beim „Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung“ (DNVF) besteht ein plausibler Grundkonsens bezüglich der Anwendung dieser Methoden: Es gilt das Prinzip der Angemessenheit – und je nach Fragestellung gibt es mehr oder weniger angemessene Methoden. Im Zuge der evidenzbasierten Medizin wurde ein allgemein anerkanntes Instrumentarium entwickelt, um klinische Studien zu bewerten, welche die primäre Wirksamkeit von medizinischen Maßnahmen evaluieren. Für die noch relativ junge Disziplin der Versorgungsforschung wird dieses Instrumentarium noch entwickelt.

Um Studien der Versorgungsforschung zu bewerten, schlagen einige Autoren mehrere methodische Kriterien vor. Sie zielen auf die Definition der Forschungsfrage, die Art und Validität des Studiendesigns, die verwendeten Indikatoren, die Qualität und Quantität der Datenbasis sowie das hinter der Studie stehende Interesse und deren Adressaten bezüglich potenzieller Handlungskonsequenzen ab.

 

Foto: Georg Schreiber, Essen  
Foto: Georg Schreiber, Essen

 

In Baden-Württemberg zeichnet sich derzeit eine erfreuliche Entwicklung ab, die darauf zielt, die wichtige Disziplin der Versorgungsforschung nachhaltig auszubauen und Forschungsvorhaben standortübergreifend zu koordinieren. Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst hat in Abstimmung mit dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien und Senioren ein Förderprogramm aufgelegt, um bereits bestehende Aktivitäten zur Versorgungsforschung zu stärken und neue versorgungsrelevante Projekte zu initiieren. Übergeordnetes Ziel ist dabei, Forschungsaktivitäten zu bündeln und dadurch eine Umgebung zu schaffen, die für alle Beteiligten einen Mehrwert erwarten lässt. Diese kooperative Vernetzung der Forschungseinrichtungen soll mittel- bis langfristig zu einem nachhaltigen Ausbau der Forschungskompetenzen in Baden-Württemberg führen.

Forschungsschwerpunkte in Heidelberg

Anfang des Jahres 2011 hat die „Koordinierungsstelle Versorgungsforschung Baden-Württemberg“ ihre Arbeit aufgenommen. Die Koordinierung erfolgt durch die Abteilung „Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung“ in der Universitätsklinik Heidelberg. Gleichzeitig wurden an allen Medizinischen Fakultäten des Landes (Freiburg, Heidelberg, Mannheim, Tübingen und Ulm) und am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim lokale Koordinierungsstellen eingerichtet.

 

Foto: Georg Schreiber, Essen  
Foto: Georg Schreiber, Essen

Auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist für die Versorgungsforschung ein wesentliches Ziel. Es wurde kürzlich mit der Gründung einer „Nachwuchsakademie Versorgungsforschung Baden-Württemberg“ realisiert. In der Nachwuchsakademie erhalten junge Wissenschaftler verschiedener Disziplinen die Gelegenheit, sich in einem möglichst frühen Stadium ihres Werdegangs eigenverantwortlich mit Fragen der Versorgungsforschung zu beschäftigen. Auf der Basis eigener Ideen wurden Nachwuchsforscher aus Baden-Württemberg beispielsweise dazu ermutigt, Projektskizzen bei der Zentralen Koordinierungsstelle Versorgungsforschung in Heidelberg als Basis für eine mögliche Projektförderung einzureichen. Die Fördermittel werden vom baden-württembergischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst zur Verfügung gestellt. Ein unabhängiges wissenschaftliches Gutachtergremium hatte im April 2011 die „Qual der Wahl“ und wählte aus 79 Projektskizzen die 20 förderungswürdigsten aus. Schon im Mai 2011 nahmen die 20 ausgewählten Jungforscher an einem dreitägigen Auftaktseminar in der Nachwuchsakademie teil, in dem die Nachwuchswissenschaftler von erfahrenen Versorgungsforschern wissenschaftlich gefordert und gefördert wurden.

Am Universitätsklinikum Heidelberg hat die Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung ihrem Forschungs- und Lehrauftrag folgend eine exponierte Stellung hinsichtlich der Bearbeitung und Koordinierung aktueller Fragen der Versorgungsforschung im Raum Heidelberg. Thematische Schwerpunkte sind etwa die Qualität der Versorgung und deren Sicherstellung bei chronisch kranken und multimorbiden Patienten. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Integration nichtärztlicher Gesundheitsberufe und das Nutzen komplementärmedizinischer Behandlungsansätze, um die Versorgung der Patienten zu erweitern und potenziell zu verbessern. Auch versorgungsökonomische Fragen, insbesondere Kosten- und Nutzenanalysen von pharmakotherapeutischen Maßnahmen, zählen zu den Forschungsfeldern der Abteilung.

 

Foto: Georg Schreiber, Essen  
Foto: Georg Schreiber, Essen

Das methodische Spektrum innerhalb der Abteilung ist breit und reicht von explorativen Untersuchungen mit qualitativen oder quantitativen Methoden bis hin zu multizentrischen cluster-randomisierten Studien oder der Evaluation komplexer Interventionen. Auch die Konzeption, Implementierung und Nutzung großer Register zum Beantworten von Fragen der Versorgungsforschung zählen zum methodischen Repertoire der Abteilung, die bereits zahlreiche eigene Projekte auf den Weg gebracht hat. Als Kooperationspartner ist die Abteilung zudem in viele Forschungsprojekte eingebunden.

Ein Beispiel für eine Studie zur Versorgungsforschung aus unserer Abteilung ist die Etablierung eines Forschungsnetzwerks zur kontinuierlichen Morbiditätsregistrierung und -analyse in der Hausarztpraxis im Rahmen des vom BMBF geförderten Projekts CONTENT (CONTinuous morbidity registration Epidemiologic NeTwork). Der Kern dieses Netzwerks ist ein Register, das Daten einer besonders detaillierten medizinischen Dokumentation von Hausärzten zusammenführt.

Dies ermöglicht es, Fragen zur morbiditätsbezogenen Versorgungslage im primärärztlichen Bereich zu beantworten, die allein mit den routinemäßig erfassten Abrechnungsdaten nicht zu beantworten wären. Im CONTENT-Register sind mittlerweile Daten von über 140 000 Patienten und von mehr als 1,9 Millionen Kontakten von sowohl gesetzlich wie privat versicherten Patienten mit ihren Ärzten enthalten.

Eine Studie zur medikamentösen Behandlung von Patienten mit Bluthochdruck ergab, dass beide Patientengruppen hinsichtlich der Blutdruckeinstellung gleich gut versorgt wurden. Allerdings lagen die Therapiekosten bei privat versicherten Patienten um 63,2 Prozent höher als bei gesetzlich versicherten Patienten. Die höheren Kosten beruhten auf dem hohen Anteil sogenannter Angiotensin-II-Rezeptoren-Blocker zur Blutdrucksenkung, die aufgrund des noch bestehenden Patentschutzes ein hohes Preisniveau haben, und dem niedrigen Anteil an Generika, die privat versicherten Patienten verordnet wurden.

Das Ziel einer weiteren Studie (Evaluation of a Large Scale Implementation of Disease Management Programmes; ELSID) war die Evaluation eines sogenannten Disease Management Programms (DMP) für Typ-2-Diabetiker. Hinter dem Programm steht die Idee, dass bestimmte chronische Erkrankungen einer qualitativ besonders hochwertigen Versorgung bedürfen, zu der auch regelmäßige Kontrollen und intensive Patientenschulungen gehören.

Die Ergebnisse der ELSID-Studie zeigen, dass sich diejenigen Diabetiker, die am DM-Programm teilnahmen, von ihrem Arzt besser versorgt fühlen als Nicht-DMP-Teilnehmer. Eine Patientenbefragung ergab beispielsweise, dass die DMP-Teilnehmer mit dem Ablauf und der Organisation ihrer Behandlung deutlich zufriedener sind als Patienten in der Regelversorgung. DMP-Teilnehmer werden zum Beispiel häufiger nach ihren Vorstellungen bei der Gestaltung des Behandlungsplans gefragt.

Die Studienergebnisse zeigen darüber hinaus, dass Patienten, die unter mehreren Erkrankungen leiden, in besonderem Maße von der Teilnahme an einem DM-Programm profitieren. Die multimorbiden Patienten erreichen bei der Frage nach ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität deutlich bessere Werte als die Patienten in der Regelversorgung. Frauen profitieren dabei hinsichtlich ihrer Lebensqualität mehr von DMP als Männer. Interessanterweise lag die Sterblichkeitsrate bei den Diabetikern, die an einem DM-Programm teilnahmen, deutlich niedriger als bei Patienten, die nicht in ein solches Programm eingeschrieben waren.

Die positiven Ergebnisse bezüglich Sterblichkeitsrate und Lebensqualität der DMP-Teilnehmer sind unserer Einschätzung nach darauf zurückzuführen, dass im DM-Programm aufgrund regelmäßiger Untersuchungstermine, des Vereinbarens von Therapiezielen, der Teilnahme an Schulungen und der gezielten Informationen für Patienten und Ärzte gesundheitliche Komplikationen und Probleme der Patienten vermieden beziehungsweise schneller erkannt werden. Zudem erhalten die Patienten im DMP offenbar mehr soziale Unterstützung. Bemerkenswert ist schließlich, dass die Versorgungskosten der DMP-Teilnehmer geringfügig unter den Versorgungskosten der Nicht-DMP-Teilnehmer liegen.

Die Versorgungsforschung ist eine noch junge Disziplin, die als Teilgebiet der Gesundheitsforschung vor allem auf die Mikroebene des Gesundheitssystems fokussiert – also auf die tatsächliche Versorgung des Patienten in Arztpraxen und Krankenhäusern. Bei der Betrachtung dieser „letzten Meile“ der Gesundheitsversorgung steht stets der Patient im Mittelpunkt. In Deutschland gibt es derzeit noch vereinzelt Abgrenzungsprobleme zur Public-Health-Forschung. Neuere Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Versorgungsforschung für viele Fragen einen eigenständigen Erkenntnisgewinn liefern kann. Insbesondere zeigen zahlreiche Studien der Versorgungsforschung auf, dass Ziele der Versorgungsqualität und Versorgungsökonomie in vielen Fällen parallel verfolgt werden können.

 

Priv.-Doz. Dr. Gunter Laux  

Priv.-Doz. Dr. Gunter Laux ist seit dem Jahr 2005 in der Abteilung „Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung“ des Universitätsklinikums Heidelberg wissenschaftlich tätig. 2010 habilitierte er im Fach Versorgungsforschung.


Kontakt: g.laux@med.uni-heidelberg.de

 

 

 

 

 

 

Prof. Dr. Joachim Szecseny  

Prof. Dr. Joachim Szecsenyi ist seit dem Jahr 2001 Ärztlicher Direktor der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung.

Kontakt: joachim.szecsenyi@med.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 23.09.2011
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