04.12.2005: Prof. Dr. Helmut Schwier über Jes 63f. - ZDF-Gd

 

Predigt zu Jes 63f.

(2. Advent, 4.12.2005, ZDF-Gottesdienst, Peterskirche)

 

 

Liebe Gemeinde,

 

O Heiland reiß die Himmel auf – zunächst ist das ein schönes Bild aus der Natur: trübe Novemberstimmung, wolkenverhangener Himmel, Tiefdruck für Körper und Seele; und plötzlich reißt der Himmel auf: die Wolken fort geweht, das tiefe Blau sichtbar, ein freier Blick und ein neues Lebensgefühl für den ganzen Menschen. Trübe Traurigkeit zunächst, dann Klarheit und Befreiung. Je nach Wetterfühligkeit werde ich davon stärker oder schwächer bestimmt. Je nach meiner persönlichen Situation und Prägung kenne ich die eine oder die andere Stimmung besser.

Die biblischen Worte aus dem Buch Jesaja führen uns zunächst in eine bedrückende Stimmung: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde“. Gottes Volk, reich an Erfahrungen des Glaubens, reich an Vorbildern und Traditionen, hat den Kontakt zu Gott verloren. Der Glaube – leer, die Gottesdienste – armselig, die Welt – ohne Gerechtigkeit und Friede.

Häufig werden in der Kirche solche bedrückend-depressive Stimmungen ausführlich beschrieben. Als Medikamente gegen die Depression werden religiöse Traditionen und fromme Gewissheiten empfohlen. Die lauten zugespitzt formuliert: Die Leere und Dürre deines Glaubens sind deine Schuld – tue Buße, kehre um, streng dich an, dann wirst du Glauben und Leben wieder finden; oder: angesichts der Katastrophen der Welt und deines Schicksals vertraue auf die Vorbilder des Glaubens, denn sie geben dir Halt und Orientierung. Solche traditionellen Gewissheiten können hilfreich sein – keine Frage! Aber sie sind – um einen Vergleich zu gebrauchen – wie Placebos: sie sind wie Medikamente ohne Wirkstoff, hilfreich höchstens für den, der fest an ihre Wirkung glaubt.

Die Therapievorschläge aus dem Buch Jesaja sind radikaler. Zunächst wird vor zwei Placebos gewarnt. Das erste falsche Medikament heißt Tradition: Keine Vorbilder des Glaubens, nicht einmal die Erzväter Abraham und Jakob, können wirklich helfen. In unserem Kirchenraum lässt sich das leicht fortschreiben: Die großen Vorbilder des Glaubens haben wir in unseren Fenstern vor Augen. Wir sehen die Reformatoren Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin. Sie haben gegen die damalige Tradition Gottes Wort neu zur Geltung gebracht. Im anderen Fenster sehen wir die Theologen Philipp Jakob Spener und Friedrich Schleiermacher. Sie haben gegen die evangelische Tradition ihrer Zeit den Glauben des einzelnen, Kultur und Bildung gefördert. Aber auch sie helfen heute nicht. Sie sind selbst Tradition geworden, gehören ins 16., 17. und 19. Jahrhundert. Sie sind historische Vorbilder und nur als solche in der Gegenwart wirksam.

Das zweite falsche Medikament gegen Glaubensleere heißt: erkenne deine Schuld daran, kehre um, werde aktiv; bemühe dich nur richtig, streng dich an. Das mögen sich kraftstrotzende Gestalten energisch vornehmen. Auch sie sehen wir in unserer Kirche: die gerüsteten Ritter im Chorraum z.B. oder König Gustaf Adolf im Fenster, der im 30-jährigen Krieg den Glauben mit Waffengewalt verteidigen wollte. Wirksam und heilend ist dieses Medikament nicht, weder für sie noch für alle anderen.

Zwei Medikamente sind wirkungslos: die Tradition und die eigene Anstrengung. Welches Medikament ist nun wirksam? Welche Therapie hilft?

Um eine hilfreiche Therapie zu finden, muss zunächst die Diagnose klar sein. Diese Diagnose lautet im Buch Jesaja: Die Schwäche im Glauben und die Orientierungslosigkeit im persönlichen und gesellschaftlichen Leben sind nicht einfach Schwächen der Menschen – nein, sie wurden und werden durch Gott selbst verursacht. Glaubensschwäche beruht auf Gottesfinsternis.

An dieser Stelle muss auch die Heilung beginnen. Der Weg zu Heil und Heilung beginnt mit der Einsicht: Gott allein ist es, der Orientierung und Halt wieder geben kann. Dieser Gott ist nicht finster und nicht namenlos. Er ist unser Vater. Er ist unser Erlöser. Die Vorbilder des Glaubens kennen uns nicht; denn sie sind tot, vergangen, Geschichte. Gott allein ist gegenwärtig. Er kennt mich. Er ist mächtiger als alle Gewalten, leidenschaftlicher als menschliche Liebe, barmherziger als Mütter und Väter.

Weil dieser Gott allein helfen kann, bestürmen ihn die jüdischen und christlichen Beter – sogar bis an die Grenzen der Gotteslästerung. Wo bleibst du, Gott? Tue du Buße, kehre du um zu uns! Streng du dich an! Bleibe nicht im Dunkel. Reiß die Himmel auf – bringe Klarheit und Eindeutigkeit in mein Leben. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloß und Riegel für – schaffe Befreiung und Erlösung für die Welt. O komm, ach komm vom höchsten Saal – tröste im Jammertal des Lebens, entzünde adventliches Licht in der Finsternis.

Angesichts der großen Katastrophen in der Welt, angesichts der kleinen Katastrophen in meinem Leben verstehe ich dieses Drängen auf Klarheit, Befreiung und Trost. Endlich einmal durchblicken durch das Chaos des Lebens – endlich einmal loskommen von den Verstrickungen der Verhältnisse – endlich einmal Zuwendung spüren, die mich ganz und ganz mich meint. Diese Sehnsüchte richten sich auch auf den Glauben: endlich einmal glauben, endlich einmal Gottes Wirksamkeit erfahren, endlich einmal Gottes Nähe spüren ohne Zweifel, Kritik oder Verdacht.

Gott allein ist wirksam. Aber ich kann ihn nicht einnehmen wie eine Tablette. Er ist nicht so greifbar wie die Tradition, die Vorbilder des Glaubens oder wie ich selbst. Aber er bleibt mein Gegenüber. Ich kann ihn bedrängen und bestürmen, ihn anklagen und seine Macht, Leidenschaft und Barmherzigkeit einfordern. Gott, bleibe nicht verborgen, reiß ab die Schleier, zeige dich, damit ich dich empfangen und dir begegnen kann!

 

 

Gemeinde: „Wie soll ich dich empfangen …“ (V. 1+4)

 

 

Gott, bleibe nicht verborgen, reiß ab die Schleier, zeige dich, damit ich dich empfangen, dir begegnen kann.

Als Christen glauben wir: Gott hat einmal den Schleier zerrissen, ein für alle Mal gezeigt, wie er ist und handelt. Dafür ist das Kreuz Zeichen und Symbol. Es erinnert an den Tod Jesu und gleichzeitig an seine Auferstehung. Es blendet den Tod und die Erfahrungen des Schmerzes und der Trauer nicht aus. Daher sieht das Kreuz in unserer Kirche weltlich aus, besteht es aus hartem Stahl mit rostig-brauner Oberfläche. Gleichzeitig ist es das österliche Siegeszeichen über Tod und Verzweiflung. Die nicht auf den ersten Blick sofort sichtbaren Vergoldungen im Kreuz verweisen auf Gottes Gegenwart.

Damit habe ich zwar Bedeutungen erklärt und veranschaulicht; aber: sind sie auch wirksam?

Der Vater Jesu Christi und aller Menschen hat sich eine merkwürdige, aber weise Therapie einfallen lassen. Er kam zu uns nicht so, dass die Berge zerfließen und das Leben unmöglich wird. Er verzichtet auf Schauwunder und eindeutige Machtbeweise. Er kam zu uns unter den Bedingungen der Welt, unter unseren Bedingungen: als Kind in der Krippe, zerbrechlich und bedroht, als Mensch, der Liebe und Versöhnung verkörperte, der selbst am Kreuz auf die Demonstration seiner Macht verzichtete und dem Tod nicht auswich, als Bezwinger des Todes, der österliche Gewissheit und Freude weckte. Gott ist auf eine besondere Art verborgen. Gott hat sich im Menschen Jesus von Nazareth verborgen; aber in Jesu Handeln und Wirken gleichzeitig offenbart, wie er wirklich ist und handelt.

Der Vater Jesu Christi und aller Menschen zeigt nicht nur, wie Gott ist und handelt; er zeigt durch Jesus auch, wie ich als Mensch gemeint bin. Als Mensch verdanke ich mich nicht mir selbst, sondern ich bin ein kostbares Geschenk. Als Mensch verwirkliche ich mich nicht dadurch, dass ich mich durchsetze; ich lebe, wenn ich Liebe und Versöhnung lerne. Als Mensch bin ich zum Leben bestimmt – mitten im Leben, aber auch im Sterben und darüber hinaus. Dafür steht Gott selbst ein. Denn Gott blieb nicht in der Finsternis; er hat sie Weihnachten und Ostern vertrieben.

Als Mensch stehe ich immer neu vor Grenzen – vor den Grenzen meiner Möglichkeiten, vor den Grenzen des Wissens, vor den Grenzen anderer Menschen, vor den Grenzen des Todes. Die Wissenschaft verspricht: Diese Grenzen können verschoben werden. Durch Jesus Christus zeigt der lebendige Gott: Diese Grenzen sind vorläufig und durchlässig. Ja, Gott selbst ist grenzenlos. Deshalb kann ich ihn im Licht des Advent suchen und im Licht von Weihnachten finden.

Gottes Therapie ist weise, denn sie überrumpelt und entmündigt mich nicht. Sie braucht meine Mitwirkung und Verantwortung. Die können so aussehen:

Wenn ich Gott suche, sehnsüchtig, enttäuscht oder zornig in den Himmel blicke, dann heißt die Therapie, also Gottes Weg zu Heil und Heilung: Schau dir die Erde an; hier findest du Gott, verborgen in den Menschen, die dir zulächeln; verborgen in den Menschen, die dir den Rücken stärken, und auch in denen, die deine Hilfe brauchen.

Wenn ich Gott nicht spüre und mehr zweifeln als vertrauen kann, dann heißt der Weg zu Heil und Heilung: Schau auf Christus, mach dich mit seiner Botschaft vertraut und sprich zu ihm; leicht ist das nicht; es erfordert Ausdauer und regelmäßiges Training, aber die Mühe lohnt; denn Christus kommt dir entgegen.

Wenn mich die Kirche ratlos macht und ich in den Institutionen den Geist vermisse, dann heißt der Weg zu Heil und Heilung: Schau in die Bibel und verbünde dich mit Menschen, die nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit streben; die findest du nicht nur, aber auch in der Kirche.

Wenn ich an der Zerrissenheit der Welt, ihrem Unrecht und ihrer Gewalt leide, dann heißt der Weg zu Heil und Heilung: Schau auf das Wunder des Lebens; es beginnt in jedem neugeborenen Kind; alle Jahre wieder feiern wir die Geburt des Kindes in der Krippe; durch ihn kommt Gott uns nahe; mit ihm, dem Sohn Davids, beginnt der Weg des Friedens.

 

Auf diese Weise reißt der Himmel auf, und Gottes Licht scheint in der Finsternis. Darum lasst uns mit Zion und Jerusalem jauchzen und Gottes Friedefürst willkommen heißen.

 

 

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Letzte Änderung: 06.04.2016
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