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Das Gehirn ist keine Insel

9. Mai 2008

Wissenschaftler der Universitäten Heidelberg, Berlin und München untersuchen Gehirn als "Beziehungsorgan" – Volkswagenstiftung fördert Projekt mit 800.000 EUR

Unser Gehirn funktioniert nicht wie eine isolierte Maschine. Es verbindet uns von früher Kindheit an mit unseren Mitmenschen und ist deshalb ein soziales Organ. Seine neurobiologischen Leistungen entwickeln sich erst in einem kulturellen Umfeld, mit dem sie in ständigem Austausch stehen. Diese These liegt einem Forschungsprojekt zugrunde, an dem sich unter Führung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg vier deutsche Universitätsinstitute beteiligen.

Das interdisziplinäre Projekt zur Entwicklung des "sozialen Gehirns" wird von der Volkswagenstiftung während der nächsten drei Jahre mit 800.000 EUR gefördert. Die beteiligten Forscher/innen sind Prof. Thomas Fuchs und Dr. Corinna Reck (Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg), Prof. Sabina Pauen (Lehrstuhl für Entwicklungs- und Biopsychologie in Heidelberg), Prof. Michael Pauen (Lehrstuhl für Philosophie des Geistes, Berlin School of Mind and Brain) und Prof. Beate Sodian (Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie in München).

"Die moderne Neurobiologie reduziert das Bewusstsein und das Handeln von Menschen oft auf Vorgänge in bestimmten Gehirnarealen", erklärt der Leiter des Projektes, Professor Dr. Thomas Fuchs. Als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik weiß er, wohin das führen kann: "Psychische Krankheiten werden primär als materielle Vorgänge im Gehirn angesehen und von den Beziehungen der Patienten zu ihrer Umwelt abgeschnitten."

Trotz aller eindrucksvollen Fortschritte in der Lokalisierung von Hirnfunktionen laufe eine einseitige Neurobiologie deshalb Gefahr, die Wechselwirkungen zu vernachlässigen, in denen das Gehirn steht. "Das ist so, als wollte man die Funktion des Herzens ohne den Kreislauf beschreiben."

Spiegelneurone moderieren soziale Wahrnehmung

Zwar seien im letzten Jahrzehnt tatsächlich zahlreiche Hirnareale identifiziert worden, die für die Verarbeitung sozialer Situationen zuständig seien, betont Thomas Fuchs. Daraus dürfe man aber nicht den Schluss ziehen, dass die vererbten Fähigkeiten der Nervenzellen, Informationen zu verarbeiten, ausreichten, um sich im Umgang mit seinen Mitmenschen zurecht zu finden. Denn die spezifischen Hirnaktivitäten bei sozialen Interaktionen seien keinesfalls angeboren, sondern gingen auf Lernprozesse zurück, in denen das Gehirn vor allem eine vermittelnde Rolle zwischen Innenwelt und Außenwelt einnehme.

Die Entdeckung der Spiegelneurone habe eindrucksvoll belegt, wie das Gehirn seine Lebensaufgaben im Zusammenspiel mit anderen Menschen vollziehe. Diese spezielle Art der Nervenzellen wird nicht nur dann aktiv, wenn ein Mensch eine bestimmte Handlung ausführt, sondern auch, wenn er die gleiche Handlung bei einem anderen Menschen wahrnimmt. So bahnen sie dem Lernen durch Nachahmen den Weg. "Dabei ist das Gehirn aber nicht der Produzent, sondern eher der Vermittler oder Transformator psychischer Prozesse", erklärt Professor Fuchs. "Es moderiert die Ausbildung des Menschen zu einem sozialen Wesen." Auch das System der Spiegelneurone könne daher nur in geeigneten zwischenmenschlichen Beziehungen ausreifen.

Zusammenhang frühkindlicher Gehirnentwicklung mit Mutterbindung untersucht

Um die entwicklungsbezogenen Aspekte der Gehirnfunktion herauszuarbeiten, die das "biologische" und das "soziale" Gehirn miteinander verknüpfen, konzentriert sich das Projekt in Theorie und praktischer Forschung auf den Zusammenhang von frühkindlicher Gehirnentwicklung und Mutterbindung. Wie entsteht in den Beziehungen des Säuglings und Kleinkindes zu seiner Mutter und anderen Personen Selbstbewusstsein? Unter welchen Bedingungen können sich dabei die biologisch angelegten Fähigkeiten im Gehirn optimal entfalten? Welche Rolle kann eine Depression der Mutter nach der Geburt bei der Ausreifung des kindlichen Gehirns spielen? Wie wirkt sich eine autistische Veranlagung des Kindes auf sein frühes soziales Lernen aus?

"Aus der Beantwortung der empirischen Fragen wollen wir Empfehlungen zur Förderung der frühkindlichen Gehirnentwicklung ableiten", sagt Professor Fuchs. "In seinem theoretischen Teil verfolgt das Projekt das Ziel, den sozialen Aspekten der Gehirnentwicklung in der öffentlichen Diskussion mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen." Dazu werde langfristig auch die Einrichtung eines sowohl kultur- als auch naturwissenschaftlich getragenen Kompetenznetzwerkes "Soziales Gehirn" in Heidelberg und an anderen Standorten angestrebt.

Kontakt:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs
Leiter der Sektion "Phänomenologische
Psychopathologie und Psychotherapie"
Psychiatrische Universitätsklinik
Voßstr.4
69115 Heidelberg
Tel.: 06221 / 56 2744
E-mail: Thomas.Fuchs@med.uni-heidelberg.de
www.klinikum.uni-heidelberg.de/Prof-Dr-med-Dr-phil-Thomas-Fuchs.6031.0.html

Bei Rückfragen von Journalisten:
Dr. Annette Tuffs
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Universitätsklinikums Heidelberg
und der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 672
69120 Heidelberg
Tel.:   06221 / 56 45 36
Fax:    06221 / 56 45 44
E-Mail: annette.tuffs(at)med.uni-heidelberg.de

Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
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