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Meinung

Wissenschaft braucht Zeit zum Denken!
von Willi Jäger

„Wir sollten dafür sorgen, dass wieder die Inhalte der Wissenschaft – und nicht deren Management – Gegenstand unserer Diskussionen werden.“

Wissenschaft beeinflusst die aktuellen Entwicklungen in allen Lebensbereichen stärker als je zuvor. Werden ihr heute der Freiraum und die Ressourcen zugebilligt, die ihrer Bedeutung angemessen sind, die sie für die aktuellen Herausforderungen braucht?

Es fehlt nicht an Programmen zur finanziellen Förderung der Wissenschaft, zur Steigerung ihrer Produktivität, Qualität und Nutzung. Die Konzepte, die vielen dieser Programme, aber auch der Neuordnung der Wissenschafts- und Hochschullandschaft zugrunde liegen, sind diskussionsbedürftig.

Ein zentraler Grund dafür ist die Fehleinschätzung, dass Geld die knappste Ressource für die Wissenschaft ist und diese nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien zu organisieren sei. Inzwischen ist jedoch für viele Wissenschaftler die Zeit zum Forschen die knappste Ressource: Je erfolgreicher Forscher sind, umso weniger bleibt ihnen Zeit für eigene Forschung. Dies erfahren bereits junge Wissenschaftler, selbst wenn deren herausragende Qualität durch prominente Preise anerkannt ist und sie deshalb besondere Privilegien genießen sollten.

Wer die wissenschaftliche Laufbahn wählt, sieht sich einem fragwürdig gewordenen Wettbewerb um mehr Drittmittel, Forschungsprojekte, Publikationen, Auslandsaufenthalte, Mitgliedschaften in Zeitschriftenredaktionen und Gutachtergremien – und einer erschreckenden Bürokratie ausgesetzt. Wie sollen Wissenschaftler, denen keine Zeit zum Nachdenken über wissenschaftliche Herausforderungen bleibt und die im Management aufgehen, Forschung anleiten und bestimmen?

Wissenschaftler müssen „Pfadfinder“ bleiben können! Und sie sollten in erster Linie nach ihrer wissenschaftlichen Leistung bewertet werden. Wissenschaft ist ein Prozess, der Zeit braucht, neue Erkenntnisse zu gewinnen, sie in ein System einzuordnen, Erkanntes immer wieder zu überprüfen, zu ergänzen oder nutzbar zu machen. Auch der Weg von der Grundlagenforschung zur realen Nutzung von Resultaten kann langwierig sein. Einstein stellte fest: Zwei Dinge sind zu unserer Arbeit nötig: Unermüdliche Ausdauer und die Bereitschaft,etwas, in das man viel Zeit und Arbeit gesteckt hat, wieder wegzuwerfen.“

Meilensteine in Projektanträgen legen Zeitskalen für den Fortschritt fest, als wäre Forschung voll programmierbar und ihre Resultate prognostizierbar. Forschung muss Neuland betreten, Risiken eingehen und Visionen verfolgen. Die Erfahrung zeigt, dass es nur mit langem Atem gelingen kann, beispielsweise wichtige Bausteine der unbelebten oder belebten Natur erfolgreich zu erschließen, oder die grundlegenden Strukturen und Relationen von kulturellen, geistigen, sozialen, geschichtlichen und politischen Phänomenen zu begreifen.

Forschung leidet zurzeit unter Kurzatmigkeit in der Planung, Bewertung und Förderung. Wer keine Geduld aufbringt und keine Zeit findet, dass Ideen und Arbeit reifen können, wird in der Regel keine Resultate erforderlicher Qualität erreichen. Exzellenz lässt sich in der Wissenschaft nicht ad hoc erreichen, auch nicht durch optimales Management. Sie aufzubauen, braucht Zeit, sie zu zerstören, geht schneller als es lieb ist.

Die Diagnose zu erstellen, ist einfacher, als spezifische Vorschläge zur Therapie zu geben, da sie insbesondere die Strukturen und Regeln der Universitäten und der tragenden Einrichtungen betreffen. Die verantwortlichen Gremien sind aufgefordert, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, dass Wissenschaft nur dann gedeiht, wenn ihr ausreichend Zeit zum Denken eingeräumt wird. Wir aber sollten dafür sorgen, dass die Inhalte der Wissenschaft wieder stärker als deren Management Gegenstand unserer eigenen Diskussionen werden.

 

Prof. Dr. Willi Jäger  

Willi Jäger ist Professor für Mathematik, Gründungsdirektor des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) sowie des Mathematics Center Heidelberg (MATCH) und Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Kontakt: wjaeger@iwr.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 18.05.2011
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