30.01.2005: Prof. Dr. Wilfried Härle über Mk 4,26-29

 

Gottesdienst der Universitätskirche am 30. Januar 2005

Preditgttext: Mk 4,26-29

Prediger: Prof. Dr. Wilfried Härle

 

Liebe Gemeinde,

über die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, gibt es seit einigen Jahren eine öffentliche Diskussion, an der sich viele beteiligen. Der Streit um den freien Willen ist noch nicht entschieden, und er wird unsere Universität im kommenden Sommersemester in einer ganzen Vortragsreihe im Rahmen des Studium Generale beschäftigen.

Dieser Streit um den freien Willen ist nicht neu. Er wurde bereits vor 480 Jahren zwischen dem großen humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam und Martin Luther, dem noch jungen Reformator, ausgetragen. Dabei spielte damals das Wort „Gehirn“, um das es heute vor allem geht, keine Rolle, wohl aber das Wort „Gott“. Erasmus vertrat unter Berufung auf die Bibel und die übergroße Mehrheit der Kirchenlehrer und Theologen die Auffassung, Gott habe dem Menschen einen freien Willen gegeben, mittels dessen der Mensch sich auch ohne Gottes Gnade dem Heil ein wenig zuwenden oder vom Heil abwenden könne und darum trage der Mensch die Verantwortung für seinen Unglauben und sein Unheil und nicht Gott. Luther hingegen vertrat in seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ (De servo arbitrio) von 1525 unter Berufung auf die Bibel und einen einzigen Kirchenlehrer, nämlich Augustin, und einen – noch dazu umstrittenen – Theologen, nämlich Wyclif, die Auffassung, der Mensch könne ohne Gottes Gnade nichts tun, um sich dem Heil zuzuwenden, sondern es liege allein an Gott, ob einem Menschen der Glaube zuteil werde oder nicht.

Der Streit wurde damals – vor allem von Luthers Seite aus – mit großer Schärfe und Polemik geführt, und es kam zu keiner Verständigung, sondern zu einer tiefen Entzweiung zwischen Humanismus und Reformation. Aber an einem Punkt lobt Luther in seinem Buch Erasmus ausdrücklich. Ganz am Ende seines Werkes schreibt er: „Ich lobe und preise dich dafür außerordentlich, dass du als einziger die Sache selbst angegangen bist, das ist die Hauptsache des Themas und dich nicht mit nebensächlichen Themen, wie Papsttum und Fegefeuer beschäftigt hast, wie die anderen. Nur du allein hast den Dreh- und Angelpunkt gesehen und den Hauptpunkt selbst gesucht, wofür ich dir von Herzen Dank schulde“. Diese Dankesworte sind ganz ehrlich gemeint, ohne alle Ironie; denn nach Luthers Auffassung ist der Streit um den freien Willen deswegen so zentral, weil es das Wichtigste ist, dass wir wissen, was wir tun können und sollen und was Gott allein tun kann und tun muss.

Und davon handelt auch der Predigttext für den heutigen Sonntag aus Markus 4,26-29:

„Und Jesus sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“

Es geht um die Frage, wie das Gottesreich, das Himmelreich, die Gottesherrschaft – all diese Worte meinen ein und dasselbe – kommt, und damit geht es um das Zentrum der Verkündigung Jesu. Wenn in der Bibel vom „Reich Gottes“ die Rede ist, so ist damit, anders als in unserer Sprache, kein Herrschaftsgebiet bzw. ‑bereich, wie das Deutsche Reich, das Heilige Römische Reich oder das Empire, gemeint, sondern ein Geschehen: das wirksame, spürbare Kommen Gottes in die Welt. Dass Gott jetzt zum Heil der Menschen in unserer Welt zwar nicht sichtbar, wohl aber erfahrbar wird, dass er kommt, das ist der Mittelpunkt der Verkündigung Jesu. Darauf verweisen seine Heilungen, seine Tischgemeinschaften, seine Reden und nicht zuletzt seine Gleichnisse. Ja, man muss es noch genauer sagen: Durch alle diese Zeichen geschieht es, dass Gott zum Heil der Menschen kommt, indem er in ihnen Glauben, d. h. Vertrauen auf Gott, weckt, so dass Jesus immer wieder sagen kann: Dein Glaube hat dir geholfen.

Unter allen Gleichnissen ist unseres das unspektakulärste, um nicht zu sagen: das langweiligste. Es passiert in ihm nichts Aufregendes, sondern das Alltäglichste, das aber zugleich das Lebensnotwendige ist: das Wachsen der Saat.

Man kann sich gut vorstellen, wie Jesus bei seinen Wanderungen durch das Land Menschen beobachtet hat, die säen, Felder, auf denen Getreide wächst, und Erntearbeiter, die die reife Frucht einbringen. Und dabei mag ihm bewusst geworden sein, dass dieser Vorgang ein gutes Bild dafür ist, wie Gott zum Heil der Menschen in die Welt kommt.

Und wie kommt er? Was ist an diesem Vergleich so aufschlussreich? Auf welche Züge dieses Gleichnisses bzw. Bildes kommt es an?

Zwei Größen stehen in diesem Gleichnis einander gegenüber und wirken zusammen: der Mensch und die Erde.

Mit dem Menschen fängt es an: Er wirft Samen aufs Land, legt sich danach ins Bett, schläft, steht morgens wieder auf und verbringt so eine längere Zeit im Rhythmus von Schlafen und Wachen, bis die Ernte reif ist und er, wie es im Text heißt, „die Sichel hinschickt“, also selbst oder zusammen mit anderen die Ernte einbringt. Der Mensch tut also Zweierlei: säen und ernten, dazwischen liegt eine lange Zeit des Wartens.

Und nun die Erde. Sie tut nichts beim Säen und Ernten, sondern lässt dies nur an sich geschehen, aber sie ist in der Zwischenzeit aktiv: Sie bringt in drei Stufen die Frucht hervor: den Halm, die Ähre und schließlich den vollen Weizen in der Ähre.

Das war es dann auch schon – bis auf zwei kleine Worte im deutschen Text, im griechischen ist es sogar nur eines: „von selbst“, „automatisch“. Dieses Wort „automaté“ ist die Freude aller Studierenden, die Griechisch lernen müssen. Endlich einmal ein Wort, das man auf Anhieb versteht und nicht lange lernen muss – schade nur, dass es bloß an dieser einen Stelle im Neuen Testament vorkommt. Es ist auch die Freude aller kombinierten Bibel- und Technik-Liebhaber, die an diesem Wort die Entdeckung machen können: Auch die Bibel kennt wenigstens einen Automaten, wenn es auch „nur“ die Erde ist.

Aber was heißt da „nur“? Die Erde verdient diesen Namen viel eher als das meiste, was wir so nennen. Wenn wir nur daran denken, wie viel Geduld und Geschick es erfordern kann, einem Fahrkartenautomaten die gewünschte Fahrkarte zu entlocken. Das geht wirklich nicht von selbst, nicht automatisch. Es soll bei irgendeinem Rundfunk- oder Fernsehsender schon ein Spiel geben, bei dem man eine Fahrkarte gewinnt, wenn man es tatsächlich schafft, sie innerhalb von 90 Sekunden dem „Automaten“ zu entlocken. Und die sog. automatische Fahrplanauskunft kann einen ja zum Verzweifeln bringen, wenn sie immer wieder die laut und deutlich gesprochenen Worte missversteht und so verkehrt wiedergibt, dass man schon die Vermutung hat, sich in einer Sendung zu befinden, in der gleich jemand fragt: „Verstehen Sie Spaß?“

Verglichen damit geht es doch wirklich eher „von selbst“ und „automatisch“, wenn wir an einem Schalter mit lebendigen Menschen zu tun haben. Und verglichen mit unseren „Automaten“ schneidet doch auch die Erde sehr gut ab. Sie bringt wirklich die Frucht von selbst hervor.

Zwar können wir durch Düngung, Bewässerung, Entfernung des Unkrauts und Lockerung des Bodens den Ertrag steigern, aber wir können die Frucht nicht hervorbringen. Das tut die Erde im Zusammenspiel mit dem Samen ganz von selbst.

Und so kommt Gott – zu uns, in die Welt?

Ja, aber dabei ist auch der Mensch wichtig, sogar unverzichtbar. Er gehört hinzu, wie Jesus als der Verkündiger zu Gottes Kommen gehört. Gott braucht und gebraucht Menschen, die das Evangelium verkündigen und es hören, wobei man das „Verkündigen“ gar nicht umfassend genug verstehen kann: Das umfasst Gottesdienste und Predigten, aber keineswegs nur sie, sondern auch die vielen Erzählungen oder Lesungen biblischer Geschichten, das Sprechen von Gebeten und das Singen von Liedern an Kinderbetten und bei gemeinsamen Mahlzeiten oder an Festtagen, die ernsten, nachdenklichen Gespräche zwischen Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen und Zufallsbekanntschaften, die helfenden Taten und den Einsatz für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Namen Jesu Christi, die vielen Bilder, Bücher und Filme, in denen etwas vom Evangelium sichtbar oder hörbar wird. Die Aufzählungsmöglichkeit ist wohl grenzenlos für das, was es heißt, Samen aufs Land zu werfen. Und das ist etwas, was wir tun können und sollen und was wir an uns geschehen lassen können und sollen.

Das hat das Augsburgische Bekenntnis in seinem 5. Artikel wunderbar beschrieben (EG S. 885, Art. 5), wenn dem auch im 19. Jahrhundert die irreführende Überschrift „Vom Predigtamt“ gegeben wurde, die bis in die Gegenwart und in die letzten Tage hinein zu schweren ökumenischen Irritationen geführt hat. In Wirklichkeit handelt dieser 5. Artikel davon, wie Glaube entsteht, und er sagt:

„Um diesen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, der den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt, das da lehrt, daß wir durch Christi Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, wenn wir das glauben. – Und es werden die verworfen, die lehren, daß wir den Heiligen Geist ohne das leibhafte Wort des Evangeliums durch eigene Vorbereitung, Gedanken und Werke erlangen.“

Auch hier finden wir also beides: das allen Christenmenschen und der christlichen Kirche insgesamt aufgetragene Verkündigungsamt und die Einladung, das Evangelium zu hören auf der einen Seite, und das Wirken des Heiligen Geistes, der Glauben wirkt, wo und wann Gott will, auf der anderen Seite.

Dass wir für die Verkündigung des äußeren Wortes, wie Melanchthon das nennt, zuständig sind und dass wir nur dafür zuständig sind, aber gar nicht dafür, Glauben zu wirken, klingt zunächst demütigend. In Wirklichkeit ist es sehr entlastend – nicht zuletzt für Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Pfarrerinnen und Pfarrer. Wir können und sollen nicht in die Seelen anderer Menschen eingreifen, wir können sie nicht zu Glaubenden machen, und darum sollen wir es auch nicht versuchen. Wir sollen niemanden, auch nicht uns selbst, unter Druck setzen, zu glauben. Glauben kann nur Gott schaffen, wo und wann er will. Martin Luther hat es einmal so ausgedrückt: „Wir sollen einander in die Ohren schreien, aber jeder muss für sich gewiss sein jetzt und in der Stunde des Todes“.

Dass der Glaube Gottes Werk ist, dass die Frucht „von selbst“, „automatisch“ wächst, heißt also nicht, dass dies immer und überall geschieht oder gar „auf Knopfdruck“, sondern es heißt, dass dies aus einer Kraft geschieht, über die kein Mensch verfügt, die wir nicht kontrollieren, inszenieren, herstellen, sondern auf die wir nur warten und hoffen, um die wir nur bitten und beten können.

Das war nun auch fast schon die ganze Botschaft dieses Gleichnisses – fast. Denn da ist ja zum Schluss noch von der Ernte die Rede, und auch das gehört dazu. Dabei geht es um den angemessenen, aufmerksamen, behutsamen Umgang mit der Frucht. Die muss rechtzeitig eingebracht und sorgsam aufgehoben werden. Wo Gott Glauben gewirkt hat, sind wir eingeladen, damit behutsam umzugehen. Wir sollen das Vertrauen, das uns zuteil geworden ist, nicht wegwerfen und nicht verspielen, sonst verlieren wir das Kostbarste, was uns im Leben zuteil werden kann.

Hat Erasmus also nicht doch Recht, wenn er sagt: Wir können etwas zu unserem Heil tun, auch wenn es nur bescheiden wirkt, wenn es nur ein kleines bisschen ist neben der Hauptsache, die Gott tun muss? Das Missverständnis bei Erasmus lag wohl darin, dass er meinte, unsere Freiheit und Verantwortung müsste von der Freiheit und Verantwortung Gottes abgezogen werden, damit nicht Gott verantwortlich sei, wenn bei uns kein Glaube entsteht. Aber Erasmus hat nicht bemerkt, dass dann, wenn wir auch nur ein bisschen dafür verantwortlich sind, dass bei uns Glaube wächst und entsteht, wir ganz daran schuld sind, wenn wir keinen Glauben haben. Da war Luther mutiger, indem er zu denken und auszusprechen wagte, dass wir durch nichts bewirken können, dass aus dem verkündigten und gehörten Evangelium tatsächlich Glaube entsteht und so Menschen heil werden. Das ist alleine Gottes Sache.

So stehen sich nicht zwei halbe oder fragmentarische Freiheiten gegenüber, die zusammen eine ganze Freiheit geben, sondern es geht um zwei ganze Freiheiten, die aufeinander bezogen sind: unsere menschliche Freiheit, zu säen und zu ernten, zu reden und zu hören, und Gottes Freiheit, wachsen zu lassen, Glauben hervorzubringen, wann und wo er will.

Und nur weil das nicht von uns, sondern alleine von Gott abhängt, darum können wir schließlich und endlich auch unseres Heils gewiss sein; denn es ist bei Gott gut aufgehoben.

Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Fürbitten-Gebet

Herr, wir warten auf dein Kommen – in unser Leben, in unsere Welt – jeden Tag neu. Wir spüren und erfahren, dass nur du uns wirklich zurechtbringen, trösten, befreien und ermutigen kannst.

Du willst uns als Zeugen und Boten deiner Liebe in Anspruch nehmen und gebrauchen. Wir sollen deine frohe Botschaft verkündigen durch unsere Worte, unsere Taten, unser Leben, damit Menschen den Mut bekommen, auf dich zu vertrauen und sich dir anzuvertrauen in Zeit und Ewigkeit. Hilf uns, dass wir unsere Menschenscheu und Trägheit überwinden und uns von dir in deinen Dienst nehmen lassen.

Wir wissen, Herr, dass wir keinen Glauben schaffen können, weder bei uns selbst noch bei anderen Menschen. Gib uns die Geduld und Zuversicht, auf dich zu hoffen und zu warten und uns zu öffnen für das, was du an uns und durch uns tun willst.

Herr, wir bitten dich für die Menschen, die durch Schuld und Schicksal hart und bitter geworden sind, die sich selbst nicht gut sind und darum auch kein Herz für andere haben, rühre du sie mit deiner Liebe an und verwandle sie.

Wir bitten an diesem Tag besonders für die Bevölkerung des Irak, die von Diktatur, Unrecht, Gewalt, Krieg und Terror geschunden ist und nun durch freie Wahlen einen Weg zu Recht und Frieden sucht. Gib du allem Hoffen und Mühen dein Gelingen.

Und wir bitten dich für die Kranken und für die Sterbenden: Sei du ihnen nahe mit deiner Kraft und lass sie Zuversicht und Vertrauen gewinnen – im Leben und im Sterben. Vater Unser.

Amen.

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Letzte Änderung: 22.03.2016
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