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Wir brauchen mehr Bewusstseinsschärfe im Recht

Wie wir mit neuem Wissen verantwortlich umgehen können
von Paul Kirchhof


Forschung und Technik häufen unentwegt neues Wissen an. Dieses Wissen lässt sich verwenden, um Krankheiten zu heilen, die Welt zu verstehen oder die Begabungen und Fähigkeiten anderer Menschen zu fördern. Der Wissende kann die Macht des Wissens aber auch nutzen, um andere zu beherrschen und den Staat, die Allgemeinheit zu lenken. Um verantwortlich mit neuem Wissen umzugehen, bedarf es einer Bewusstseinsbildung und Bewusstseinsschärfe im Recht. Denn nur wenn das Recht dieses Verantwortungsbewusstsein schafft, kann es bei der Regel eines freiheitlichen Staates bleiben: Freiheit beginnt mit dem Vertrauen in die Verantwortlichkeit des Freiheitsberechtigten.

Collage  
Collage: Jan Neuffer



Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik gibt den Menschen immer mehr Wissen über andere, befähigt sie, von einem anderen etwas zu wissen, ohne dass dieser davon etwas ahnt oder auch selbst dieses Wissen über sich gewinnen könnte. Die Technik kann das liebevoll gesprochene höchstpersönliche Wort abhören, der Arzt Krankheiten des Patienten diagnostizieren, ohne dass dieser sich schon krank fühlt, die Gentechnik vielleicht bald die Endlichkeit des einzelnen Menschen konkret voraussagen, obwohl dieser ohne dieses Wissen unbeschwerter leben mag.

Die Technik verstetigt dieses Wissen. Das flüchtige Wort wird aufgezeichnet, der Augenblick fotografiert, das Datenmaterial im Computer gesammelt, gesichtet, weitergegeben, veröffentlicht. Die Kunst des Vergessens droht verloren zu gehen. Der Staat verpflichtet sich deshalb bewusst zur Vergesslichkeit. Die Daten über die Straftat und die Strafverbüßung eines Täters werden nach bestimmten Fristen gelöscht. Die persönlichkeitsbezogenen Daten werden zweckgebunden, anonymisiert, vernichtet. Rechtswidrig ermittelte Tatsachen dürfen in einem Gerichtsprozess nicht verwertet werden.

Traditionell garantiert das Verfassungsrecht Räume – die Wohnung, das Haus –, in denen der Berechtigte sicher ist, nicht gehört, nicht gesehen, nicht in eine Begegnung mit anderen gedrängt zu werden. Ein Kern des individuellen Persönlichkeitsrechts garantiert jedem einzelnen Menschen, sich den Mitmenschen und der Öffentlichkeit nach eigenem Belieben darzustellen, sich zu zeigen oder verborgen zu halten, zu sprechen oder zu schweigen, auch in der Öffentlichkeit anonym zu bleiben oder sich fotografieren zu lassen.

Doch der Druck der Medien und des Staates, über den Einzelnen mehr und möglichst alles zu wissen, wird größer. Wer im Sport, in der Kunst, in der Politik in die Öffentlichkeit drängt, muss sich gefallen lassen, als öffentliche Person behandelt zu werden. Wer einen Angriff auf den Staat und sein Recht im Verborgenen vorbereitet, muss gewärtigen, dass der Staat seine Güter präventiv bereits im Bereich dieses Verborgenen zu schützen sucht. Wer sich von der Vielfalt der Datensammlungen, der Bildgebung und Bildschöpfung mehr Sicherheit, mehr öffentliche Planbarkeit, mehr wissenschaftliche Erkenntnis erhofft, sieht sich Daten gegenüber, die den Betroffenen auch bedrängen und einschüchtern, provozieren und entlarven können. Die Medien werden zum Voyeur, der Staat zum Geheimkontrolleur.

 

Collage: Jan Neuffer  
Collage: Jan Neuffer


Das technische Erfassen und Aufbereiten dieses Wissens entwindet die Wissensmacht dem einzelnen Menschen und entlässt sie in die Macht der Technik. Die CD kann weitergegeben, ihr Inhalt weit gestreut werden. Wenn dann selbst rechtswidrig erworbene Datenträger gekauft werden können, der Staat sich sogar an diesem Kauf beteiligt, unterläuft die Macht des Geldes den Schutz des Rechts. Das Pressearchiv ist nicht mehr gegen den Zugriff zahlungsbereiter Neugier gesichert. Die Patientenkartei des Arztes wird für Kaufangebote anfällig. Die Akte des Strafverteidigers bleibt nicht mehr für Unbefugte strikt geschlossen. Eine Kultur des Vertrauens, damit ein Stück Privatheit und Berufsfreiheit gehen verloren. Und schon das bloße Gefühl, überwacht werden zu können, einem drohenden öffent-lichen Pranger entgegenzusehen, Ermittlungen des Staates allein durch individuelle Legalität nicht abwehren zu können, schüchtert den Bürger ein, schwächt die Voraus-- setzung grundrechtlichen Schutzes, das Selbstbewusstsein und den Stolz des Bürgers auch gegen den Staat in der Sicherheit rechtmäßigen eigenen Verhaltens.

Der Bürger gewinnt Vertrauen zu seinem Staat nur, wenn ihm dessen Handlungsmaßstäbe vertraut sind, das Staatsorgan nach allgemein bekannten Maßstäben ersichtlich, beobachtbar und für den Betroffenen kontrollierbar handelt. Freiheit baut auf Freiheitsvertrauen in den anständigen Bürger, den ehrbaren Kaufmann. Rechtswidrigkeit und Kriminalität sind strukturell in die Singularität und die verfassungsrechtlich disziplinierte Gegenwehr des Staates verwiesen. Freiheitliche Normen folgen der freiheitlichen Normalität. Doch das private Interesse am Verbergen und das öffentliche Interesse am Wissen bringen Grenzen in Bewegung, was ein neues Denken über Wissensdurst und Wissensmacht notwendig erscheinen lässt.

Wissen gibt Macht. Der Wissende kann Krankheiten heilen, seine Daten zur Forschung einsetzen, höchstpersönliche Fähigkeiten und Begabungen des Menschen, von besonderer Intelligenz bis zur Triebhaftigkeit, aufdecken, dem Betroffenen Schwächen und Stärken bewusst machen oder an die Allgemeinheit weitergeben, einen anderen dank seines Wissens beherrschen. Mancher Genetiker denkt an Reihenuntersuchungen von Paaren mit Kinderwunsch, um sie vor der Möglichkeit eines gemeinsamen behinderten Kindes zu warnen, bei Missachtung dieser Warnung ihnen vielleicht auch rechtliche Verantwortung zuzuweisen, Verbote und Haftung anzuregen.

Dabei ist Wissen stets Wahrscheinlichkeit. Genetische Untersuchungen sind oft schwierig zu interpretieren, können nicht stets so individualisiert werden, dass gewichtige Konsequenzen – der Verzicht auf Nachkommen oder vorbeugende Operationen bei erblichen Erkrankungen – zu rechtfertigen wären. Manches Anfangswissen erlaubt nur Spekulationen über zukünftige medizinische Entwicklungen, insbesondere die wachsenden Möglichkeiten von Diagnose und Therapie.

Wissen ist Last. Das Wissen, an einer nicht heilbaren Krankheit zu erkranken, vielleicht gar ein Todesdatum annähernd vorausgesagt zu bekommen, kann den Betroffenen niederdrücken. Genetische Informationen können ängstigen, in Resignation und Verzweiflung führen, persönliche Verantwortlichkeit schwächen, Krankheiten auslösen. Wenn dann die daraus sich ergebenden Therapieempfehlungen – gesunde Ernährung, hinreichende Bewegung, Rauchverzicht, Vermeiden von übermäßigen Belastungssituationen – den allgemeinen Empfehlungen guter Lebensführung nahe kommen, wären diese Allgemeinratschläge wohl schonender als die individuelle Information, wenn auch nicht gleich wirksam. Zudem dürfte die Vorstellung, der Mensch sei ein von seinen Genen programmiertes Produkt der Natur, vielleicht zu schlicht, in der Sache wohl unrichtig sein. Viele Krankheiten entstehen und entwickeln sich im Zusammenwirken von genetischen Vorgaben, persönlicher Lebensführung, Umwelteinflüssen, Selbstbewusstsein und Lebensmut.

Collage: Jan Neuffer  
Collage: Jan Neuffer

 

Wissen wandert. Ein unter der Schutzglocke von Aufklärung, Einwilligung und Arztgeheimnis gewonnenes Wissen ist meistens mehreren Ärzten und ärztlichen Mitarbeitern bekannt, wird dokumentiert und technisch aufbewahrt, ist deshalb – wie jüngste Erfahrungen mit dem Bankgeheimnis im Steuerrecht lehren – nicht sicher. Würde dieses Wissen an Arbeitgeber, Versicherer, potenzielle Schwiegereltern weitergegeben, wäre der Betroffene in der Begegnung mit diesem überlegenen Wissen fast wehrlos. Das Gendiagnostikgesetz widmet sich eingehend dem Problem des Arbeitslebens und der Versicherer, vernachlässigt aber bisher die verbindende und trennende Kraft genetischen Wissens in der privaten Begegnung. Dennoch bemüht sich das Recht, das individualisierte genetische Wissen auf einen möglichst kleinen Kreis von Wissenden zu beschränken, den Datenschutz sicher zu machen, die Forschungsdaten im übrigen zu anonymisieren. Doch auch das Arztgeheimnis gibt ein Rechtsgut in die Hand von Menschen, macht es also fehler- und missbrauchsanfällig. Der sicherste Datenschutz wäre das Nichtwissen. Doch dieses ist dem Menschen in seiner Neugierde und seinem Erkenntnisstreben wohl kaum gegeben.

Wissen gibt Weite. Die Genforschung ist Ausgangspunkt für neue Therapien, mag die Chance eröffnen, schwere Erkrankungen wie Diabetes, Parkinson, Herz-Kreislauf-Störungen, Tumore zu heilen oder zu lindern. Die rechtliche Debatte über Genforschung und Gendiagnostik würde sich schlagartig verändern, könnte die Forschung heute Ergebnisse anbieten, die greifbare Heilungschancen für diese Krankheiten eröffnen. Vor allem will der Mensch den bisher begrenzten Raum seines  Erfahrungswissens ausdehnen, in Empirie und Kausalitäten sich und die Welt immer mehr verstehen, zugleich aber im Orientierungswissen auch die Welt ergründen, also immer mehr von den Maßstäben wissen, die ihn lehren, mit seinen empirischen Fähigkeiten umzugehen.

 

 
Collage: Jan Neuffer

 

Schließlich ist Wissen ein Wert. Dies gilt ideell, weil der Mensch durch Forschen und Erkennen seine Gestaltungsmöglichkeiten, seine Lebenssicht und sein Denken erweitert. Wissen ist auch am Markt verwertbar, ist ökonomisch ein Wert. Die Ergebnisse medizinischer Reihenuntersuchungen bieten empirisches Material für die Entwicklung und Verbreitung von Behandlungsmethoden und Arzneimitteln. Datenbanken enthalten Aussagen über Bedarf, Produktions- und Absatzchancen. Forschungsdaten sind ein Schwert im Kampf um Erkenntnisse und Rechte, um neue Produktionsweisen und Produkte.

Wenn ein Paar einen Arzt beauftragt, ihm durch eine Befruchtung außerhalb des Mutterleibes den Weg zum eigenen Kind zu bahnen, so ersetzt der Arzt ein Stück eines natürlichen Ablaufes durch menschliches Handeln. Dieses Handeln muss er verantworten. Nach unserem Rechtsverständnis ist Handeln für andere immer verantwortliches Handeln. Würde ein Embryo die Frau an Leib und Leben gefährden, wäre das Einpflanzen der Eizelle offensichtlich rechtswidrig und verboten. Wäre der Embryo nicht lebensfähig, endete die Schwangerschaft also in einer Fehl- oder Totgeburt, dürfte eine derart belastete Eizelle nicht eingepflanzt werden. Das kategorische Verbot, der Arzt dürfe nicht wissen, was er tut, ist deshalb in einem Recht individueller Verantwortlichkeit nicht vertretbar.

Andererseits kann ein genetischer Test an künstlich befruchteten Eizellen auf den Wunsch der Eltern treffen, nur ein bestimmtes Kind – ein gesundes, mit einem bestimmten Geschlecht, gar bestimmten Qualifikationen – haben zu wollen. Hier wird allein ein Nichtwissen die Frau hindern, die Eizelle bewusst anzunehmen oder zurückzuweisen. Damit droht in der Tat die schiefe Ebene, auf der ein Wissen über die Eizelle die fast beliebige Verfügung über diese Zelle zur Folge haben könnte. Das Aussortieren von Embryonen, allein weil sie jemandem – den Eltern, dem Arzt, einer Kommission, der Rechtsgemeinschaft – unerwünscht sind, würde Elementaranforderungen von Humanität verletzen. Die Prognose über Gesundheit und Krankheit des Embryos würde die Erkenntnisfähigkeit von heute vielfach überfordern, insbesondere wenn Erbkrankheiten zukünftig behandelbar sein werden. Die Entscheidung über die erhoffte Art des Kindes könnte sich nicht auf Freiheitsrechte berufen, sondern wäre anmaßende Herrschaft. Die Strafrechtsprechung will deshalb genetische Tests an Eizellen von der Wahrscheinlichkeit und Vermutung schwerer Schäden abhängig machen. Dabei muss das Ziel sein, den Blickwinkel des Informationseingriffs auf die Feststellungen zu begrenzen, aus denen Handlungspflichten oder Handlungsrechte folgen können.

Doch in der gegenwärtigen Phase der Maßstabsfindung sollten Aufgabe, Verantwortlichkeiten und Risiken der Präimplantationsdiagnostik zunächst außerhalb des Strafrechts erörtert werden. Durch eine Strafdrohung gerät der handelnde Arzt, der dem Kinderwunsch eines Paares entsprechen will und dabei Maßstäbe für sein eigenes Verhalten sucht, in eine Bedrängnis, die das Recht ihm derzeit nicht zumuten darf, die ihn zudem in eine Opferrolle drängt unddamit eine unbefangene Beurteilung von Tests an Eizellen erschwert. Außerdem spiegelt der Straftatbestand eine Maßstabssicherheit vor, die wir noch nicht haben, lädt Beurteilungslasten beim Strafrichter ab, für die das Verfassungsrecht, das Arztrecht und das Recht der Forschung noch Maßstäbe suchen.

„Auf ein bestimmtes Wissen ist zu verzichten, wenn dieses zu rechtswidrigen Hand-lungen des Menschen führt. Hier erscheint die Präimplantationsdiagnostik nur Vorbote einer Grundsatzfrage, vor die uns die Fortschritte moderner Forschung stellen werden.“

Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch 1993 offen gelassen, ob – „wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahe legen“ – menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht. Vorab ist die Frage zu klären, ob der verfassungsrechtliche Schutz erst mit der Einnistung in die Gebärmutter einsetzt, weil erst dann die natürliche, einem willentlichen Akt entzogene Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind beginnt, während nach der künstlichen Befruchtung die Mutter noch die Nidation verweigern darf, oder ob der Schutz bereits mit dem in der Befruchtung entstandenen Embryo einsetzt, weil jetzt der Mensch zu existieren beginnt.

Forschender wie behandelnder Arzt wollen ihr Handeln wissend verantworten. Ein Nichtwissen in Respekt vor dem Schicksalhaften setzt klare rechtliche Zuweisungen voraus. Jedenfalls ist auf ein bestimmtes Wissen zu verzichten, wenn dieses zu rechtswidrigen Handlungen des Menschen führt. Hier erscheint die Präimplantationsdiagnostik nur Vorbote einer Grundsatzfrage, vor die uns die Fortschritte moderner Forschung stellen werden. Auch hier sind wir in einer Phase der Maßstabsfindung, in der Arztethos, Forscherverantwortlichkeit, Wertesensibilität und Ehrbarkeit das Handeln leiten müssen.

Schließlich muss das Arzt- und Forschungsrecht in seiner Wechselseitigkeit klären, wann wem gegenüber welcher Informationseingriff zulässig ist. Dabei versagen die herkömmlichen Erfordernisse des Medizinrechts von Indikation, Aufklärung und Einwilligung. Der Informationseingriff soll eine Indikation ja gerade erst ermöglichen. Rechtssubjekt der Aufklärung und Einwilligung wären wohl die Eltern, deren Herrschaftsanspruch über den Embryo das Recht aber gerade einschränken will. Der Embryo soll nicht der Willkür der Eltern ausgeliefert sein. Erforderlich ist deshalb ein objektiver Maßstab.

Wenn ein Paar durch eine Befruchtung außerhalb des Mutterleibes seinen Kinderwunsch erfüllt sieht, bietet der Arzt diesen Menschen ein Glück, das er ihnen nicht vorenthalten darf. Doch ein Tauglichkeitstest für Gene kann das Rechtsbewusstsein der Menschen verändern. Die Mutter erwartet nicht mehr guter Hoffnung ihr Kind, sondern sieht dem Kind mit Bangen und Zagen entgegen, möchte die Ungewissheit der zukünftigen Geburt durch ein Stück „Qualitätsgewissheit“ verringern. Dadurch wird die Reichweite individueller Freiheit berührt. Freiheitsrechte geben nur Herrschaft über sich selbst und den eigenen Lebensbereich. In der Normalität einer Schwangerschaft finden die Rechte von Mutter und Kind eine gemeinsame Grundlage in der natürlichen Zweiheit in Einheit. Alle Eltern sollen auf ihrem Weg zum Kind so weit als möglich in der Normalität – im natürlichen Lauf der Dinge – verbleiben. Bei der rechtlichen Begrenzung dieses Weges brauchen wir eine Bewusstseinsbildung und Bewusstseinsschärfe im Recht.

 

Prof. Dr. Paul Kirchhof  
Foto: Friederike Hentschel

Paul Kirchhof ist Verfassungs- und Steuerrechtler und seit dem Jahr 1981 Professor für öffentliches Recht an der Universität Heidelberg. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Kontakt: kirchhofp@jurs.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 20.09.2011
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