05.06.2005: Prof. Dr. Michael Plathow über Vaterunser: Führe uns nicht...

 

 

                                   FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG

                                                             Mt 4, 1 – 11

 

                Predigt am 5. 6. 2005 in der Universitätsgemeinde in Heidelberg

                                             Prof. Dr. Michael Plathow, Pfr.

 

 

Liebe Gemeinde hier in der Alten Aula unserer Universität an diesem Sonntagmorgen,

 

Gottes- und Lebensgewissheit war die Hoffnungsbotschaft des gerade gefeierten Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hannover,  die Gewissheit des vernünftigen und verantwortlichen Glaubens; durch versucherische Anfechtungen angesichts des Bösen im Privaten, Lokalen und Globalen wird sie erfahren: im persönlichen Schicksalsschlag, der Übermacht über die Glaubensgewissheit zu gewinnen droht und nur in der Klage aus der Tiefe Stimme findet; in der Erfahrung der Macht des Bösen, die das in Zukunftssorge angefochtene Gewissen metastasierend umtreibt und hinter die täuschenden Fassaden von wellness und happyness fragen lässt: „Sind wir von allen guten Geistern verlassen?, Sind wir noch bei Trost? Lassen wir uns noch behelligen von dem, der spricht: ‚Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben’?“ Und der dann betet: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ und der damit das angefochtene Gewissen, die betende Gemeinde und unsere Welt hoffnungsvoll vor und unter Gott stellt.

Liebe Gemeinde, mit der Bitte „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ rühren wir am Geheimnis der Heiligkeit Gottes. Die vorangehenden Bitten zielen auf Dinge, die Gott tun möge. Hier erbitten wir, was Gott, unser Vater, nicht tun soll. Und der Sohn, Jesus Christus, unser Herr, lehrt uns so im heiligen Geist zu beten.

Sollte Gott in Versuchung führen und an das Böse binden? Liebe Gemeinde, dagegen protestiert nicht nur unser frommes Gefühl und unser Gottesbild, das sich an die Liebe und Gerechtigkeit Gottes hält. Dagegen protestiert auch die Heilige Schrift, wenn es etwa im Jakobusbrief (1, 13) heißt: „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht wird. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemanden.“

Dem ist zuzustimmen, soweit uns dazu ein Urteil erlaubt ist. Wenn der heilige Gott doch mit der Versuchung und dem Bösen in Verbindung gebracht werden kann, so bleibt doch immer klar, dass Gott sozusagen darüber steht. Das wird auch in der letzten Bitte des Vaterunsers vorausgesetzt. Denn radikal, bis an die Wurzel gehend, wird die Versuchung dort, wo sie nicht mehr mit Gott in Zusammenhang steht, wo sie nicht mehr unter ihm steht, sondern vor ihm an seiner Stelle.

Die Übersetzung aus dem Aramäischen, der Sprache Jesu, lautet deshalb: „Führe uns aus der Versuchung heraus.“ Und so heißt es in der Erklärung in M. Luthers Kleinem Katechismus: „Gott versucht zwar niemand, aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott wollt behüten und erhalten, auf dass uns der Teufel, die Welt usw....nicht betrüge und verführen...“ Entsprechend sagt der Heidelberger Katechismus: „Weil wir uns selbst so schwach sind, dass wir nicht einen Augenblick bestehen können, und dazu unsere abgesagten Feinde, der Teufel, die Welt und unser Fleisch, nicht aufhören, uns anzufechten, so wollst du uns erhalten und stärken durch die Kraft deines Heiligen Geistes, auf dass wir ihnen mögen festen Widerstand tun und in diesem geistlichen Streit nicht unterliegen, bis wir endlich den Sieg vollkommen behalten.“

Mag die Sprache fern und veraltet klingen, die Sache, um die es geht, ist klar.

 

Versuchung und Böses. Die Parallelität der beiden Bitten weist auf einen Zusammenhang der beiden Bitten und zugleich auf einen bezeichnenden Unterschied: Versuchung ist ja das, was an einen Menschen herantritt. Im Griechischen steht hier der Ausdruck „peirasmos“; das meint in unserer Lebenswelt mit dem modernen ort „Test“, mit dem altvertrauten „Prüfung“. Bekanntlich gibt es Warntests und Gebrauchstests. Dabei wird der Gebrauchsgegenstand in kurzer Zeit sämtlichen Belastungen ausgesetzt, die er in normalen Gebrauchszeiten von mehreren Jahren aushalten soll. Auch Prüfungen und Examina haben etwas davon an sich. Das sind Bewährungs- und Zerreißproben. Bekanntlich unterziehen sich Menschen heute auch gern Härtetests in verschiedener Weise. Versuchungen jedoch treten an uns heran, und stellt dabei eventuell unseren Glauben auf den Prüfstand.

Die Geschichte von der Versuchung Jesu ist das Beispiel dafür: Bald nach der taufe wird Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Satan – vom Diabolus, dem Durcheinanderbringer – versucht zu werden (Mt 4, 1). Hier geht es nicht um Playboybilder in der Phantasie von Wüstenvätern, auch nicht um verharmlosende schwäbische „Versucherle“. Man unterschätzt die Versuchung, wenn man sie auf den leicht durchschaubaren Bereich konzentriert und reduziert. Echte und radikale Versuchungen betreffen stets das Lebens- und Heilsnotwendige.

 

Es gibt die offene und die verborgene Art der Versuchung des Widersachers Gottes, der als „Engel des Lichtes“ (2. Kor 11, 14) oder als „brüllender Löwe“ (1. Petr 5, 8) erscheinen kann. Frontal oder auf leisen Sohlen kann sich die Versuchung einschleichen: etwa durch den Zeitgeist, in den Medien verstärkt, indem er in Glaubensfragen und ethischen Fragen sich gegen den guten Willen Gottes verschließt, dem Faktischen normative Kraft gibt oder Gewissenshemmungen – Jürgen Habermas spricht vom „Verdorren aller normativen Sensibilitäten“ - abbaut, so dass als Kavaliersdelikt Sünde in der Verschlossenheit gegen den Lebenswillen Gottes salonfähig wird: z. B. Slogans wie „Abschied von Gott“, „Glaube, Gebet – was bringt’s“, „Christen sind auch nicht besser“, „Kirche – nur Großkonzern, auf Selbsterhalt bedacht“, Leben kann lebensunwert sein“, „Die Juden haben selbst Schuld am Antisemitismus“, „Ehescheidung ist doch gang und gebe“ usw., usw. Mit der Gottesfinsternis – besser der Gottesvergessenheit – sinkt da nicht nur der Grundwasserspiegel des Glaubens, sondern verweht auch die Bindung an seinen guten Willen.

Es gibt weiter Versuchungen von innen und von außen: Versuchungen, die aus den eigensüchtigen Wünschen des Herzens kommen – Hochmut, Geiz, Trägheit, Egoismus, Gleichgültigkeit – oder durch das Fenster unserer Sinne unsere Gedankenwelt besetzen, umfunktionieren und unser Gewissen abstumpfen und einschläfern gegen den Willen Gottes: verlockende Werbung, Immer-mehr-haben-Wollen, lautstarke Parolen, Gruppenzwang und allgemeine Trends.

M. Luther unterscheidet schließlich im Vaterunser-Lied zwischen Versuchungen von links und von rechts. Er meint damit einerseits Versuchungen, die uns wehtun – schwere Schicksalsschläge wie der Verlust eines geliebten Menschen, Leid, Schmerzen, Alleinsein, die uns die Gnade Gottes verdunkeln, wenn Gottes Wille anders ist als unsere Bittgebete, uns um Trost bange ist und wir fragen: wo bleibst du Trost der ganzen Welt, trotziger Trost des Gottes alles Trostes, der einzige Trost im Leben und im Sterben - und andererseits solche Versuchungen, die uns wohl tun – gute Tage in Gesundheit und Wohlstand, die uns Gottes gütige Zuwendung selbstverständlich machen, das Danken vergessen lassen und uns gerade so von Gott loslösen können.

 

Dabei geht es jeweils bei der Versuchung im letzten um das Lebens- und Heilsnotwendige. In der Versuchung Jesu wird das exemplarisch deutlich; es sind Dinge wie: Aus Steinen Brot machen, d. h. die letztendliche Lösung aller sozialen Probleme im Sinnenglück; von der Zinne des Tempels fliegen, d. h. die letztendliche Lösung der physikalischen Probleme mit der Überwindung der Schwerkraft als Massenberauschung; die Herrschaft über alle Reiche der Welt, d. h. die letztendliche Beseitigung der politischen Probleme durch die Konzentration und Zentrierung aller Macht als Weltherrschaftsanspruch, wie in Vl. Solowjews „Erzählung vom Antichristen“. Diese im Tiefsten geistliche Versuchung greift hinter menschliche Triebe und christliche Moral nach dem Herzstück des christlichen Glaubens, da, wo es um die Erfüllung seiner Hoffnung geht, da, wo der Diabolus das Wort Gottes im Munde führt und die Gestalt des Antichrist trägt, d. h. an die Stelle Christi tritt. Täuschung und Enthüllung, Wahrheit und Lüge vermischen sich zur Unkenntlichkeit und Undurchdringlichkeit gerade auch für die Frommen: sowohl was ihre Hoffnung auf das Reich Gottes in Liebe und Gerechtigkeit betrifft als was ihre Gewissheit des Daseins Gottes, des Vaters, und seiner treuen Bewahrung betrifft. Im Hängen des Herzens an eigene Wünsche und Hoffnungen, im Verlassen auf das eigene Tun und Planen erfahren sie sich verlassen von Gott, aufgegeben selbst von Gott wie ein sinkendes Schiff im Strudel des schwarzen Lochs, von allen guten Geistern verlassen, fern von Licht und Wärme, Gemeinschaft und Leben, Gerechtigkeit und Liebe – im Unglauben. Der Teufel erweist sich nämlich als Ausgeburt des Unglaubens: eben der Selbstverschließung gegen Gott, so dass Gott sich entzieht.

Wir können die Versuchung nur so umschreiben mit dem Ziel, sie nicht zu unterschätzen. Jedoch können wir sie nicht umschreiben mit dem Ziel, die Versuchung auf diese Weise zu entlarven und zu vermeiden; gleichwohl erweist sich die Verdeutlichung der Versuchung und des Bösen aus den biblischen Zeugnissen und die Mahnung, die Versuchung nicht zu suchen, sich mit dem Bösen nicht einzulassen, als Weisung zum Leben in der Gemeinschaft mit Gott.

 

Nun sind Versuchungen und Anfechtungen kein Sonderfall – auch im Leben der Glaubenden. Die Verben in dieser Vaterunser-Bitte machen es deutlich: Wer in Versuchung geführt wird, kann nicht davor zurückweichen, sondern nur entweder erliegen oder bestehen. Und „erlösen“ bezeichnet die Rettung und Bewahrung gegenüber einer Hinderung oder Niederlage. Daß die Versuchung ohne Sünde bestanden wurde, wissen wir nur von Jesus; von ihm heißt es in Hebr. 4, 15, dass er „versucht wurde allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde.“

 

Das einzige Mittel gegen die Versuchung ist das Gebet, wie es uns Jesus gelehrt hat. Es ist der Ruf aus der Tiefe um Gottes Beistand und Bewahrung, um das Widerfahrnis der Nähe und Begleitung Gottes.

Wir erinnern uns daran, wie die Aufforderung „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung/Anfechtung fallt“ von Jesus an die Jünger gerichtet wird, die ihm im Ringen in der Nacht von Gethsemane begleiten sollten. Dreimal schlafen die Jünger ein, während Jesus alleine wacht und betend mit dem Vater ringt. Zugleich wird hier, wie auch in der Bitte. „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ auf seine Hilfe verwiesen: Wir stehen nicht allein in der Anfechtung durch das Böse und den bösen. Und auch andere Glaubende stehen bei uns, sind mit uns in der Gemeinschaft des Gebets und der helfenden Nähe.

Das Gebet ist das einzige Mittel gegen die Versuchung und das Böse. Damit ist das Gebet auch genau der Ort, an dem wir überhaupt die Versuchung für uns erkennen und durchschauen können. Wenn wir nicht mehr beten: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“, dann haben wir auch den wichtigsten Schutz vor der Versuchung und dem Bösen verspielt. Das geschieht leicht, weil dies schon bei der einfachen Frage beginnt, ob das Beten überhaupt nützt und Sinn habe oder ob nicht anderes bessern wirksamer und wichtiger bleibt.

Liebe Gemeinde, wer aber so betet, wie uns Jesus gelehrt hat, der legt in diese Bitte in aller Freiheit auch die Angst des Menschen, das Lebens- und Heilsnotwendige könnte verfehlt werden, das in Christus offenbare Reich Gottes könnte ausbleiben, Gott habe uns in unserem Unglauben uns selbst überlassen und aufgegeben und ließe uns von allen guten Geistern verlassen zurück. Es ist die Bitte: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“.

Aus dem Wort Jesu Christi dürfen wir im Gegensatz zu manchen eigenen Erfahrungen gewiß sein und uns daran halten, dass Gottes Wille auf unsere Bitten hin geschehen wird: „Gott ist getreu, der euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende gewinnt, dass ihr’s könnt ertragen.“ (1. Kor 10, 13)

 

Liebe Gemeinde, Gott wird uns „erhalten und stärken durch die Kraft seines heiligen Geistes, auf dass wir ... Widerstand tun und ... nicht unterliegen.“ Da sind wir bei Trost; da sind wir geistesgegenwärtig. Und im Abendmahl, in dem Christus als Geber und Gabe sich uns schenkt, werden wir dessen vergewissert. Kommt ihr seid geladen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne und euer Denken und Tun im gewissen Vertrauen auf unsern Herrn Jesus Christus. Amen.

 

 

Gebet

Vater, es ist so viel Leid in der Welt,

und viele Menschen geraten dadurch

in Zweifel und Verzweiflung.

Es geschieht so viel Unrecht in der Welt,

und viele müssen unschuldig

darunter leiden.

Es wird so viel gelogen in der Welt,

und viele können Wahrheit und Lüge

nicht mehr unterscheiden.

Es gibt so viele Versprechungen

Und so viele Enttäuschungen,

und viele Menschen

werden deshalb irre aneinander.

 

Größer aber als alle diese Versuchungen

Ist die,

dass wir an die zweifeln

oder irre werden können,

dass wir dich vergessen

und aufhören,

mir dir zu rechnen und zu reden.

 

Ich merke auch immer wieder,

dass ich das Falsche tue,

obwohl ich mir Mühe gebe,

das Rechte zu tun.

Mein Wille ist schwach für das Gute.

Es ist, als ob einer hinter uns stünde,

der uns zwingt,

etwas anderes zu tun als das, was dir gefällt.

Einer, der stärker ist als wir.

 

Bewahre mich vor dm Bösen,

lieber Vater.

Löse mich aus seinen Zwängen

Und nimm mir meine Angst.

Laß mich bei dir bleiben

Und zu dir gehören,

denn ich brauche dich an jedem Tag,

zu jeder Stunde. Amen.

 

 

 

 

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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