23.09.2007: Prof. Dr. Gerhard Rau über Lk 7,11-16

 

Predigt über Luk. 7, 11-16 im Universitätsgottesdienst am 23.9.2007

 

Prediger: Prof. Dr. Gerhard Rau

 

 

Das Evangelium des 16. Sonntags nach Trinitatis wird nach der Ordnung der Predigttexte in den Evangelischen Kirchen heute verkündigt mit der Geschichte der Auferweckung des Jünglings von Nain. (Lukas 7, 11 – 16):

 

„Und es begab sich danach, dass er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seine Jünger gingen mit ihm und eine große Menge. Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe; und eine große Menge aus der Stadt ging mit ihr. Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn, und er sprach zu ihr: weine nicht! Und trat hinzu und berührte den Sarg, und die Träger blieben stehen. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden, und Jesus gab ihn seiner Mutter. Und Furcht ergriff sie alle und sie priesen Gott und sprachen: Es ist eine großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk besucht.“

 

Herr, wir bitten dich, erwecke auch uns aus unserem Todesschlaf!

 

 

In einem respektablen neueren exegetischen Kommentar zum Lukasevangelium fand ich den folgenden, speziell einen Badener anheimelnden Bericht aus der Wirkungsgeschichte des Textes:

„Es war an einem 9. September, dem Geburtstag des Großherzogs Friedrich I. von Baden. Ich ging mit meinem Bruder zum Festgottesdienst. Ich erwähne diese Tatsache, weil das, was wir erlebten, so unglaublich ist, dass man versucht wird, an das Wort zu erinnern: Auf zweier oder dreier Zeugen Mund steht jede Sache.

Schon der Text überraschte uns sehr, denn es gab für einen solchen Gottesdienst keinen vorgeschriebenen Text. Der Pfarrer las die Geschichte von der Auferweckung des Jünglings von Nain.

Wir trauten unseren Ohren nicht, als es dann in der Predigt hieß: Wenn irgendwo im Badnerlande eine Frau in schwerem Leiden seufzt und weint, dann kommt unsere Frau Großherzogin und spricht zu ihr: Weib, weine nicht! Und wenn irgendwo im Badnerlande ein Mann unter seiner Not und Last zusammengebrochen ist, dann kommt unser Großherzog und spricht: Jüngling, ich sage dir: stehe auf!

Muss man da nicht fragen: Wie ist so etwas möglich? Es ist ja begreiflich, dass es nicht leicht ist, über die Geschichte zu predigen, wenn man nicht zu ihr ja sagen kann.“

(Bornhäuser K., in: Francois Bovon, Das Evangelium nach Lukas, Benziger/ Neukirchener Verlag 1989, 366)

 

Bei dem erwähnten Großherzog handelt es sich um jenen Friedrich, dessen weiße Büste über jedem Redner am Pult der Alten Aula thront. Und seine Frau , die vom Volk geliebte Großherzogin Luise, eine geborene Preußin, sie lebt fort als die einst große Wohltäterin in sozialen Nöten aller Art im Namen der Luisen-Straße, im Klinik-Viertel.

 

Der Gottesdienstbesucher, der so sehr entsetzt war über eine solche erzliberale Theologie auf einer badischen Kanzel, gehörte wohl zum damaligen fromm-positiven Lager und hat dem Großherzog sicherlich nicht dessen anerkannte Altersgüte absprechen wollen, schon eher dessen geistliches Wirken. Das hätte er aber gar nicht können, denn dieser war nicht nur Großherzog von Gottes Gnaden, sondern auch der Gnaden austeilende Bischof seines Landes.

 

Hätte der über diese Predigt entrüstete fromme Theologe eine Predigt von Augustin oder von Luther zu diesem Text gelesen, so hätte er lernen können, dass die Geschichte von der Totenauferweckung in Nain sich auch bei diesen anerkannten Theologen schnell vom historischen Ausgangspunkt löst und in verhältnismäßig starker Weise seelsorgerlich aktualisiert wird in Bezug auf den Hörer. Freilich klingen die Beispiele dort nicht ganz so biedermeierlich badisch.

 

Bei Augustin sind es drei Arten von Sündern, die des Herzens, die der Tat und die der Gewohnheit, „die auch heute noch Christus zu neuem Leben erstehen lässt“, denn Sünde bedeutet tot zu sein.

Für Luther ist diese Geschichte ein herausragender Beleg dafür, „dass unser Herrgott sei ein Gott der Elenden, Verlassenen, der Toten und Verdorbenen.“ „Da hat er Lust zu schaffen, da nichts ist und alle Dinge zunichte geworden sind.“ „Also wird Gott in seinen Werken erkannt werden, dass er ein Gott sei, der aus Toten Lebendige, aus Verdammten Selige, aus Sündern Gerechte, aus Armen Reiche, aus Niedrigen Hohe, aus Nichts alles machen kann.“ 

Luther hat also das Erbarmen Gottes in den Mittelpunkt gestellt. Im Text heißt es, „es jammerte ihn“. Das griechische Wort dafür hat etwas mit den Eingeweiden zu tun. Unser Elend geht Gott in Jesus also so nahe, dass es ihm regelrecht körperlich weh tut!

 

Wie ein Mensch in Todessituationen geraten kann und von Gott aus dieser Not gerettet werden muss, das schildern die Predigten zu diesem Bibeltext allemal, und dabei reicht die Bedrohung vom leiblichen bis zum geistlichen Sterben in Anfechtung und Zweifel.

 

Der Grund für diese starke seelsorgerliche Auslegung der Geschichte liegt wohl in ihr selbst, und zwar liegt das nicht zuletzt auch an ihrer literarischen Form. Diese entspricht geradezu in klassischer Weise einer hellenistischen Wundergeschichte von einem geistbegabten und heilungsmächtigen Wundertäter, wie sie zum Beispiel auch vom Gott Asklepios überliefert ist.

Einleitung mit örtlicher Angabe; sodann die Exposition mit einer Schilderung der dramatischen Notlage, hier: einer Witwe einziger Sohn ist verstorben und mit ihm der künftige Ernährer der Mutter; sodann im Zentrum des Wunderberichts das Erbarmen Jesu; schließlich der Befehl: erhebe dich, mit dem Erfolgszeichen des zurückgekehrten Sprechenkönnens. Ganz wichtig für die Formgeschichte solcher Berichte: das Staunen der Menge am Ende als Bestätigung des Wunders. 

 

Es wäre fatal, wenn wir dieser Beobachtungen wegen im Blick auf die Form den inhaltlichen Aussagen eine geringere Bedeutung einräumten, im Gegenteil, die Form steht gleichsam für eine tiefere Gesetzmäßigkeit, für eine bestimmte Sicht auf die Welt. Durch solche Formen sehen wir wie durch eine Brille besser, was um uns herum vorgehen mag.

Für den Bibelkundigen erinnert diese Geschichte zudem an eine Elia-Geschichte (2. Könige 17), so dass mit Jesus wirklich der wieder-erwartete Prophet Elia oder gar der Messias am Werke gewesen wäre. Wie Jesus ja auch auf die Anfrage des Täufers antworten lässt: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird das Evangelium gepredigt“. (Lukas 7, 22) All das sollte Anzeichen der messianischen Zeit sein.

 

 

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob es sich bei den Toten, die von Jesus oder seinen Jüngern wieder erweckt wurden, um sogenannte Scheintote gehandelt habe, die in einem tiefen Koma lagen und noch einen Lebensfunken in sich hatten, was von hellsichtigen Wundertätern wahrgenommen werden kann. Die Lazarus-Geschichte zumindest verneint dies. Umso wichtiger ist es zu bedenken, dass die Vorstellung von der Totenauferstehung schon mehr als eineinhalb Jahrhunderte vor Jesus zur Wirklichkeitswahrnehmung Israels gehörte und vor allem von den Pharisäern tradiert und bewahrt wurde.

Diese zum Leben Wiedererweckten gingen aber allesamt einem zweiten Tod entgegen. Nicht so bei der Auferstehung Jesu, der der Erstling der Auferstandenen in eine Nachtodeswelt wurde. Er bleibt durch den Tod hindurch in einer eigenartigen Gestalt das personale Gegenüber für seine Gemeinde.

 

Wenn man sich klar macht, dass ein leiblicher Bruder Jesu, sodann der wichtige Jünger Petrus, nicht zuletzt Paulus zum Martyrium für diese Glaubenserfahrung bereit waren, dann ahnt man, dass es sich dabei nicht um eine beliebig austauschbare Weltanschauung handeln konnte. Vielmehr ging es und geht es bis heute dabei um die Erkenntnis, dass sich Tod und Leben nicht gegenseitig ausschließen, sondern dass - mit einer größeren Perspektive gesehen -   der Tod nicht das Ende allen Lebens, sondern zugleich auch der Anfang von Leben ist, eines Lebens aus der Schöpferkraft Gottes. Für uns aber ist der Tod in der Regel nur noch das Ende des Lebens, statt ein Durchgang zum Leben.

 

Wie aktuell diese Thematik ist, zeigt sich an vielen Krisenphänomenen unserer Zeit: Sterben und Tod werden mehr oder weniger aus unserem Bewusstsein verdrängt, und das mit fatalen Folgen. Wir klammern uns an das Leben, weil wir kein Zutrauen haben in jedwede Erweckung von den Toten und merken dabei gar nicht, wie tot vieles an uns bereits ist und in dieser Form längst nicht mehr verdient, gelebt zu werden.

 

Besonders verheerend wirkt sich aber diese Todesverleugnung und Todesverdrängung auf den Lebensbegriff selbst aus. So kann das Leben nicht mehr als ein großes Geschenk Gottes in Erfahrung gebracht werden, wenn wir es sind, die ihren Lebensanspruch mit Klauen und Zähnen als angebliche Überlebenskunst verteidigen. Leben ist ein Gottesgeschenk und bleibt es und darf nie pervertiert werden zu einem Naturphänomen, das allein aus dem Lebenstrieb der Gattung erklärbar wäre.

 

Wie anders dagegen die biblische Sichtweise, von der Schöpfungsgeschichte an, wo das Leben unmittelbar als Gottes Odem gedeutet wird, bis hin zum verklärten Leib des auferstandenen Christus.

 

 

Die Sache mit der Auferweckung von den Toten hat eine ganz besondere Bedeutung im Blick auf unser allgemeines Wirklichkeitsverständnis. Wenn wir nicht eine Macht über dem Leben wie gleichermaßen über dem Tod denken können, sind wir zum krampfhaften Versuch verdammt, das Leben aus eigener Kraft schützen, sichern und den Tod vermeiden zu müssen.

Eine inzwischen problematisch überalterte Gesellschaft, mit geringerer Sterblichkeit und dafür größerer Kränklichkeit, ist nicht zuletzt auch die logische Folge eines solchen Sich-Anklammerns an das Leben. Ganz zu schweigen vom täglichen gierigen Lebenshunger einerseits samt den Todesphobien andererseits, weil eben nur noch das Leben zur Schöpfung gehört, nicht aber der Tod, dieser allenfalls als Negation von Leben.

 

Kann nun eine Geschichte wie die vom Jüngling zu Nain an dieser Misere überhaupt etwas ändern? Unsere Zweifel werden noch dadurch verstärkt, dass diese Geschichte als bekanntermaßen stilisierte Wundererzählung gar nicht geeignet ist dazu, unserem Drängen auf eine historische Faktenwahrheit wissenschaftlich nachgeben zu können. Zumal sie zum Sondergut des Lukas gehört und von den anderen Evangelisten nicht überliefert ist. Jedoch: Statt eines Faktenbeweises leistet sie etwas anderes! Sie strukturiert unser Gehirn, um eine andere Sicht auf die Wirklichkeit zu entwickeln.

 

Wer das als eine Manipulation, gar als eine Gehirnwäsche fürchten wollte, der sei beruhigt oder - richtiger gesagt - aufgeklärt: die Wirklichkeit wird sowieso mehr in unserem Gehirn konstruiert, als uns bekannt oder sogar recht sein mag. Spätestens die moderne Gehirnforschung hat aufgezeigt, wie die Wahrnehmungen von äußerer Welt durch die Erfahrungen eines Menschen, durch seine subjektive Selektion sowie durch andere Faktoren geprägt wird, so dass es eine sogenannte objektive Realität letztlich gar nicht gibt.

Umso wichtiger ist die Wahl der Brille, die wir auf der Nase haben, je nachdem werden wir ganz verschiedene Welten wahrnehmen. Und eben deshalb weisen solche Geschichten auch eine strenge Textgestalt auf, weil sich in der bestimmten Abfolge der Szenen die Wirklichkeit des Lebens in einer besonderen Weise selbst enthüllt.

 

Wie gut, dass es dann am Ende noch ein Echo gibt, mit dem die individuelle Erfahrungsgrenze überschritten wird hin zur Gemeinschaft: Sie staunten und priesen Gott, weil Gott sein Volk besucht, ja heimgesucht hat.

Ein großartigeres Echo auf das, was mit Jesus und der Gemeinde in die Welt gekommen ist, gibt es wohl nicht. Die gottesdienstliche Gemeinschaft hat über die Zeiten hin dieses gemeinsame Echo betreut.

 

Der Mut, besser ausgedrückt, das Zutrauen dazu, die Welt durch biblische Geschichten hindurch neu und anders wahrzunehmen, wird uns geschenkt mit einem Ausspruch aus dem Epheserbrief, in dem die Phänomene Licht, Erkenntnis sowie Leben und Tod genauer zusammengedacht werden. Epheser 5, 14: “Denn alles was offenbar wird, das ist Licht. Darum heißt es: Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“

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Letzte Änderung: 21.03.2016
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