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Analyse der Anschläge in Mumbai

Pressemitteilung Nr. 10/2008
27. November 2008
Was bedeutet die Krise für die politische Stabilität einer Region? – Indienexperte Dr. Clemens Spieß von der Abteilung Politische Wissenschaft des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg mit einer Hintergrundanalyse
Bei den Anschlägen in Mumbai am 26. November 2008 starben bisher über 100 Menschen. Was bedeutet die Krise für die politische Stabilität in einer Region, die bereits mit dem Kaschmir-Konflikt oder den Bürgerkriegen in Nepal und Sri Lanka zu kämpfen hat? Dr. Clemens Spieß vom Heidelberger Südasien-Institut geht zwar davon aus, dass die Attacken in Mumbai das demokratisch gefestigte Indien auf gesamtstaatlicher Ebene nicht gefährden. Seine Hintergrundanalyse macht aber auch deutlich, vor welch großen Sicherheitsproblemen Indien aktuell steht.

"Bisher galt Indien immer als Musterbeispiel für die multikulturelle Kompatibilität von Islam und anderen Religionsgemeinschaften in einem demokratischen Kontext," erklärt Dr. Spieß. Immer mehr setze sich aber die Vorstellung durch, dass sich ein als einheitlich gedachter Islam im Krieg gegen den Rest der Welt befände. Aus diesem Gedanken entstünden zwei verfeindete Lager – der Konflikt eskaliert.

"Die deutliche Zunahme von Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in den letzten Jahren in Indien geht mit einer wachsenden sozialen Marginalisierung der indischen Muslime einher, die islamistischen Gruppen ein weites Rekrutierungsfeld eröffnet," weiß Dr. Spieß. Seit Jahren versucht die Shiv Sena, eine hindu-nationalistische und regional-chauvinistische Partei im Bundestaat Maharashtra, in dem Mumbai liegt, aus antimuslimischen Ressentiments Kapital zu schlagen. Spieß befürchtet deshalb, "dass –  wie schon früher – die Volksseele hoch kocht und Racheakte gegen die muslimische Minderheit verübt werden." 

Dabei ist die Identität der Täter noch gar nicht eindeutig geklärt. Bekennerschreiben zu Folge handelt es sich um eine islamistische Terrorgruppe namens "Deccan Mujaheddin", die im Gegensatz zu anderen islamistischen Gruppen wie der bekannten "Lashkar-e-Toiba" oder der "Jaish-e-Mohammed" bisher noch nicht in Erscheinung getreten ist. Ein Gruppe mit Namen "Indian Mujaheddin" hat sich zu zahlreichen Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in den letzten Monaten und Jahren bekannt. Es handelt sich bei den "Deccan Mujaheddin" aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Splittergruppe, die möglicherweise mit Gruppierungen des internationalen islamistischen Terrorismus vernetzt ist. Auf letzteres lassen laut Dr. Spieß die Zielgruppen und die Logistik der Anschläge schließen.

Motive für die Tat gibt es viele. "Wenn es sich bestätigt, dass die "Deccan Mujaheddin" hinter dem Anschlag stecken, dann legt die Geiselnahme in Mumbai nah, dass die Freilassung aller islamistischen Gefangenen in Indien gefordert werden sollte," erklärt Spieß. Aber auch eine Destabilisierung der Region gemäß den Zielen Al-Quaidas und die Verhinderung einer Annäherung von Indien und Pakistan gehören zu den von den Terroristen anvisierten Folgen.

Die Terroristen treffen mit den Anschlägen auf westliche Staatsbürger Europa und die Vereinigten Staaten ins Mark – und das, ohne einen vergleichbaren logistischen Aufwand wie im Westen betreiben zu müssen. "Auf Grund der geringeren Sicherheitsinfrastruktur sind Terroranschläge in Ländern wie Indien bei weitem einfacher durchführbar als in westlichen Staaten," erklärt Dr. Spieß. Die Anschläge ereignen sich zu einer Zeit, in der sich eine enorme Intensivierung der europäisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen vollzieht. Der Reputationsverlust für Indien, das bisher als sicheres Land galt, wiegt schwer. Doch laut Dr. Spieß ist Indien weiterhin ein relativ sicheres Reiseland. Allerdings müsse der indische Staat adäquat auf diese neuerlichen Herausforderungen reagieren, konzentrierter gegen die Terroristen vorgehen und die Antiterroreinheiten stärker koordinieren.

Er gibt aber auch zu bedenken, dass nicht nur Islamisten Anschläge verüben. "Allein in diesem Jahr gab es Attentate von ethnischen Separatisten im indischen Nordosten, Anschläge hindu-nationalistischer Gruppierungen und der Naxaliten, einer maoistisch inspirierten Landlosen-Bewegung," erklärt Spieß. Und führt weiter aus: "Jedes südasiatische Land hat im Moment mit erheblichen Sicherheitsproblemen zu kämpfen. Der Bürgerkrieg auf Sri Lanka flammt gerade wieder auf, in Nepal ist er gerade erst zu Ende gegangen. Dazu kommen noch der Kaschmir-Konflikt und die Instabilität im indischen Nordosten. Außerdem ist die fragile politische Situation in Pakistan auch ohne die neuerlichen Terroranschläge hoch problematisch für die gesamte Region."

Immerhin könne als gutes Zeichen gewertet werden, dass der pakistanische Staat direkt nach den Mumbaier Anschlägen Indien seine volle Unterstützung versichert hat. Im Gegenzug müsse Indien auch die sozialen Ursachen angehen, die den Boden für solche Anschläge bereiten; es müsse sich der Frage stellen, wie das Verhältnis zur muslimischen Minderheit definiert wird. Außerdem solle es angesichts grenzüberschreitenden Terrorismus die regionale Kooperation suchen. Auf dem Papier existieren bereits Abkommen zur grenzübergreifenden Terrorbekämpfung im Rahmen der South Asian Association for Regional Cooperation (SAARC), in der die südasiatischen Länder zusammengefasst sind. Allerdings hat sich die SAARC noch nicht als effektives politisches Instrument erwiesen, was insbesondere an dem schwierigen Verhältnis von Indien und Pakistan liegt.


Zitate:
"Zielgruppe und die Logistik der Anschläge lassen darauf schließen, dass die Terroristen möglicherweise mit Gruppierungen des internationalen islamistischen Terrorismus vernetzt sind."

"Wenn es sich bestätigt, dass die "Deccan Mujaheddin" hinter dem Anschlag stecken, dann legt die Geiselnahme in Mumbai nah, dass die Freilassung aller islamistischen Gefangenen in Indien gefordert werden sollte."

"Die Terroristen treffen mit den Anschlägen auf westliche Staatsbürger Europa und die Vereinigten Staaten ins Mark, ohne einen vergleichbaren logistischen Aufwand wie im Westen betreiben zu müssen. Auf Grund der geringeren Sicherheitsinfrastruktur sind Terroranschläge in Ländern wie Indien bei weitem einfacher durchführbar als in westlichen Staaten."

"Die deutliche Zunahme von Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in den letzten Jahren in Indien geht mit einer wachsenden sozialen Marginalisierung der indischen Muslime einher, die islamistischen Gruppen ein weites Rekrutierungsfeld eröffnet."

"Indien muss die sozialen Ursachen angehen, die den Boden für solche Anschläge bereiten; es muss sich der Frage stellen, wie das Verhältnis zur muslimischen Minderheit definiert wird."

(Dr. Clemens Spieß, Abteilung für Politische Wissenschaft, Südasien-Institut der Universität Heidelberg)

Dr. Clemens Spieß

Dr. Clemens Spieß promovierte 2004 in der Abteilung für Politische Wissenschaften am Südasien-Institut. Von Dezember 2004 bis Dezember 2006 leitete er das Länderbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Neu-Delhi, Indien. 2007 kehrte er als Wissenschaftlicher Angestellter in der Abteilung Politische Wissenschaft an das Südasien-Instituts zurück. Er ist als Experte für indische Politik am Teilprojekt "Citizenship as Conceptual Flow. Asia in Comparative Perspective" im Rahmen des Exzellenclusters "Asia and Europe in a Global Context. Shifting Asymmetries in Cultural Flows" der Universität Heidelberg beteiligt. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit erstellt er Gutachten für Verwaltungsgerichte zu Asylverfahren indischer Staatsbürger.

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Das Südasien-Institut ist ein interdisziplinäres Zentrum für die Forschung und Lehre über Südasien (Bangladesh, Bhutan, Indien, die Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka). Als zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Heidelberg hat es die besondere Aufgabe der Vermittlung interkultureller Kompetenz, indem – erstmals und in Deutschland bisher einzigartig – Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit historisch und philologisch ausgerichteten Kulturwissenschaften verknüpft werden. Das SAI pflegt zahlreiche Kontakte mit Forschungszentren in Europa, Asien und Amerika und führt eine Vielzahl von Projekten in der Forschungsregion durch, überwiegend in Kooperation mit einheimischen Wissenschaftlern. Gastwissenschaftler und Stipendiaten arbeiten regelmäßig im SAI. Mit mehreren südasiatischen Ländern existieren bilaterale Austauschprogramme.

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