25.05.2006: Prof. Dr. Peter Lampe über Ps 103/Mt 5,43-48

 

Gotik zur Himmelfahrt

 

Peter Lampe

 

Predigt zur Himmelfahrt 2006 in der Peterskirche zu Heidelberg

 

Lesungen während der Liturgie, auf die die Predigt sich bezieht:

Psalm 103 und Matthäus 5,43-48 (Gottesliebe/Feindesliebe)

 

Vom Kirchenschiff aus gesprochen:

Er wollte auch nach seinem Tode an unseren Eucharistiefeiern teilhaben, an den Gottesdiensten der Lebenden. Dort drüben, in der nordöstlichen Seitenkapelle, kniet er, zum Altar hingewandt, auf dem ältesten und einzigen spätgotischen Epitaph. Am Sonntag Rogate wurde hier über ihn gepredigt. Alexander Bellendörffer hieß er, der Chefnotar des kurfürstlichen Hofes. 1485 legte er im Namen des Kurfürsten den Grundstein zum spätgotischen Neubau der Peterskirche. Noch vor 1496 wurde der Neubau vollendet. Bevor Bellendörffer 1512 verstarb, saß er wie Sie öfters hier im Gemeindeschiff, in einem hohen und weiten Saal, dessen Umfassungsmauern auch uns heute umgeben. Doch teilten noch keine Pfeiler den Saal in drei Schiffe. Denn schwere Gewölbe waren nicht zu tragen. Zu einer Holzdecke schaute Alexander Bellendörffer empor, wenn die Predigt langweilte.

Die Außenansicht der damaligen schlichten, einschiffigen Kirche ist heute im Wesentlichen erhalten. Vergleichen Sie Merians berühmten Heidelberg-Stich von 1620. Auch Martin Luther sah 1518 die Peterskirche in dieser Gestalt, als er schräg gegenüber bei den Augustinern wohnte, dort, wo heute der Universitätsplatz sich weitet.

Neben den Umfassungsmauern des spätgotischen Gotteshauses mit Maßwerkfenstern und sich außen anlehnenden Strebepfeilern existieren heute noch der Chor, der Turm in seinem unteren Teil sowie die gewölbten Seitenkapellen, die bald nach Abschluss des Neubaus wie Küken der Glucke sich zugesellten.

 

„Gotik zur Himmelfahrt“, wird das Thema der gleich folgenden Predigt lauten. Die Gotik repräsentiert nicht nur eine kunsthistorische Periode vom 12.-15. Jahrhundert, sondern einen Stil mit gewaltiger Symbolkraft. Oder anders: Unsere Peterskirche in ihrer gotischen Gestalt drückte nie so deutlich den gotischen Symbolgehalt aus wie in den letzten 140 Jahren – auch nicht in der Epoche der Spätgotik, in der sie auf einem Vorgängerbau am Ende des 15. Jahrhunderts errichtet wurde. Der heutige wohlproportionierte, dreischiffige Innenraum, dem Mittelalter des 13. Jahrhunderts meisterhaft nachempfunden, wurde von 1863 bis 1870 gestaltet. Der neugotische Architekt verstand sich als denkmalpflegerischer Vollender des gotischen Baus, nicht als Neuschöpfer, obwohl er dies durchaus war, schuf er doch einen Innenraum, der im 16. Jahrhundert von Alexander Bellendörffer an dieser Stelle nicht erlebt wurde. Uns ist er geschenkt zum Erfahren und Deuten.

 

Lied (EG 123)

 

Von der Kanzel aus gesprochen:

Gnade sei mit Euch und Friede, von dem, der da ist, der da war und der da kommen wird. Amen.

Liebe Gemeinde, Gotik versetzt in Bewegung, in die horizontale Länge von West nach Ost hinein und hinauf in die Vertikale (die Hand des Predigers zeichnet ein Kreuz). Ich selbst schaffte es bis auf die Kanzel hier herauf, alles weitere wäre lebensgefährlich. Doch der Blick schweift weiter in die Höhe, der Bau strebt empor, bis zu den Scheiteln der Gewölbe. In beide Bewegungsrichtungen wollen wir uns hineindenken.

 

1. Die Vertikale. Die gedrungene romanische Gottesburg inmitten der Welt beginnt, – in Frankreich ab 1120 – sich hinauf zum Himmel zu strecken. Die romanischen Rundbögen spitzen sich nach oben zu. In das Geviert eines Gewölbes werden zwei diagonale Bögen gestellt, ein gotisches Kreuzrippengewölbe entsteht: Nunmehr sechs Bögen – vier an den Seiten, zwei in der Diagonale – tragen das Deckengewicht. Die so entlasteten Wände werden dünner und von viel größeren Fenstern durchbrochen, so dass Himmelslicht hereinflutet. Außen lehnen sich stützende Seitenpfeiler an die Mauern, um den Wänden zu helfen emporzuwachsen. Verschlankte Gewölbepfeiler im Innern schießen höher auf – hinauf zum Himmel, wohin auch der Turm als langer Zeigefinger deutet.

War Gott nicht mehr unter den Menschen? Streckte der Mensch sich hinter Gott her gen Himmel? Und kam er dann doch nicht weiter als ich, der ich wenigstens auf dieser hohen Kanzel landete, aber von oben, vom Gewölbescheitel aus betrachtet, dem Boden lächerlich nahe blieb? Ist nichts übrig als das Sehnen nach dem Verlorenen? Der Abschied von einem romanischen Lebensgefühl, das Gott inmitten einer stabilen Weltordnung hatte spüren lassen; das nun sich verflüchtigte angesichts zerbröckelnder Weltharmonie, spätestens seit Canossa im Jahre 1077? Musste Gott woanders gesucht werden als in weltlichen Ordnungsstrukturen? Eben in der Negation, im Jenseits davon? Aber wo war jenseitiger Himmel? Nur räumlich da oben?

Für viele lag er zugleich im eigenen Inneren, in das sich mystisch zu versenken lohnte, in die Seelentiefen hinein, in die die Welt da draußen nicht hinlangte; in denen ein Jenseits von Welt zu empfinden war; in denen Gott wieder verspürt wurde. Für die Gotik waren räumliche Höhe und innerliche Tiefe keine Gegensätze, sondern beide Ausdruck des Jenseitigen von Welt. So tauchten Glasfenster die gotischen Kathedralen in ein mystisches blau-violettes Himmelslicht. Wer sich räumlich emporstreckte, versenkte sich in das mystische Innere, um Gott wiederzufinden. Eben dort, im Inneren, schwang der Mensch sich empor, Gott entgegen. Erhebet eure Herzen! Dort im Inneren. Die harmonische, nach oben strebende Architektur drückte aus, was im Inneren als mystische Schau sich abspielte. Dort wurde Weltharmonie wiedergefunden, nachdem sie im Draußen zerbrochen war. Dort ließ sich Gott unmittelbar empfinden, ohne dass zerstrittene geistliche und weltliche Herren zum Heilen der Seele gebraucht wurden. Dort, in der Altezza des Inneren. Die Sakralarchitektur – eine Seelenlandschaft.

Ich weiß nicht, ob Sie ein gotischer Mystiker sind, ob Sie Hildegard von Bingen, Hugo von St. Viktor oder Meister Eckhard nahe stehen. Ich weiß aber, dass Sie längst einen Bezug zur Himmelfahrt herstellten: zum sich entziehenden Gott, der Welt und ihrer Reichweite entschwindenden. Auch abseits der Mystik spricht die emporstrebende gotische Architektur.

Weihnachten und Pfingsten feiern wir den Gott-mit-uns, den Immanuel, der sich in die Mitte unserer Niedrigkeit hinabgibt, uns dicht an die Seite tritt. Heute zur Himmelfahrt gedenken wir einer anderen Seite Gottes, einer ebenso wichtigen: des Entzogenseins. Himmelfahrt ist der Tag des ratlosen Hinterherschauens, des sich Hinterherstreckens. Es ist das Fest desjenigen, der sogar auf eine hohe Kanzel stieg und doch nicht sehr weit herankam an diesen Gott – an einen Gott, der sich heute meinem Zugriff entzieht und so seine Souveränität mich spüren lässt.

Theologen wie Paulus – aber auch viele Mystiker – waren sich bewusst, den von ihnen verkündeten Gott nie in Sätzen einfangen zu können, immer nur unter Vorbehalt zu formulieren und im tiefen Grunde theologisches Reden nur in Gebetssprache verantworten zu können – so wie Augustin in den Confessiones. Aber selbst in der Anredeform galt: „Sei nicht schnell mit dem Munde..., etwas vor Gott zu reden. Denn Gott ist im Himmel und du auf Erden. Darum lass deiner Worte wenig sein“ (Prediger Salomonis 5,1-2.11). „Wie du den Weg des Windes nicht kennst..., vermagst du Gottes Tun nicht zu überblicken“ (11,5). „Kein Mensch vermag, den Windhauch des Geistes festzuhalten“ (8,8).

Paulus vermochte theologisches Reden nur „mit Zagen und viel Zittern“ (1 Korinther 2,3) zu verantworten, als etwas Fragmentarisches, als in situationsgebundene Briefe Zerstückeltes. Dem zentralen Evangeliumsinhalt, einem Gekreuzigten, entsprach ein von Vorläufigkeit, von Schwäche gezeichnetes Verkündigen. „Nicht dass ich es ergriffen hätte, ich jage ihm nach“ (Philipper 3,12). Theologie stand für Paulus unter der richtenden Kraft eines Gottes, der als Gegenstand der Theologie dieselbe immer wieder in Frage stellt, wenn es denn sinnvoll bleiben soll, von einem souveränen Gott zu reden.

Wenigstens latent waren Juden- und Christentum, auch der Islam seit jeher sich bewusst, mit ihren Gottesaussagen nicht den Anspruch zu erheben, dem göttlichen Gegenüber ein ähnliches Abbild abzuringen. Über der Schwelle der drei monotheistischen Religionen hängt das Abbild-Verbot. Stattdessen liegt bei allen dreien eine Schrift im Zentrum des gottesdienstlichen Raumes: Schrift vermag nur Zeichen zu sein, Hinweis, kein greifbares Kultbild. Als Ich-bin-der-ich-bin offenbart sich Gott, um sich auf diese Weise zugleich zu entziehen. An Himmelfahrt blicken wir, unserer Grenzen bewusst, dem Entzogenen hinterher.

So hoch der Himmel über der Erde ist, so unerreichbar Gott. Und doch gilt zugleich: „So hoch der Himmel über der Erde ist, so (unermessbar reichlich) lässt Gott seine Gnade walten“, wie uns vorhin der Psalm 103 zusprach.

 

2. Die Horizontale. Betreten Sie mit mir noch einmal die Kirche durch das Westportal. Wir alle kommen aus der Welt, die symbolisch im Westen einer Kirche sich versammelt. Bei uns wird die Welt durch den neugotischen Säulengarten der Orgelempore versinnbildlicht. Drei Reihen von sieben kleinen Kreuzgewölben werden von achtzehn Säulchen getragen: ein kleiner Schöpfungsgarten. Warum dreimal sieben Kreuzgewölbe? Weil die Sieben in unserer Kulturtradition die Ordnung des Kosmos repräsentiert. Sieben Töne spielen wir auf der Tonleiter. Sieben Farben kannten die Alten. Sieben Himmelsplaneten zählten sie einschließlich der Sonne und des Mondes, denen sie sieben Tage der Woche zuordneten. Sieben Tage währte Gottes Schöpfungswoche. Die Schöpfungsordnung drückte selbst in Recht und Politik sich aus. Im deutschen Recht zählten sieben Zeugen, sieben Kurfürsten, sieben Ratsherren. Aber zur Welt gehören auch sieben Todsünden: das Böse, das Unvollkommene. In unserem Säulengarten zeigt es sich dort, wo nicht alle Kreuzgewölbe ausgeführt sind. Einige der Gevierte des Schöpfungsgartens sind nur mit Brettern und Balken abgedeckt, weil ihre Kreuzgewölbe durch Krieg im 20. Jahrhundert zerstört oder aus Mangel nie vollendet wurden.

Und doch stellt sich für den gotischen Menschen die Welt als Gottes Schöpfungsordnung dar. Woran sehen wir das? Daran, dass drei Reihen von sieben Kreuzgewölben die Orgelempore tragen. Beim Hinausgehen werden Sie die drei Reihen durchqueren. Die Drei steht für die Trinität, die uns gleich noch einmal im Chor begegnen wird, in den dortigen drei Gewölben.

Vom Säulengarten der Welt treten wir in den Raum der Christusgemeinde ein. Gehören wir noch nicht zu Christus, werden wir dort hinten im Westen der Kirche getauft, wo traditionell der Taufstein stand, auf der Schwelle zwischen Welt und Heilsraum. Dass heute Taufen vorne zelebriert werden, verdankt sich praktischen Gründen.

Wir durchschreiten das Langschiff. Halten Sie sich dabei für einen gedanklichen Kraftakt bereit. Sie schreiten zunächst eine Raumachse ab von der unerlösten Welt im Westen bis hin zum Altar des Heils im Chor des Ostens; von dort hinten, von woher wir mühselig und beladen kommen, bis hierher nach vorne, wo wir gestärkt zu werden hoffen. Zugleich schreitet ein gotischer Mensch aber auch eine Zeitachse ab: die der gesamten Weltgeschichte vom Schöpfungsbeginn im Westen bis hin zum Eschaton im Osten. Im Dom von Siena werden die heilsgeschichtlichen Stationen sogar im Mosaikfussboden markiert: von vorchristlich-heidnischen Szenen auf dem westlichen Vorplatz bis hin zum Altar, an dem Jesus Christus begegnet. 

Wir bilden uns oft ein, erst im 20. Jahrhundert mit Albert Einstein gelernt zu haben, Raum und Zeit nicht als getrennte Größen zu betrachten, sondern beide als vierdimensionale Raumzeit zu denken. Völlig neu ist das nicht. Bereits in der Gotik wurden Zeit und Raum gedanklich zu einer Raumzeit verschmolzen. Hugo von St. Viktor deutete das Bild der Noah-Arche als die Gesamtheit von Welt und Geschichte, in der aller Raum und alle Vergangenheit und alle Zukunft vereint sind. Die Mystiker beeinflussten die gotischen Architekten. Eine Kirche versinnbildlichte die Raumzeit: das Universum in seiner räumlichen Ausdehnung und seiner heilsgeschichtlichen Entwicklung. In einer solchen Raumzeit können Vergangene wie Alexander Bellendörffer am heutigen gottesdienstlichen Anbeten teilnehmen. In einer solchen Raumzeit schließen sich die zeitlichen Klüfte zwischen dem letzten Mahl Jesu, seiner Kreuzigung und dem heutigen Altarsakrament. Das Damalige vergegenwärtigt sich, nimmt uns in sich auf und lässt uns teilhaben wie die Damaligen. Die gesamte Heilsgeschichte wird zur bleibenden Gegenwart.

Wir nähern uns dem Chor. Der unsrige versinnbildlicht mit drei Gewölben die Trinität. Die beiden vorderen stellen spätgotische Strahlengewölbe dar, mit je acht Strahlen; das hintere in der Apsis ein achtstrahliges Fächergewölbe. Warum dreimal die Acht? Die Zahl Acht versinnbildlicht Vollkommenheit. Nur der dreieinige Gott ist vollkommen. Der niedrig gehaltene Triumphbogen setzt den Chor deshalb ein wenig ab von uns hier im Langhaus. 

Worin besteht das Vollkommene Gottes? Eine der wichtigsten Antworten lasen wir vorhin im Evangeliumstext, in Matthäus 5 (Verse 43-48): Gott liebt Menschen ohne Ansehen der widerborstigen Person. Er liebt dort, wo das Lieben schwer fällt, wo nichts des Zuneigens wert erscheint. Eine solche Liebe strömt dem entgegen, der mühselig und bepackt im Kirchenschiff nach vorne sich schleppt, beladen mit eigener Geschichte, innerlich abgerissen und mit nichts in Händen, das Gott beeindrucken müsste. „Kommet her alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken“ – mit Worten einer Schrift, die tröstet; mit einem Mahl, bei dem Christen Gottesnähe erfahren; an einem Tisch, der auf das eschatologische Freudenmahl vorausverweist. So hoch und unerreichbar das Gewölbe sich über uns ausspannt, „so hoch der Himmel über der Erde, so (unermessbar reichlich) lässt Gott seine Gnade walten über die, die ihn fürchten“ (Psalm 103,11).

 

3. Denken wir die Horizontale auch in umgekehrter Richtung, von Ost nach West! Die Acht der Chorgewölbe wird an die Pfeiler im Kirchenschiff geworfen, wo sie in den acht Rippen (sog. „Diensten“) wiederkehrt, die an jedem Bündelpfeiler in die Höhe schnellen und sich aufschirmen in die Kreuzrippen der Gewölbe hinein. Dort bricht sich die Acht zur Vier herunter, in ein Kreuz. Gott wurde Mensch und ließ sich für uns hinrichten – als tiefster Ausdruck seines Liebens.

Die Ost-West-Ausstrahlung vom Chor ins Schiff hinein lässt sich auch so deuten, dass Gott uns in seine Liebesbewegung hineinnimmt, uns befähigt, selbst Versuche des Liebens zu wagen, auch dort, wo das Zuneigen schwer fällt, wo nichts Liebenswertes zu entdecken zu sein scheint. Für Gotik-Symbolisten stehen die Pfeiler in der Regel für die Apostel; zwölf Pfeiler stützen die Gewölbe unserer Peterskirche. Will sagen, aufruhend auf den Aposteln und ihrer Botschaft von der Liebe Christi, wagen wir, selbst zu lieben, auch wenn in unserer menschlichen Kreuzesexistenz nie eine Acht, immer nur eine Vier dabei herauskommt, nichts als eine heruntergebrochene Acht. Nicht, dass wir es ergriffen hätten, wir jagen ihm nach. Die in 1 Korinther 13 besungene Liebe vermögen wir nie in vollkommener Weise ins Werk zu setzen. „Die Liebe,“ so heißt es, „besitzt einen langen Atem, gütig ist sie, nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht,... sucht nicht das Ihre, ... erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, harrt geduldig beim anderen aus.“ Kein Mensch vermag das alles. Dergleichen vollkommene Liebe stellt eine göttliche, eine eschatologische Größe dar. Und doch, wer nur ein wenig von ihr erfährt, kostet einen Vorgeschmack des Eschatons (1 Kor 13,8.13).

So gehet denn hin, geleitet vom Segen des Herrn, getragen von Gottes Liebe, die jedem von Euch gilt. Wenn Ihr durch das Westportal zurück in die Welt geht, dreht Euch draußen einen Moment um, schaut zum Turm auf und zählt die Seiten des grün-kupfernen Turmhelmes: Es werden acht sein. Während der Woche erinnert der zum Himmel gestreckte Zeigefinger Euch an die Acht des Chores. Lasst Euch von der Liebe Gottes durch die Woche tragen. Und nutzet Münder, Augen, Hände und Füße, um selbst die Welt ein wenig liebevoller zu durchdringen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne, Eure Münder, Augen, Hände und Füße in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

 

 

Postskriptum. Der oben abgedruckte Text wurde gegenüber dem auf der Kanzel vorgetragenen bereits erweitert. Dennoch ruft er nach weiterem Erläutern.

1. Zum spätgotischen Bau. Wer auf dem Philosophenweg spazieren geht, kommt an der Stelle vorbei, an der Merian für den Stich von 1620 zeichnete, und kann einen Blick auf das Original und eine dort ausgestellte Kopie des Stiches werfen. Merian’s Stich findet sich gut reproduziert und kommentiert bei F. Hepp (Matthaeus Merian in Heidelberg. Ansichten einer Stadt, Heidelberg 19942, 28). Das Buch bietet historische Ansichten der Peterskirche von verschiedenen Seiten: Gleichfalls von Norden blickt der Betrachter der Darstellungen aus den Jahren 1550 (ebd. 23), 1645 (ebd. 86) und 1683 (ebd. 94); die Westseite präsentiert eine Ansicht von 1619 (ebd. 12); die Südseite eine aus dem Jahre 1654 (ebd. 92).

Der spätgotische Chor der Peterskirche, von drei Gewölben gedeckt, vereinte sich mit dem ebenso hohen Langhaus unter einem steilen Satteldach. Dieses wurde im Barock durch ein gebrochenes Mansardendach ersetzt, im 19. Jahrhundert jedoch zum Satteldach zurückgebildet.

Der spätgotische Turm ist bis zum Ansatz der Schieferverkleidung hinauf erhalten. Er findet Parallelen in der Alexanderkirche von Marbach (1481) und in der Klosterkirche von Blaubeuren (1491/99).

Die spätgotische Peterskirche erhob sich wie einschiffige Bettelordenskirchen über einem schlichten Aufriss und beschränkte wie diese ihre Gewölbedecken auf Chor und Seitenkapellen. Vergleichbar sind auch (freilich kleinere) Pfarrkirchen des 15. Jahrhunderts in umliegenden Landstädtchen und Ritterschaftsorten, zum Beispiel in Bretten, Heidelsheim und Sickingen.

2. Zum Vorgängerbau der spätgotischen Kirche. Geophysikalische Prospektionen und archäologische Grabungen stehen aus. Der wohl kleinere Vorgängerbau wird sich romanisch (oder hochgotisch) präsentiert haben. In ihm wurde 1396 vor dem Hauptaltar der Gründungsrektor der Universität, Marsilius van Inghen, bestattet. A. Seeliger-Zeiss (9) vermutet, dass Teile des heutigen massiven Turmmauerwerks bereits zum Vorgängerbau gehörten. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass unter dem heutigen Chor eine romanische Kirche verborgen liegt, die dann nach Westen in Richtung des heutigen Turms erweitert wurde.

Die St. Petri Kirche, ursprünglich abhängig vom Wormser Bischof, geht als älteste Heidelbergs bis in die christlichen Anfänge einer Neckarfischer-Siedlung zurück, welche, vor Hochwasser sicher, am Klingenteichbach entlang sich erstreckte. Die Kirche liegt auf einem Schwemmkegel dieses Baches, der hier aus den Bergen in die Neckarebene austritt. Um 1170 gründete ein jüngerer Bruder Kaiser Friedrich Barbarossas, Pfalzgraf Konrad von Hohenstaufen, als Mittelpunkt seiner Herrschaft die Stadt Heidelberg unterhalb der Burg. Die Fischersiedlung mit ihrer Kirche dagegen dürfte älter und nicht erst im 12. Jahrhundert entstanden sein. Im Jahre 1196 erwähnt eine Urkunde für das Kloster Schönau den Leutpriester (plebanus) Chunradus an St. Peter (Kopie im Generallandesarchiv Karlsruhe 67/1302; zugleich wird hier zum ersten Mal der Name Heidelberg erwähnt). Seit jeher wurden in und um die St. Petri Pfarrkirche herum inmitten eines ausgedehnten Wehrkirchhofs die Toten Heidelbergs bestattet – bis 1844. (Weiterführende Literatur bei z. B. A. Seeliger-Zeiss, Peterskirche Heidelberg, München/Zürich 1986, 19).

         3. Zur neugotischen Kirche aus den Jahren 1863-1870. Sie wurde dreischiffigen Hallenkirchen des 13. Jahrhunderts wie denen von Wetzlar, Marburg und Friedberg nachempfunden. Nach dem zweiten Weltkrieg verschwanden wieder: (a) Der neugotische, der Hochgotik nachempfundene obere Turmteil, der ab 1863 analog zu den Turmvollendungen in Köln, Ulm und Meißen und in Konkurrenz zur Heidelberger Jesuitenkirche ausgebaut worden war und 1961-63 / 1985 zu einem einfachen mittelalterlichen Spitzhelm zurückgebildet wurde; die heutige Schieferverkleidung stört und gibt nicht den Eindruck der vier spitz aufgemauerten Giebel vom Ende des 15. Jahrhunderts wieder. (b) Das neugotische Außenkleid (Zierfriese sowie eine gusssteinerne Maßwerkbrüstung von Villeroy und Boche). (c) Im Innern die historistische Schablonenmalerei, ein Holzaltar sowie ein Schalldeckel der Kanzel.

Aus dem 19. Jahrhundert erhalten wurden dagegen die Glasmalereien im Chor, im Langhaus die Kanzel, der Triumphbogen, die Bündelpfeiler mit ihren Gewölben sowie der eine Orgel tragende Säulengarten, der 1896 und 1914 sogar erweitert wurde. Die Seitenschiffe nehmen sich schmäler und etwas niedriger als das Mittelschiff aus.

Der neugotische Architekt, Ludwig Franck-Marperger, wurde Ehrendoktor der Heidelberger Universität wie die den Kirchenraum ebenfalls gestaltenden Maler Hans Thoma (zwei Leinwandgemälde 1902/03) und Johannes Schreiter (Glasfester 2006).

4. Zur Entwicklung des gotischen Baustils. Das romanische Kreuzgratgewölbe erfanden bereits die Römer, als sie zwei Tonnengewölbe rechtwinklig ineinander schoben. Leitete das romanische Kreuzgratgewölbe die Deckenschwere eines Gevierts auf dicke Seitenwände oder massive Pfeiler ab, so stellten sich in der Gotik als zusätzliche Stützen zwei diagonale Bögen ins Geviert: Das gotische Kreuzrippengewölbe entstand dadurch, dass die romanischen Kreuzgrate durch Rippen verstärkt wurden; es resultierten zwei tragende diagonale Bögen. Dem Gusto der vom Orient berührten Kreuzfahrer folgend, spitzten die romanischen Rundbögen sich nach oben zu.

Wenn ich das Kreuz im Scheitel dieses Gewölbes auf den Kreuzestod Christi hinweisen lasse, spekuliere ich nicht frei. Gotische Architekten anderer Kirchen bildeten den Gekreuzigten sogar im Grundriss ab, indem sie ein Querhaus für die ausgebreiteten Arme einzogen. Den Kopf stellte der Chor dar. Zuweilen wurde der Kopf zur Seite geneigt, indem die Achse des Chores anders als die des Langhauses orientiert wurde.

Die außen stützenden Seitenpfeiler fingen die Dachschwere ab und erlaubten so den Mauern, sich zu verschlanken.

Die Welt versammelte sich symbolisch am Westende der Kirche. Entsprechend stellen Reliefs über vielen Westportalen das Gericht über die Welt dar, vor dessen Gotteszorn der Mensch bewahrt wird, wenn er sich Christus zuwendet und die Kirche betritt.

Das romanische Gefühl von Weltharmonie zerstob. König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. leiteten 1075 bei der Besetzung des Mailänder Erzstuhls einen Machtkampf zwischen König- und Papsttum ein; gestritten wurde, wer Bischöfe und Äbte einzusetzen befugt war (Investiturstreit). Papst Gregor VII drohte, den König seines Amtes zu entheben; dieser setzte seinerseits 1076 den Papst ab, was zum Bannfluch über den König führte. Bischöfe und Fürsten zwangen den König zu einem Bußgang nach Canossa zum Papste, um den Bann zu lösen; andernfalls würde der König aus seinem Amte gejagt. Trotz des erfolgreichen Bußgangs im Jahre 1077 wurden nacheinander zwei Gegenkönig eingesetzt, gegen die Heinrich sich behauptete. 1080 schleuderte der Papst erneut den Bann gegen den König, so dass dieser Gregor absetzte und Klemens III. zum Pontifex Maximus wählen ließ. In den 1090er Jahren erhob sich Heinrichs eigener Sohn gegen den Vater, der den Sohn ächtete. Auch der zweite Sohn stand gegen den Vater auf, setzte diesen gefangen und zwang ihn 1105 abzudanken. Heinrich IV. starb 1106. Angesichts solcher Kämpfe der zum Schutz der Weltordnung berufenen Mächte schien die Welt den Menschen aus den Fugen geraten.

Ähnlich wie der Mystiker Hugo von St. Viktor stellte sich Hildegard von Bingen den gesamten Heilsgeschichtskosmos – von der Zeit vor der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht – im Bilde eines Ewigkeits-Zeiten-Rades vor, das von den Händen Gottes zusammengehalten wird. Für Hugo symbolisierte die Länge der Noah-Arche die Zeitachse, die Breite den Raum und die Höhe die Werteordnung. Auf den Zusammenhang zwischen Mystik und Architektur hebt beispielsweise F. Ohly ab (Die Kathedrale als Zeitenraum, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1983, 171-273).

Dem Zug ins mystische Innere entsprach zugleich eine Individualisierungstendenz, die sich liturgisch-praktisch in der Winkelmessenfrömmigkeit von Seitenkapellen und Seitenaltären ausdrückte.

                5. Zum Entzogensein Gottes. Vergleichbar sind auch Stellen wie Prediger Salomonis 8,17: „Selbst wenn der Weise meint: ‚Ich weiß es’, kann er's nicht finden“. „Wer hat in der Ratsversammlung des Herrn gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte?“ (Jeremia 23,18). „Hast du die Weisheit an dich gerissen?“ (Hiob 15,8). Ähnlich tönen Jesaja 40,13 in der Septuaginta und Römer 11,34. Das Zitat aus Philipper 3,12 bezieht sich im Mikrokontext des Kapitels 3 zwar auf das eschatologische Vollendetwerden (3,11 Auferstehung), im Makrokontext paulinischer Theologie jedoch auch auf das Sich-Bescheiden-Müssen im theologischen Erkenntnisvorgang. Das Motiv des Entzogenseins Gottes begegnet auch bei den Mystikern, schon in deren antiker Grundlage, der Schrift De Mystica Theologia des Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500 n. Chr.).

Die Vertikale in der Architektur versinnbildlicht die Ebene Gottes, auf der Gott sich entzieht und sich auf uns zu bewegt. Da sie uns im wesentlichen verwehrt ist, bleibt uns die Horizontale als Bewegungsdimension – von West nach Ost und umgekehrt.

         6. Die Siebenzahl der Schöpfungsordnung präsentierte auch der siebenarmige Leuchter des jüdischen Tempels. Darüber hinaus wurde jedem Tag ein Himmelskörper zugeordnet: dem Sonntag selbstredend die Sonne; dem Montag der Mond; dem Dienstag Mars, der im Althochdeutschen Zin hieß; dem Mittwoch Merkur alias Wodan (Wednesday); dem Donnerstag Iuppiter alias Donar; dem Freitag Venus alias Frija; dem Samstag Saturn (Saturday). Schon für die Babylonier galt 1600 v. Chr. die Siebentagewoche. Unsere babylonischen Kulturahnen zählten freilich nicht nur sieben Himmelszonen – noch heute reden wir vom „siebten Himmel“ –, sie nahmen auch sieben Winde und sieben Flüsse in der Welt an. Aber sie kannten auch die „bösen Sieben“, eine Dämonengruppe, der in der christlichen Tradition die sieben Todsünden entsprechen sollten. Den sieben Kardinalsünden gegenüber gestellt wurden sieben Tugenden bzw. Gaben des Heiligen Geistes, mit denen die Welt durchdrungen werden sollte.

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Letzte Änderung: 21.03.2016
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