Anthropologie und Ethik des frühen Christentums

Ein Projekt der Abteilung VI

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gerd Theißen

 

Die Anthropologie des Neuen Testaments stand früher im Zentrum des Interesses, als mit Hilfe existenzialer Interpretation das Neue Testament für die Gegenwart erschlossen wurde. In derselben Zeit wurde die urchristliche Ethik selten als eigenständiger Gegenstand behandelt, weil das existenzial interpretierte Kerygma von jeglichem „Moralismus“ frei bleiben sollte und die theologische Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium alle urchristlichen Normen abwertete. Historisch meinten damals viele Exegeten, dass das Urchristentum in seiner Ethik ohne Originalität sei. Die große positive Bedeutung der Anthropologie bei gleichzeitiger Geringschätzung der Ethik diente einem großartigen theologischen Programm, dem Entmythologisierungsprogramm R. Bultmanns, das inzwischen Geschichte geworden ist. Mit der Notwendigkeit, dieses Programm eigenständig neu zu formulieren und weiterzuführen, stellt sich die Aufgabe, beide Themen historisch neu zu erforschen und theologisch neu zu bestimmen. Das Projekt geht von folgenden Leitgedanken aus:

 

1) Ur- und frühchristliches Ethos ist eine Synthese von biblischer Gebotsethik und griechischer Einsichtsethik, die im hellenistischen Judentum vorbereitet ist. Es gibt ein profiliertes urchristliches Ethos, das eine Weiterentwicklung des jüdischen Ethos ist, aber in der nichtjüdischen Welt neue Impulse bringt. Charakteristisch sind zwei Grundwerte, Nächstenliebe und Statusverzicht, die aus der allgemeinen Tradition des (einfachen) jüdischen Volkes stammen. Hier handelt es sich um ein Nachbarschaftsethos gleichgestellter Menschen. Zu diesen Grundwerten im Umgang mit den Mitmenschen tritt im Urchristentum ein „Abwärtstransfer“ von Oberschichtwerten beim Umgang mit Gütern wie Macht, Besitz und Weisheit.

Paulus 2
 

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt man, wenn man bei Paulus zwei Grundwerte unterscheidet: corporate solidarity und other regard (D. G. Horrell). Die Verbindung dieser Tendenzen führt zu einer markanten christlichen Ethik, die in Einzelelementen viele Analogien hat, als Ganzes aber singulär ist. Die weitere Geschichte der europäischen Ethik ist von einer Fortschreibung dieser Synthese zwischen der biblischen und griechischen Tradition bestimmt. Wir verdanken dieser Synthese die bis heute anerkannten Grundwerte von Autonomie und Solidarität, Rationalität und Barmherzigkeit, Einsicht und Nächstenliebe.

 

2) In der Anthropologie finden wir eine Verbindung des kognitivistischen Menschenbildes, das den Willen von der Einsicht abhängig sieht, mit einem voluntaristischen Menschenbild, nach dem die Einsicht eher vom Willen abhängig ist. Das Charakteristische dieses Menschenbildes wird insbesondere in Auseinandersetzung mit den Affekten des Menschen als irrationalen Kräften (P. v. Gemünden) und den regulativen Instanzen wie z.B. dem Gewissen deutlich. Dabei gibt es eine formale Entsprechung: Wie aus der rechten Erkenntnis in konsequenten Formen griechischer Einsichtsethik (bei Sokrates und der Stoa) das rechte Handeln konsequent folgt, so folgt laut Paulus aus dem rechten Sein das rechte Tun.

Der Unterschied zwischen Kognitivismus und Voluntarismus darf deshalb nicht übersehen werden. Insbesondere im Römerbrief liegt einerseits eine Absage an einen bisherigen anthropologischen Konsens in der Antike vor (Orientierung an Vernunft und Thora verheißt Freiheit und Leben), andererseits wird dem erneuerten Menschen die Erfüllung gerade dieses Programms verheißen: Die erneuerte Vernunft und die vom neuen Menschen erfüllte Thora geben Freiheit und Leben. Auch asketische Ideale lassen sich aus diesen Traditionen als Programme von Weltgestaltung und Weltüberwindung deuten (T. Onuki). Die verwandelnde Kraft geht im Urchristentum von der Christologie aus. Analog zur existenzialen Interpretation soll sie mit anthropologischen (darunter auch psychologischen) Kategorien erhellt werden. Das soll vor allem eine Interpretation des Römerbriefs zeigen (P. v. Gemünden/G. Theißen).

 

3) Die hier nachgewiesenen zwei Traditionen finden in der Gegenwart eine gewisse Entsprechung im Gegenüber von universaler (liberaler) Diskursethik und Kommunitarismus. Vor allem D. G. Horrell hat im Lichte dieser Gegenwartsdiskussion eine neue Interpretation der paulinischen Ethik vorgelegt, nach der Paulus als ein „liberaler Kommunitarist“ erscheint. Im Blick auf diesen Gegenwartsbezug ist das Gespräch mit Systematischer Theologie und Ethik notwendig.

 

4) Der Römerbrief lässt sich auf diesem Hintergrund multiperspektivisch auslegen. Die traditionelle lutherische Auslegung legte ihn auf die Rechtfertigung des individuellen Menschen aus, die seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts dominierende new perspective on Paul dagegen auf die soziale Öffnung der Gemeinde für alle Menschen. Dabei wurde die reformatorische Auslegung oft scharf als Irrweg kritisiert. In Wirklichkeit war sie in vorbildlicher Weise „multiperspektivisch“: Bei der Gesetzesauslegung unterschied sie eine individuelle und soziale Funktion des Gesetzes, einen usus elenchticus und politicus. Daran kann man anknüpfen, wenn man die beiden o.g. Auslegungstraditionen zusammenführen will, auch wenn man inhaltlich die von den Reformatoren unterschiedenen Funktionen des Gesetzes anders bestimmt. Die Auslegung verbindet insgesamt vier Ansätze:

  1. Einen bildsemantischen Ansatz, nach dem die Gedanken des Römerbriefs sehr viel mehr von Metaphern gesteuert werden, als bisher angenommen, auch wenn Gedanken auf die Bilder zurückwirken. Gott wandelt sich dabei vom König und Richter in Röm 1-3 zum „Gärtner“ in Röm 11.

  2. Einen diskursanalytischen Ansatz, der vier Heilskonzepte im Römerbrief unterscheidet: Heil durch Gesetzeserfüllung, durch Glauben, durch Verwandlung und durch Erwählung. Paulus steht dabei jeweils in einem Dialog mit verschiedenen Strömungen in Judentum und Heidentum.

  3. Einen psychologischen Ansatz, nach dem die Folge dieser vier Heilskonzepte in auffälliger Weise der Biographie des Paulus entspricht. Der Römerbrief ist sein persönliches Bekenntnis, in dem er sich Rechenschaft über seine theologische Entwicklung gibt. Dabei arbeitet er einen tiefen Konflikt mit sich selbst (Röm 7) paradigmatisch für alle Menschen auf.

  4. Einen sozialen Ansatz, der das Anliegen der new perspective weiterführt: Paulus hofft bei seiner Reise nach Jerusalem auf eine wunderbare Öffnung des Tempels für Heiden. Das erklärt seine Todesangst. Die Warninschriften am Tempel bedrohten jeden Fremden mit dem Tod, der den inneren Tempelbezirk betreten wollte. Die von der new perspective ins Zentrum gestellte universale Öffnung soll sich in der „visible religion“ vollziehen.

Die beiden dominierenden Auslegungstraditionen werden damit weitergeführt und zusammengeführt: Die Gesetzeskritik des Paulus ist innerhalb jedes Heilskonzepts anders. Das erklärt ihre Widersprüchlichkeit, erlaubt aber nicht, sie zu relativieren, sondern zeigt umso mehr ihre zentrale Bedeutung. Auch die heute abgelehnte existenztheologische Deutung der Gesetzeskritik (das Gesetz schaffe die Illusion, sich das Heil selbst verschaffen zu können) war und ist berechtigt. Sie widerspricht nicht der sozialen Auslegung: Eine Öffnung für alle Menschen ist mit erhöhten Spannungen im einzelnen Menschen verbunden – besonders in Paulus selbst, dem Protagonisten dieser Öffnung, der diese Konflikte in sich ausgetragen hat.

Das Projekt wird von Petra von Gemünden (Augsburg) und Gerd Theißen (Heidelberg) gemeinsam durchgeführt. Aufgrund mehrerer schon erschienener Aufsätze arbeiten sie an einer Monographie über den Römerbrief, die rechtzeitig vor dem Reformationsjubiläum 2017 vorliegen soll: Denn von Paulus ging der Funke aus, der in der Reformation gezündet hat.

 

Dennis Dietz: E-Mail
Letzte Änderung: 11.12.2014
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