12.02.2006: Prof. Dr. Wilfried Härle über Jer 9,22f

 

Predigt über Jer 9,22 f.

vom Sonntag Septuagesimä 2006

gehalten am 12. Februar 2006 im Semesterabschlussgottesdienst

Peterskirche, Heidelberg

Prof. Dr. Wilfried Härle

 

Schriftlesung: 2 Kor 11,16-18 und 21b-30

Lieder:                        EG 445,1-2 und 4-6; 180.3; 194,1-3; 355,1+3-5; 171,1-4

Predigttext:    Jer 9, 22f

„So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, eine Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr“ (Jer 9,22 f.)

Liebe Gemeinde,

gleich fünfmal kommen in diesem kurzen Predigttext die beiden Worte vor, um die sich hier offensichtlich alles dreht: „sich rühmen“. In unserer Umgangssprache taucht diese Wendung, soweit ich sehe, ebenso wenig auf wie in unserer Bildungssprache. Wir sprechen entweder in kritisch abwertendem Ton vom ‚Angeben’ oder ‚Prahlen’ eines Menschen oder – etwas feiner – davon, dass jemand stolz ist auf sich, auf eine Leistung oder eine Eigenschaft. Sich rühmen ist eine Mischung aus beidem. Wer sich rühmt, bringt mit Worten, Gesten oder mit der Mimik, also mit Zeichen, zum Ausdruck, dass er Grund hat, stolz zu sein auf sich selbst. Die hebräische Sprache bietet uns in diesem Fall eine gute Brücke zum Verstehen, fast noch besser als das Deutsche; denn ‚sich rühmen’ heißt im Hebräischen ‚hallel’, also ‚ein Halleluja auf sich selbst singen’.

Davon hält die Bibel bekanntlich nicht viel. So eindeutig sie die Menschen auffordert, Gott zu loben und zu rühmen, so klar warnt sie vor Selbstruhm, vor Eigenlob. Insbesondere der Apostel Paulus spricht dies in seinen Briefen immer wieder an und hat ein ausgesprochen kritisches Verhältnis zum Sich-rühmen, obwohl er – wie wir aus der Altarlesung gehört haben – gelegentlich, wenn er von seinen Gegnern provoziert wird, auch die Narrenkappe aufsetzen und sich einmal kräftig kräftig rühmen kann. Freilich sagt er dann gleich dazu, das sei jetzt „nicht dem Herrn gemäß“ geredet (2 Kor 11,17), und das klingt wie eine Bitte an den Herrn um Nachsicht für diesen Ausrutscher. Paulus ist es auch, der im 1. Korintherbrief die überzeugendste theologische Begründung für die Kritik am Sich-rühmen gibt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann, als hättest du es nicht empfangen?“ (1 Kor 4,7).

Mit einem solchen negativen, warnenden Ton beginnt auch unser Predigttext: „Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, eine Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“ Aber dann kommt eine interessante Wendung des Gedankens: „Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne“. Das klingt wie ein Zugeständnis an die, die es offenbar nicht lassen können, sich zu rühmen. Dann sollen sie sich wenigstens des Richtigen rühmen und stolz darauf sein.

Es ist bemerkenswert, dass unser Text nicht sagt: Wer rühmen will, der rühme nicht sich, sondern Gott, sondern dass das Sich-rühmen – wenn vielleicht auch mit einem gewissen Zögern – als eine menschliche Möglichkeit akzeptiert wird. Spricht sich darin die Ahnung oder das Wissen darum aus, dass Menschen etwas brauchen, worauf sie stolz sein können? Können Menschen glücklich, zufrieden, dankbar sein, wenn sie nichts haben, dessen sie sich rühmen können?

In der Erforschung der Ursachen für Gewaltanwendung in Schulen und für die Anfälligkeit junger Menschen für nationalistische Parolen stoßen Wissenschaftler immer wieder auf das Phänomen fehlender Anerkennung, Bestätigung und Selbstbestätigung als einem der Erklärungsgründe. Wer keine schulischen Leistungen vorzuweisen hat, setzt möglicherweise seine Körperkraft ein, um anderen und sich selbst zu imponieren und zu beweisen, dass er etwas kann. Und wer keinen Schulabschluss und keine Lehrstelle hat, ist vielleicht irgendwann nur noch stolz darauf, Deutscher zu sein – was ihm ja niemand nehmen kann – und das dann alle Nicht-Deutschen auch entsprechend spüren zu lassen.

Mit all diesen Überlegungen und Beobachtungen verschiebt sich der anfängliche Gegensatz weg von der Frage: „Sich-rühmen oder nicht?“ zu der Frage: „Wessen sollen wir uns und andere sich rühmen?“ Dass dies auch der Nerv unseres Textes ist, zeigt sich schon daran, dass ganz auffallend je drei Werte einander gegenübergestellt werden: Weisheit, Stärke und Reichtum auf der einen Seite – jeweils versehen mit einem „nicht“, und Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit, d. h. Gemeinschaftstreue auf der anderen Seite – verbunden mit dem Satz: „denn solches gefällt mir, spricht der Herr“.

Am schwersten fällt mir die darin zum Ausdruck kommende Abwertung der Weisheit. Und ich will mich da auch nicht herauswinden mit dem Hinweis, dass das hebräische Wort für Weisheit auch technisches Wissen und Witz oder Cleverness bezeichnen kann. Denn in der Regel steht ‚chokma’ doch für die geistliche und weltliche Lebensklugheit, in der tiefe Einsicht und rechtes Maß sich miteinander verbinden. Nein, Weisheit ist bestimmt nicht an sich schlecht. Und auch Stärke und Reichtum sind nicht an sich schlecht. Aber wenn man sie der Barmherzigkeit, dem Recht und der Gemeinschaftstreue gegenüberstellt, dann fallen sie doch ein wenig ab. Das zeigt sich daran, dass Weisheit, Stärke und Reichtum von Haus aus vor allem dem nützen, der sie hat. Vielleicht kann man sogar sagen: Weisheit, Stärke und Reichtum unterscheiden Menschen voneinander, trennen sie oft voneinander, bringen sie manchmal sogar in Gegensatz und Feindschaft zueinander, weil man mit seiner Weisheit, Stärke und seinem Reichtum anderen Angst machen, sie einschüchtern und dominieren kann. Barmherzigkeit, Recht und Gemeinschaftstreue verbinden dagegen von Haus aus Menschen miteinander, sie rücken den anderen Menschen und das Gemeinwohl in den Blick, denn es gibt ja gar keine Barmherzigkeit und kein Recht und keine Gemeinschaftstreue, die sich nicht auf die Mitmenschen und auf die menschliche Gemeinschaft bezögen. Und davon heißt es: „solches gefällt mir, spricht der Herr“. Und deshalb empfiehlt der Predigttext, uns dessen zu rühmen, wenn wir uns denn rühmen wollen.

Und doch bleibt da ein merkwürdiger, unguter Rest, der immer mit dem Selbstruhm verbunden ist, auch wenn das Sich-rühmen auf Barmherzigkeit, Recht und Gemeinschaftstreue bezieht. Der Volksmund bringt diesen verbleibenden Rest drastisch und treffend in zwei Worten zum Ausdruck: „Eigenlob stinkt“. Und wo es stinkt, halten sich die meisten Menschen nicht gerne länger auf, als es unbedingt nötig ist.

Ich vermute, das ist eine Erfahrung, die wir alle von uns selbst oder von anderen kennen: Plötzlich klingt ein Gesprächsbeitrag so, als würde jemand sagen: „Ich bin einfach großartig, toll, super. Mir gelingt alles“. Und damit ist ja immer – bewusst oder unbewusst – zugleich eine Abwertung der anderen verbunden. Wenn wir noch Kinder wären, dann würden wir darauf wohl mit der Behauptung reagieren: „Ich bin noch großartiger, noch toller und noch besser“. Als Erwachsene empfinden wir solches Eigenlob als peinlich – und das in der Regel nicht nur bei anderen, sondern, wenn wir es denn bemerken, auch bei uns selbst. Wenn jemand sich so rühmt, dann tritt in einem Gespräch häufig peinliches Schweigen ein. Die Atmosphäre ist belastet, das Gespräch vielleicht sogar kaputt. Was soll man dazu auch sagen? Und der, dem das passiert ist, der sein eigenes Halleluja gesungen hat, schämt und ärgert sich möglicherweise über sich selbst.

Aber wenn wir doch nun einmal das Bedürfnis haben, auf etwas stolz sein zu können, was wir haben, was wir besonders gut können, was uns besonders gut gelungen ist – müssen wir das dann verschweigen oder verdrängen?

Unser Predigttext führt aus dieser Sackgasse nicht heraus, aber mit dem Stichwort ‚Barmherzigkeit’ weist er in die Richtung, in der ein Ausgang liegen könnte: Wenn es richtig ist, dass jeder Mensch etwas braucht, auf das er stolz sein kann, dann läge es auf der Linie, die der Begriff Barmherzigkeit weist, wenn wir diesen Hunger nach Anerkennung nicht bei uns selbst, sondern bei anderen stillen würden. Das ist vielleicht dann schon möglich, wenn wir den eigenen Hunger spüren, aber wenn uns die Barmherzigkeit zugleich so für andere öffnet, dass wir ihnen etwas von der Anerkennung, dem Lob und Ruhm geben können, die sie zum Leben brauchen. Und das Motiv dafür wäre vielleicht das Wissen darum, wie solcher Hunger sich anfühlt. Ein noch stärkeres Motiv könnte es sein, wenn wir uns dessen erinnern und dessen gedenken, was es für uns bedeutet hat, wenn uns solche Barmherzigkeit – vielleicht ganz unerwartet und unverdient – zuteil geworden ist.

Wenn von diesem Impuls der Barmherzigkeit viele Menschen erfasst werden, dann besteht die Möglichkeit, dass alle reichlich satt werden können; denn im Unterschied zum Selbstruhm, bei dem jeder nur mit sich beschäftigt ist und es darum nur genau so viel Rühmende wie Gerühmte gibt, sind dem Rühmen anderer rein quantitativ keine Grenzen gesetzt – wohl aber qualitativ: Das Rühmen anderer Menschen darf weder unehrlich sein noch berechnend. Unehrlich wäre es dann, wenn wir an einem anderen Menschen etwas rühmen würden, wovon wir gar nicht überzeugt sind oder was wir gar nicht für positiv halten. Und wenn ein Mensch das merkt, dann ist er verständlicherweise noch mehr verletzt und gekränkt, als wenn dieser Versuch gar nicht unternommen worden wäre. Berechnend wäre das Rühmen anderer, wenn wir damit gewissermaßen „über Bande spielen“ bzw. nach Komplimenten fischen, also uns davon eine Gegenleistung erhoffen. Dann wäre ja auch das Rühmen des anderen nicht mehr als eine Technik oder ein Trick, der nur zeigt, dass wir gar nicht in der Tiefe von der Barmherzigkeit angerührt sind.

Deswegen wäre es wohl auch nicht ratsam, schon auf dem Nachhauseweg vom Gottesdienst mit dem Rühmen der anderen wie mit einer neuen Technik zu beginnen. Vielleicht reicht es ja schon, darüber in Ruhe nachzudenken, wer solches Rühmen in unserer nahen und sogar nächsten Umgebung so dringend braucht wie das tägliche Brot. Und dabei bewahre uns der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft.

 

 

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Letzte Änderung: 21.03.2016
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