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Ich sehe was, was Du nicht sagst

4. April 2008

Heidelberger Forscher untersuchen, wie Sprache das Denken lenkt

Den Hergang eines Unfalls zu schildern, einen Weg zu beschreiben, Erlebtes zu erzählen - in der Muttersprache scheint das sehr einfach. Ohne nachzudenken führen wir diesen komplexen sprachlichen Vorgang täglich viele Male durch. Was dabei an kognitiven und linguistischen Prozessen abläuft, ist noch wenig oder gar nicht erforscht. Bisher wird in der Kognitionsforschung vorausgesetzt, dass bestimmte Denkprozesse zur Beschreibung eines Vorgangs überall auf der Welt in allen Sprachen ziemlich ähnlich vorhanden sind.

Langjährige Studien der Heidelberger Forschungsgruppe am Seminar für Deutsch als Fremdsprachenphilologie unter der Leitung von Professor Christiane v. Stutterheim und Dr. Mary Carroll sprechen gegen diese These. "Wir wollen untersuchen, inwieweit Sprache unser Denken formt", erklärt Dr. Barbara Schmiedtová, Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe.

Die Wissenschaftlerin erhielt 2007 den Hengstberger-Preis für ihren Symposienvorschlag zu diesem Thema. Die Universität Heidelberg vergibt diesen Preis jährlich an drei Nachwuchswissenschaftler; mit der Preissumme von 12 500 Euro sollen die Forscher in die Lage versetzt werden, ein interdisziplinäres Symposium durchzuführen. "Wir haben herausgefunden, dass beispielsweise ein Deutscher und ein Engländer denselben Vorgang in ihrer jeweiligen Muttersprache sehr verschieden beschreiben", erläutert die Sprachwissenschaftlerin und demonstriert gleich ein Beispiel: Eine Testperson sitzt vor einem Bildschirm und soll beschreiben, was sie gerade sieht. Auf dem PC läuft eine kurze Filmszene, die zeigt, wie zwei Frauen auf einem Weg laufen; im Hintergrund ist ein Haus zu sehen. "Zwei Personen laufen zu einem Haus", sagt der deutsche Muttersprachler. "Two women are walking along a road", sagt der englische Muttersprachler. Von "Haus" ist in seiner Aussage keine Rede. Ein zweites Beispiel: Zu sehen ist ein junger Mann, der auf einer hohen Welle surft. "Ein Mann surft auf dem Meer", sagt der Deutsche. "A man is surfing", erklärt der Engländer.

Das ist kein Zufall sondern hat System, argumentieren die Sprachwissenschaftlerinnen. Die meisten deutschen Muttersprachler beziehen das Zielobjekt (also in diesen Beispielen das Haus oder die Welle) in ihren Satz mit ein; ebenso verhalten sich französische und tschechische Muttersprachler. Wer dagegen mit Englisch, Spanisch oder Arabisch - um nur einige Beispiele zu nennen - als Muttersprache aufgewachsen ist, beschreibt diese Vorgänge in der Verlaufsform, erwähnt das Objekt aber nicht. "Interessant ist, dass auch Menschen, die sich in einer Zweitsprache sehr sicher ausdrücken können, das sprachliche Prinzip aus der Muttersprache beibehalten", ergänzt Professor Christiane von Stutterheim, an deren Lehrstuhl Barbara Schmiedtová gerade ihre Habilitation schreibt. Ein deutscher Muttersprachler mit ausgezeichneten Englischkenntnissen würde also sagen: "Two women are walking to a house".

Die Heidelberger Sprachforscherinnen haben weiter herausgefunden, dass diese Unterschiede sich bestätigen, wenn man die Augenbewegungen der Probanden verfolgt. Zu diesem Zweck werden zwei Kameras auf die Pupillen der Testperson eingestellt, die aufzeichnen, in welcher Reihenfolge das gezeigte Bild betrachtet wird. Gemessen werden die Pupillenbewegungen jede achte Millisekunde; durch diese hohe Frequenz steht den Forschern eine sehr große Datenmenge zur Verfügung.

Das Ergebnis: Deutsche Muttersprachler richten in oben beschriebenen Beispielen ihren Blick viel früher auf das Haus. "Französische und tschechische Muttersprachler verhalten sich ebenso", erklärt Schmiedtová. Die gebürtige Tschechin studierte deutsche Philologie, Philosophie und Literatur in Freiburg, hat mit einer Arbeit über Simultanität im Zweitspracherwerb am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen promoviert und arbeitet seit 2005 als wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Fremdsprachenphilologie an ihrer Habilitation zum Thema "Sprachproduktion in verschiedenen Sprachen".
Die Heidelberger Forschungsgruppe ist weltweit die einzige, die den Zusammenhang zwischen sprachlichen Äußerungen und Denkmustern mit Hilfe naturwissenschaftlicher Messverfahren untersucht. "Das ist eine große Herausforderung. Wir haben bisher Hypothesen entwickelt, und die werden wir weiter experimentell überprüfen", blicken von Stutterheim und Schmiedtová in die Zukunft.
Ingeborg Salomon
© Rhein-Neckar-Zeitung

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