Prof. Dr. Dr. Michael Welker - 2. nach Epiphanias - Ex 33,18-23

Prof. Dr. Dr. Michael Welker

Predigt am zweiten Sonntag nach Epiphanias 1999 
in der Peterskirche Heidelberg



Exodus 33, 18-23

Dann sagte Mose (zu Gott): Laß mich doch deine Herrlichkeit sehen!
Und Gott antwortete: Ich will all mein Gutes an deinem Angesicht vorüberziehen lassen und ich will den Namen Gottes vor dir ausrufen: Ich will gnädig sein, wem ich gnädig sein will, und ich will mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will!
Weiter sagte Gott: Mein Angesicht aber wirst du nicht sehen können. Denn kein Mensch kann
mich sehen und am Leben bleiben.
Dann sagte Gott: Sieh, diesen Ort da! Stell dich an diesen Felsen!
Und da wird es sein, beim Vorbeiziehen meiner Herrlichkeit stelle ich dich in den Felsspalt und
halte meine Hand (schützend) über dich, solange ich vorüberziehe.
Dann ziehe ich meine Hand zurück, daß du meine Rückseite siehst. Mein Angesicht aber kann
niemand sehen.
 
 

Gib mir einen festen Punkt, und ich bewege die Erde! Dieser Ausspruch wird Archimedes zugeschrieben. Immer wieder ist Gott als solch ein archimedischer Punkt angesehen worden. Gott als letzter Fixpunkt und Halt. Gott als äußerster Bezugspunkt, von dem aus die Welt zugleich gehalten und in Frage gestellt wird. Viele fromme Menschen und viele Theologien haben mit so einer Vorstellung von Gott geliebäugelt. Und viele tun das noch heute.

Auch Mose sucht nach einem unüberbietbaren Halt mit seiner Bitte: Laß mich deine Herrlichkeit sehen! Er spricht seine Bitte nicht aus religiöser Neugier aus. Er spricht nicht aus religiöser Erlebnissucht. Lesen wir den heutigen Predigttext im Zusammenhang der ihn umgebenden Geschichten, so wird deutlich: Mose sucht mit seiner Bitte die unbedingt verläßliche Begegnung mit Gott, die zweifelsfreie, die vollkommene Gegenwart Gottes. Mose, der Mittler zwischen Gott und Israel, möchte Gottes Herrlichkeit inmitten von Krisen und drohenden Gefahren sehen. Seine Bitte steht im Zusammenhang des Desasters, das durch Israels Götzendienst am goldenen Kalb ausgelöst worden ist. Das Verhältnis Israels zu Gott ist gestört. Auch das Verhältnis Israels zu Mose ist gestört. Ein gestörtes Verhältnis zu Gott und zu Mose - inmitten drohender Gefahren. Ein gestörtes Verhältnis zu Gott und zu Mose inmitten der Bedrohungen, die die sogenannte ,,Landnahme" mit sich bringt. Ein gestörtes Verhältnis zu Gott und zum Verbindungsmann zwischen Gott und Volk aber ist gefährlich. Besonders gefährlich angesichts bevorstehender politischer, militärischer, sozialer und religiöser Konflikte. Denn in der ja reichlich verharmlosend ,,Landnahme" genannten Situation prallen die Existenzansprüche, Existenzrechte und Existenzängste Israels mit den Ansprüchen, Rechten und Ängsten anderer Völker zusammen. Ein starkes Gottesverhältnis, ein festes religiöses Rechtsempfinden, ein Wissen um Gottes Pläne und Wege ist dabei unverzichtbar. In dieser kritischen Lage will Mose Gottes Herrlichkeit sehen. Fragt er damit nicht nach dem festen, nach dem archimedischen Punkt?

Die Antwort Gottes auf die Bitte des Mose erscheint aufschlußreich - und enttäuschend zugleich. Sie ist aufschlußreich, indem deutlich wird: Gottes Herrlichkeit, Gottes Doxa, Gottes Fülle und Schwere ist Gottes Angesicht. Nicht ein fester Punkt oder eine ruhige Basis, ein unbewegter Grund oder Halt, sondern Gottes lebendiges Angesicht ist das, wonach Mose sucht und fragt. Wer Gott ganz und gar wahrnehmen will, fragt nach Gottes Angesicht. Aber - so lautet die enttäuschende Auskunft: dieses Angesicht kann niemand sehen, ohne zu sterben. Selbst Mose nicht.

Doch mit dieser Auskunft können sich bibelkundige Menschen nicht einfach abfinden. Besitzen wir denn nicht in der Bibel eine ganze Reihe von Geschichten, in denen es heißt, Mose habe vor Gott gestanden, mit Gott geredet und von Gott Weisung empfangen? Heißt es nicht unmittelbar vor dem Predigttext sogar: ,,Der Herr und Mose redeten miteinander Auge in Auge, wie Menschen miteinander reden."? Ist Mose damit Gott nicht unüberbietbar nahegekommen? Warum soll er jetzt plötzlich das Angesicht nicht sehen dürfen? So schwer es uns heute fällt, uns vorzustellen, daß eine Begegnung ,,Auge in Auge" überboten werden kann - das Alte Testament nötigt uns dazu, dies zu tun. Mit der Bitte: Laß mich deine Herrlichkeit sehen! fragt Mose nach mehr als nach der Offenbarung in der Wolke, im brennenden Dornbusch oder in der Übergabe der Gebote. Er bittet aber auch um mehr als um eine nur personale Begegnung nach dem Muster alltäglicher zwischenmenschlicher Begegnungen oder nach dem Muster einer Audienz. Doch welche Steigerung gäbe es gegenüber einer persönlichen Begegnung Auge in Auge?

Die biblischen Texte kennen personale Offenbarungen Gottes, Auge in Auge, zum Beispiel durch Engel. Diese Offenbarungen sind durchaus noch einer Steigerung fähig. Wohl macht sich Gott selbst in diesen Offenbarungen in personaler Form zugänglich. Einige Engelgeschichten machen das drastisch deutlich, indem sie Gott und Engel unterscheiden und zugleich identifizieren: Und Gott ....... Und der Engel sprach ... heißt es über denselben Sprecher. Gott spricht demnach in personaler Begegnung durch den Engel. Zugleich wird in allen Engelgeschichten deutlich: Eine personale Begegnung im Stile menschlicher Begegnungen kann die Fülle der Herrlichkeit Gottes nicht erfassen. Deshalb müssen alle Engel verschwinden, nachdem sie ihre Botschaft überbracht haben. Alle. Nie werden Engel seßhaft. Diese personalen Gegenüber müssen sozusagen zurücktreten in die Fülle der himmlischen Heerscharen, die nur im gemeinsamen Gotteslob die göttliche Herrlichkeit spiegeln. Auch das Neuen Testament kennt die Steigerung der menschlich-personalen Gegenwart des vorösterlichen Jesus in der Gegenwart des Auferstandenen.

Worauf aber zielt die Rede von Gottes Angesicht, wenn es dabei um mehr geht als um ein personales Auge in Auge? Nicht nur die Engelgeschichten, auch andere biblische Überlieferungen können uns davor bewahren, uns allzu menschliche Vorstellungen von Gottes Angesicht zu machen. Sie verbinden die Zuwendung des Angesichts mit nicht weniger als mit der Ausgießung von Gottes Geist: ,,Ich verberge mein Angesicht nicht mehr vor ihnen, denn ich habe meinen Geist über das Haus Israel ausgegossen" (z.B. Ez 39,29). Die Zuwendung des Angesichts ist mit Gottes Geistausgießung, mit dem Erweis von Gottes neuschöpferischer Kraft verbunden. Gottes Herrlichkeit, Gottes Angesicht - das ist Gott in vollkommener Gegenwart, Gott in Gottes Kreativität. Warum aber ist ausgerechnet eine solche Begegnung gefährlich, ja, sogar tödlich?

Ist Gottes schöpferische Gegenwart nicht gerade die Garantie für Leben und Gelingen? Heißt es etwa nicht immer wieder ausdrücklich in den biblischen Überlieferungen, daß die Menschen Gottes Angesicht suchen sollen? Sind sie nicht voller Hoffnung auf ein Leben vor Gottes Angesicht und darauf, daß die Frommen und Gerechten Gottes Angesicht schauen werden? Wiederholen sie denn nicht die Bitte und die Klage: Verbirg nicht dein Angesicht! Verhülle es nicht! Wende es nicht ab! Die Abwendung deines Angesichts bringt den Tod!?

Wieder müssen wir in den Kontext der Geschichte zurückgehen, um die Verwirrung und Irritation aufzulösen. Die volle Zuwendung von Gottes Angesicht und Gottes Herrlichkeit ist für Menschen gefährlich, ja tödlich. Denn Gott ist nicht nur der rettende, sondern auch der richtende Gott. In Gott ist nichts Böses, aber Gott ist voller Kraft der Auseinandersetzung mit dem Bösen. Deshalb sagt Gott Israel und Mose nur eine abgestufte Gegenwart zu. ,,Ich selbst ziehe nicht in deiner Mitte. Denn du bist ein störrisches Volk. Es könnte sonst geschehen, daß ich dich unterwegs vertilge", heißt es wiederholt (Ex 33, 3 und 5). Eine abgestufte Gegenwart Gottes und der Gedanke, daß eine zu direkte, eine zu dichte Gegenwart Gottes den Menschen gefährlich werden könnte - auch das verträgt sich schwer mit vielen gängigen Gottesgedanken und Gottesbildern. Wir suchen nicht nur die festen religiösen Punkte und nicht nur das Auge- in-Auge. Auch das Alles-oder-Nichts ist gerade auf religiösem Gebiet noch immer eine beliebte Suchformel. Gott pur - Gott ganz - oder gar nicht. Doch die Antwort Gottes auf die Bitte des Mose spricht von einer abgestuften Gegenwart Gottes auch ihm gegenüber. Sie spricht von einem lebendigen Gott, der uns näher oder ferner rücken kann. Sie spricht von einem Gott, der uns vor der zu großen und umfassenden Nähe und Zuwendung des Angesichts und der Herrlichkeit geradezu schützen muß.

Ich will all mein Gutes vor dir vorüberziehen lassen. All mein Gutes - manche Übersetzungen gebrauchen die Ausdrücke ,,alle meine Güte" oder ,,meine ganze Schönheit". ,,All mein Gutes'., so heißt es, soll an Mose vorbeiziehen. Nicht aber Gott in Gottes Totalität! Nicht Gottes Zorn, nicht Gottes Gericht, nicht Gottes tötendes Urteil, all das, was eben auch zu Gottes Herrlichkeit, zu Gottes Doxa und Fülle gehört! Mit dem Vorbeiziehen des Guten aber geht die Offenbarung des Gottesnamens einher: Ich will gnädig sein, wem ich gnädig sein will, und ich will mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will! Gott legt sich selbst fest auf freie Gnade - ich will gnädig sein, wem ich gnädig sein will - und auf freie Barmherzigkeit - ich will mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen will. Doch der Satz, dessen Tautologien uns merkwürdig erscheinen mögen, sagt noch mehr. Gott legt sich nämlich auch auf treue Gnade und Barmherzigkeit fest. Gott steht zu Gottes Erwählung und Gott bleibt in der freien Barmherzigkeit beharrlich. Als der in freier und treuer Weise gnädige und barmherzige Gott offenbart Gott sich Mose in der Felsspalte.

Die Herrlichkeit Gottes, das lebendige Angesicht, läßt sich nicht mustern und beschauen. Es schließt in seiner Fülle und Lebendigkeit auch Gottes Zorn und Gottes Gericht ein. Selbst Mose müßte in der uneingeschränkten Begegnung mit Gott vergehen. Deshalb weist Gott die Bitte des Mose ab. Er muß Gottes Herrlichkeit hier nicht als ein ihn blendendes übermächtiges Licht oder gar wie einen vernichtenden Blitzschlag erfahren. Nur all sein Gutes läßt Gott an Mose in der Felsspalte vorüberziehen, indem barmherzig und schützend die Hand Gottes über ihn gehalten ist. Nötigt uns also die Antwort Gottes auf die Bitte des Mose zu der religiösen Bescheidenheit, die Gotthold Ephraim Lessing mit den Worten zum Ausdruck brachte: Gott, gib mir nur den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit... Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!?

Gewiß weist Gott eine allzugroße Zudringlichkeit ab. Wer in Zuschauerhaltung einen direkten Zugriff auf Gottes Herrlichkeit sucht, spielt mit dem Feuer. Kein Mensch kann Gottes Angesicht unvermittelt sehen und am Leben bleiben. Das ist eine heilsame Kritik an sozusagen unverfrorenen Gottesgedanken, Gottesvorstellungen und Gottesbildern, die sich und anderen Gottes Lebendigkeit und die rettende und richtende Macht verstellen, die von Gottes Angesicht ausgeht. Aber damit lautet die Antwort nicht: Meine Herrlichkeit und meine Wahrheit sind nur für mich allein. Gott offenbart seine ganze Güte. Gott offenbart seine rettende und bewahrende Barmherzigkeit. Gott offenbart den Gottesnamen, in dem sich Gott auf freie und treue Gnade und Barmherzigkeit festlegt.

Daß damit die Offenbarung von Gottes Namen, von Gottes Angesicht und Gottes Herrlichkeit nicht an ein Ende und zu einem Abschluß gebracht ist, das wissen wir aus der weiteren Geschichte Gottes mit den Menschen. Auch in dieser weiteren Geschichte begegnen uns immer wieder Erinnerungen daran, daß Gott einen direkten Zugriff auf die göttliche Herrlichkeit zurückweist. Gottes Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Das bekennt die Christenheit. Doch auch in Jesus Christus, in dem Gottes ganze Fülle und Herrlichkeit erschienen ist, offenbart sich Gott in barmherziger Weise. Diejenigen, die die Offenbarung Gottes in Jesus Christus gegen die Offenbarung Gottes gegenüber Mose ausspielen möchten, sollten jedenfalls große Vorsicht walten lassen. Sie sollten prüfen, ob sie nicht auf einen bloßen Gottesgedanken hinsteuern, der sich über die Lebendigkeit Gottes und das rettende und richtende Handeln Gottes allzu forsch hinwegsetzt. Auch in Jesus Christus begegnet uns kein fester Punkt, kein bloßes Auge in Auge, aber auch kein Gott, der sich apatisch oder hilflos dem Leiden und dem Bösen gegenüber verhielte. Auch in ihm begegnet uns der lebendige schöpferische Gott, der rettet und richtet, der uns näherkommen und uns fernerrücken kann und der dennoch alle Tage bei uns ist, bis an der Welt Ende. In ihm begegnet uns der Gott, der barmherzig und schützend die Hand über uns hält, der das Angesicht über uns leuchten läßt und es auf uns erhebt. Durch ihn und in ihm werden wir mit dem Angesicht des dreieinigen Gottes vertraut, durch ihn und in ihm werden wir erneuert und erhoben, so daß wir in der uneingeschränkten Begegnung mit Gottes Herrlichkeit nicht vergehen müssen.

Die nur scheinbar enttäuschende Begegnung des Mose mit Gott und die Offenbarung Gotte in Christus haben eines gemeinsam. Sie wollen uns Menschen mit dem Angesicht des lebendigen Gottes in barmherziger Weise vertraut machen. Sie wollen uns mit Gottes Angesicht vertraut machen, damit wir nicht sagen müssen: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ (Heb 10,31) Sie wollen uns mit Gottes Angesicht vertraut machen, damit in der klaren Hoffnung leben können: „Jetzt schauen wir in einem Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkenne, wie auch ich durch und durch erkannt worden bin.“ (1Kor 13,12)
Amen.

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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