26.08.2007: Prof. Dr. Wilfried Härle über Mk 8,22-26

 

Predigt über Markus 8, 22-26

Universitätsgottesdienst am 12. Sonntag nach Trinitatis, 26. August 2007

Peterskirche Heidelberg

 

Prediger: Prof. Dr. Wilfried Härle

 

 

„Der Gott des Friedens sei mit euch allen“

 

Liebe Gemeinde,

„Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“, lässt Goethe seinen Faust sagen. Das mag vor 200 Jahren, als diese Worte geschrieben wurden, vielleicht gerade noch gegolten haben, obwohl am Ende der Aufklärungszeit der Glaube an Wunder für viele Menschen schon recht fragwürdig und problematisch geworden war. Inzwischen haben viele Menschen – außerhalb und innerhalb der Kirchen, unter und auf der Kanzel – eher Schwierigkeiten mit den Wundererzählungen, auch mit denen, die im Neuen Testament reichlich überliefert sind. Vom liebsten Kind haben sich die Wunder jedenfalls in unserem mittel-, west- und nordeuropäischen Kulturkreis eher zum Stiefkind, oder genauer gesagt (da ja auch Stiefkinder sehr geliebte Kinder sein können) zum ungeliebten des Glaubens entwickelt. Und das gilt besonders dann, wenn sie so fremdartig, archaisch und merkwürdig daherkommen, wie das in unserem heutigen Predigttext aus Markus 8, 22-26 der Fall ist:

„Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.

Und der nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?

Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte.

Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!“

Was für eine bizarre Geschichte, an der wenigstens drei Besonderheiten und Merkwürdigkeiten ziemlich schnell auffallen und zum Nachdenken, Nachfragen, vielleicht sogar zum Schmunzeln veranlassen:

-         Dass Kranke zu Jesus gebracht werden, weil andere Menschen für sie Heilung erhoffen und erbitten, kommt auch sonst im Neuen Testament vor (siehe Markus 2, 1-12). Aber ungewöhnlich ist, Jesus den Blinden, den man zu ihm gebracht hat, nicht dort heilt, wo er sich gerade befindet und vor aller Augen, sondern dass er ihn an der Hand nimmt und ihn hinaus vor das Dorf führt. Scheut er die Öffentlichkeit? Und wenn ja, warum? Will er unbeobachtet sein? Will er nicht, dass andere sehen, was er macht und wie er es macht? Hat er etwas zu verbergen? Geht da am Ende sogar irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu? Was für eine merkwürdige Geheimniskrämerei!?

-         Jesus heilt den Blinden nicht, indem er ein machtvolles Wort spricht, durch das die Krankheit zum Verschwinden gebracht wird, sondern er tut wortlos etwas, genau genommen sogar Zweierlei: Er tut ihm Speichel auf die Augen und legt ihm die Hände auf. Diese für viele Menschen schon ästhetisch nicht ganz unproblematische Anwendung von Speichel als Heil- oder Wundermittel legt die Frage nahe, ob wir in dieser Erzählung eigentlich Zeugen eines Wunders oder einer altertümlichen medizinischen Heilbehandlung werden, bei der das schon in der Antike (und bis heute) bekannte Wissen um die heilende, immunologische Wirkung von Speichel eingesetzt und angewandt wird. Oder ist schon diese Alternative, ob es um ein Wunder oder um eine medizinische Behandlung geht, eine falsch formulierte Alternative? Könnte es sich – nach biblischer und nach heutiger Vorstellung – um Beides zugleich handeln? Tatsächlich sagen ja auch heute viele Menschen nach einer Heilbehandlung, die wider Erwarten gut verlaufen ist: „Das war ein echtes Wunder. Die Ärzte hatten mich doch schon aufgegeben. Wenn ich nicht dem Professor XY begegnet wäre, könnte ich doch heute nicht mehr laufen oder wäre gar nicht mehr am Leben“. Liegt es nicht an der Einstellung von Patienten und Ärzten, ob ein Heilungsvorgang nur als medizinische Therapie oder auch als Wunder erlebt und verstanden wird?

-         Schließlich das zweifellos Merkwürdigste und im Neuen Testament völlig Einmalige: die Heilung klappt nicht richtig – jedenfalls nicht auf Anhieb. Der Geheilte, wenn man ihn denn so nennen darf, sieht zunächst gar nicht richtig, er sieht alles ganz unscharf, so dass ihm die Menschen wie umherlaufende Bäume erscheinen. Als hätte Jesus die falsche Dosis gewählt. Wie peinlich! Ist Jesus da ein Kunstfehler unterlaufen? Jedenfalls muss er noch einmal ansetzen und nachbessern. Und erst als er einen zweiten Versuch unternommen hat, klappt die Heilung – Gott sei Dank – und diesmal sogar sehr gut: Der Blinde „wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte“. Aber ist eine solche ‚Panne’ mit dem Wirken eines Wundertäters überhaupt vereinbar?

Wenn man diese Merkwürdigkeiten auf sich wirken lässt, könnte man auf die Idee kommen, es wäre besser, einen solchen Vorfall nicht lieber mit Schweigen zu übergehen und ihn gar nicht weiter zu erzählen. So müssen wohl Matthäus und Lukas gedacht haben, die zwar fast alle Wundererzählungen aus dem Markusevangelium übernommen und weiter überliefert haben, aber diese (und zwei bis drei andere ähnliche) nicht. Schon die Geheimnistuerei Jesu, sodann die Verwendung von Speichel durch Jesus, vor allem das Missgeschick beim ersten Heilungsversuch waren ihnen offenbar so unangenehm und anstößig, dass sie auf die Weitergabe dieser Erzählung lieber ganz verzichtet haben.

Wer damals oder heute Schwierigkeiten mit einer solchen Erzählung hat, sie aber nicht eliminieren oder unterdrücken kann (oder will), da Markus sie ja überliefert hat (und sie für den zwölften Sonntag nach Trinitatis als Predigttext vorgeschlagen ist), dem bleibt freilich immer noch die Möglichkeit, sie symbolisch zu interpretieren. Dann werden die körperlichen Leiden zu Chiffren für geistige oder geistliche Blindheit oder Taubheit, für das Nicht-reden-Können, das nicht durch einen körperlichen Defekt bedingt ist, sondern z. B. durch eine tief sitzende, unverarbeitete Hemmung, vielleicht durch ein Schuldgefühl oder eine frühkindliche Verletzung, die einen Menschen hat verstummen lassen. Und so lassen sich alle Wundererzählungen des Neuen Testaments auch symbolisch, metaphorisch, also im übertragenen Sinn verstehen oder deuten. Und dass wir sie damit nicht missdeuten, sondern dass sie im Neuen Testament selbst schon – auch – so verstanden werden wollen, hat die neutestamentliche Forschung schon lange erkannt und herausgearbeitet.

Gerade unsere Erzählung ist dafür ein Paradebeispiel. Der Verfasser des Markusevangeliums hat sie zwischen zwei anderen Erzählungen platziert, die von der inneren, geistigen und geistlichen Blindheit und vom inneren, geistigen und geistlichen Sehen der Jünger handeln. So fragt Jesus seine Jünger in der vorangehenden Erzählung (Markus 8, 17-19):

„Versteht ihr noch nicht, und begreift ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz in euch? Habt Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht?“

Und die Erzählung, die unmittelbar an die Geschichte von der Blindenheilung anschließt, handelt davon, wie die Jünger endlich zu Sehenden werden, denen die Augen aufgegangen sind und die nun erkennen, wer Jesus wirklich ist, wenn Petrus in ihrer aller Namen sagt: „Du bist der Christus!“ (Markus 8, 29).

Keine Frage: Die Wundererzählungen haben auch im Neuen Testament schon eine zweifache, eine buchstäbliche und eine symbolische Bedeutung. Sie handeln davon, wie Jesus Menschen hilft, die sich in körperlicher, leibhafter Not befinden, und sie handeln davon, wie Menschen lernen, ihr Leben und ihre Welt im Licht der Heiligkeit, Barmherzigkeit und Liebe Gottes neu zu verstehen, zu erkennen und danach auszurichten.

Problematisch wird der Verweis auf diese symbolische Bedeutung nur dann, wenn er zu einem Sich-drücken um die Frage nach der historischen Realität der Wunder wird, zu einem Kneifen und Ausweichen vor der geschichtlichen Wahrheitsfrage. Aber gerade das macht einem die Erzählung von der Blindenheilung aus Markus 8 – zusammen mit manchen anderen Wundergeschichten – faktisch überflüssig und in gewisser Hinsicht sogar unmöglich. Wären solche Erzählungen bloß ausgedacht und erfunden worden, um die Bedeutung und göttliche Würde Jesu herauszustellen, um also sein Ansehen und seine Ehre zu vergrößern, dann wären sie nicht so ausgefallen, wie wir sie vorfinden, dann hätte sich das frühe Christentum zweifellos eindrucksvollere, überzeugendere, imposantere Geschichten einfallen lassen. Nein, hier stoßen wir auf Texte, die gerade in ihrer Brüchigkeit und Problematik deutlich zeigen, dass sie auf reale körperliche Erfahrungen und Erlebnisse verweisen und etwas sichtbar machen von den heilenden, befreienden und lebensrettenden Kräften, die von der Person Jesu ausgegangen sein müssen. Anders sind diese Texte und anders ist die Wirkung seiner Person auf die damals lebenden Menschen doch wohl gar nicht zu verstehen oder zu erklären.

Aber nun das Auffällige: Jesus hat, und das ist ein durchgehender Zug in fast allen Wundererzählungen, aus seinen Wundertaten publizistisch nichts gemacht. In der Regel enden sie mit einem Schweigegebot, und auch am Ende unserer Erzählung steht nicht die – an sich und insbesondere für uns so naheliegende – Aufforderung, nun ins Dorf zurückzukehren und den Menschen (insbesondere denen, die ihn zu Jesus gebracht hatten) das eindrucksvolle Ergebnis der Heilung vorzuführen und sie daran teilhaben zu lassen, damit möglichst viele zu Anhängern oder gar zu Jüngern Jesu werden. Nein: Er schickt ihn heim mit der ausdrücklichen Aufforderung: „Geh nicht hinein in das Dorf!“ Einem kirchlichen Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit würden die Haare zu Berge stehen, wenn er sich das mit anhören und ansehen müsste.

Wie auch immer dieses Geheimnis- und Schweigemotiv letztlich zu verstehen und zu erklären ist, es ist ein Hinweis darauf, dass die heilende und rettende Kraft, mit der Menschen durch die Person Jesu in Berührung kommen, eine von Gott stammende, von Gott ausgehende, mit Gott in Verbindung bringende Kraft ist, die keine reißerische Reklame, keine grelle publicity, kein öffentliches Spektakel verträgt, weil sie dadurch missverstanden wird und Schaden leidet. Wer sie ans Licht der Öffentlichkeit zieht und als neue Erfolgsstory vermarkten will, fügt ihr Schaden zu oder zerstört sie sogar. Deshalb ist es bis heute ein gutes und verlässliches Kriterium für die Unterscheidung der Geister, zu fragen, wie – laut oder leise, marktschreierisch oder behutsam, großsprecherisch oder demütig – Menschen mit solchen heilenden Kräften, die ihnen zuteil geworden sind, umgehen.

Und gerade dann, wenn damit nicht äußeres Aufsehen erregt wird, sondern wenn Menschen mit ihren diesbezüglichen Gaben eher scheu und verschwiegen umgehen und sie vor dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit schützen, kann sich ihnen auch die zweite, die zeichenhafte, symbolische, metaphorische Bedeutung solcher wunderbaren und wunderhaften Erfahrungen erschließen. Dann ist es kein ‚Trick’, wenn die Wundererzählungen auch als Hinweise auf Erfahrungen von Vergebung, Befreiung, Durchblick und Ermutigung verstanden und in diesem Sinne als heilende und rettende Wunder Gottes bezeichnet oder gedeutet werden. Und gerade dann erschließt sich die tiefere Bedeutung der Wundererzählungen auch für Menschen, die nicht im körperlichen Sinne blind, stumm, taub, lahm oder aussätzig sind oder an einem anderen Gebrechen leiden.

Zwei Botschaften sind in dieser symbolischen Hinsicht für mich bei der Vorbereitung dieser Predigt wichtig geworden:

-         Gottes heilendes, zurechtbringendes, rettendes Wirken an Menschen kann durch ganz alltägliche, unspektakuläre, irdische Dinge geschehen: durch Speichel und Handauflegung, durch das Untertauchen in einem Fluss (wie wir in der Altarlesung aus 2. Könige 5,1-3 und 9-14 gehört haben), durch ein aufmerksames, neue Perspektiven eröffnendes Gespräch, durch eine freundliche Geste, ein gutes Buch, einen beeindruckenden Film. Dabei fällt mir eine kleine erheiternde und zugleich nachdenklich machende Anekdote ein, die einer meiner Söhne vor Jahren aus seinem Zivildienst im Krankenhaus mit nach Hause brachte. Zu seinen Aufgaben gehörte das Blutdruckmessen, und das erledigte er mit der ihm eigenen heiteren, zugewandten Art. Als er mehrere Stunden nach der Messung einer älteren Patientin noch einmal in eines der Krankenzimmer kommt, sagte eine ältere Patientin zu ihm: „Also wissen Sie, das Blutdruckmessen heute Morgen hat mir so gut getan. Mir geht es jetzt schon wieder viel besser“. Medizinisch betrachtet ist das natürlich zum Lachen (oder zum Lächeln), aber ganzheitlich gesehen kommt darin etwas zum Ausdruck von einem großen Hunger nach Nähe und Berührung und von den großen – oder sollte man lieber sagen: tiefen – Wirkungen, die kleine Gesten und Berührungen für Menschen haben können, die nach Zuwendung und Nähe hungern. Und warum sollte eine solche Erfahrung für einen Menschen nicht zu einer Gotteserfahrung im Kleinen und im Konkreten werden können? Wenn Menschen das Gefühl haben, in ihrem Leben sei vom Wirken Gottes nichts zu spüren, dann kann das auch daran liegen, dass sie zu sehr auf Außerordentliches, Einmaliges, Spektakuläres fixiert sind und dadurch nicht wahrnehmen können, was ihnen im Alltäglichen so zuteil wird, dass sie Lebensmut gewinnen, Zuversicht schöpfen, einen Halt oder eine heilsame Perspektive gewinnen. Das wahrnehmen zu können, ist selbst – symbolisch verstanden – ein Heilungswunder, durch das unsere innere Blindheit überwunden wird und wir einen Blick und sehende Augen gewinnen für Gottes Wirklichkeit und Wirken in unserem Leben.

-         Gottes heilendes, zurechtbringendes, rettendes Wirken an Menschen kann so geschehen, dass ihnen nicht alles (auf einmal) zuteil wird, was sie sich von Gott erhofft oder erbeten haben und für ihr Leben brauchen. Vielleicht beginnt auch die innere, die geistliche Heilung eines Menschen damit, dass er nur etwas – noch undeutlich, unbestimmt, unscharf – erkennt, aber noch nicht alles, dass ihm nur etwas zuteil wird, aber noch nicht alles, dass ihm nur etwas gelingt, aber noch nicht alles. Das kann leicht enttäuschend wirken, und ich bin schon gelegentlich Menschen begegnet, die mit dem christlichen Glauben innerlich in Kontakt gekommen waren und die Überzeugung oder Hoffung gewonnen hatten, dass dadurch nun alles in ihrem Leben gut werden könne und die Macht des Bösen aus dem Herzen und Leben verschwände. Aber dann mussten sie nach einiger Zeit die Erfahrung machen: So ist es nicht. Die alten Schwächen und Gefährdungen tauchen wieder auf, die alten Wunden und Verletzungen brechen wieder auf, die eingefleischten Unarten und Fehler machen sich immer wieder bemerkbar. Es ist zwar anders und besser geworden in meinem Leben, aber es ist nicht alles gut geworden. Wer das entdeckt, kann sich enttäuscht abwenden oder sich resigniert damit abfinden. Aber beides führt nicht weiter. Hilfreich ist es dagegen, an dem begonnenen Veränderungs-, Erneuerungs- und Heilungsprozess dranzubleiben, sich erneut – und nicht nur ein zweites Mal, sondern immer wieder – anrühren und berühren zu lassen von den heilenden Kräften, die für einen Menschen spürbar geworden sind. „Ein Christ ist nicht im Gewordensein, sondern immer im Werden“, hat Luther einmal gesagt. Und im Gefolge dieser Einsicht spricht die evangelische Kirche und Theologie vom Christen als einem Menschen, der „zugleich gerecht und Sünder“ („simul iustus et peccator“) ist – auf dem Weg und noch nicht am Ziel, aber auf dem Weg zu dem Ziel, an dem es heißt: „Er wurde wieder zurechtgebracht“.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre euere Herzen und Sinne in Christus Jesus – auf diesem Weg zu diesem Ziel. Amen

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Letzte Änderung: 21.03.2016
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