24.08.2003 Dr. Dr. Andreas Schüle - über Lk 19, 41-47

Predigt über Lukas 19, 41-47

Israelsonntag, 24.8.03, Peterskirche Heidelberg

Andreas Schüle

 

 

Gnade und Friede sei mit uns Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus

 

Liebe Gemeinde,

 

der heutige Sonntag, der 10. nach dem Dreieinigkeitsfest ist ein besonderer im Kirchenjahr. Es ist der Israelsonntag, der der Erinnerung daran gewidmet ist, daß die Kirche aus Israel, dem von Gott erwählten Volk hervorging. Im Zentrum dieser Erinnerung steht ein ganz bestimmtes Ereignis: die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer. Dies war nicht das einzige und erste Mal, daß die Gottesstadt am Boden lag. Sie ist vielfach belagert, erobert, seine Bewohner deportiert worden, und auch der Tempel auf dem Zion wurde von den Babyloniern schon einmal niedergerissen. Gleichwohl markiert das Jahr 70 ein definitives Ende. Der Tempel, das Symbol für Gottes Gegenwart auf Erden, wurde danach nie wieder aufgebaut, die Stadt geriet für lange Zeit politisch wie kulturell nahezu in Vergessenheit.

Auch für das Verhältnis von Juden und Christen markiert dieses Datum einen tiefgreifenden Einschnitt. Mit dem Untergang Jerusalems verloren die beiden Religionen ihre gemeinsame symbolische Mitte. Für die Christen war Jerusalem auch nach der Kreuzigung Jesu das Zentrum ihres Glaubens geblieben. Wie die Apostelgeschichte berichtet, zählten sie zur Kultgemeinschaft des Tempels. Wenngleich bereits eine Sondergruppe, waren sie nach wie vor Teil der jüdischen Gemeinde und Jerusalem der Ort, an dem sie die Wiederkehr Christi erwarteten. Die Ereignisse des Jahres siebzig stehen für den Verlust dieser symbolischen Mitte von Juden- und Christentum. Ihre Wege trennten sich endgültig, eine Trennung, von der man überall im Neuen Testament spüren kann, daß sie schmerzvoll war. So auch in unserem Predigttext. Es ist die Geschichte von Jesu Einzug in Jerusalem. In der Version des Lukas sieht Jesus die Stadt und ihren Tempel vor sich liegen und weint über sie:

 

Lk 19, 41 Als er näherkam und die Stadt sah, weinte er über sie 42 und sprach: ‘Wenn du doch wüßtest in diesen Tagen, was dir zum Frieden dient. Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. 43 Ja es werden Tage über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall gegen dich aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, 44 und sie werden dich dem Boden gleichmachen samt deinen Kindern in dir, nicht einen Stein werden sei auf dem anderen lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

45 Und als er in den Tempel hineinging, begann er die Händler hinauszuwerfen 46 und sprach: ‘Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus der Anrufung sein, ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.’ 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Die Hohenpriester, Schriftgelehrten und die obersten des Volkes trachteten danach, ihn umzubringen. 48 Sie wußten aber nicht, was sie tun sollten, denn das ganze Volk hing an seinen Lippen.

 

Dieser Abschnitt, der sich nur im Lukasevangeliums findet, ist, liebe Gemeinde, so etwas wie der Gründungstext des Israelsonntages. Das Bild, das er uns vor Augen stellt, ist Jesus, der über Jerusalem und über den Tempel weint. Nur an dieser Stelle, nirgends sonst im Neuen Testament, wird davon berichtet, daß Jesus weinte. Nicht einmal sein eigenes Geschick veranlaßt ihn dazu – etwa im Garten Gethsemane, wo er mit dem Tode ringt und ‘sein Schweiß wie Blutstropfen’ auf die Erde fällt. Das Besondere, weil besonders Erschütternde am Untergang der Stadt und des Tempels wird von Lukas herausgehoben, indem er davon berichtet, daß Jesus über der Vorausschau dieses Endes weint.

Auch im jüdischen Festkalender hat die Klage über die beiden Tempelzerstörungen einen festen Ort. Am 9. des Frühlingsmonats Av wird dessen gedacht. Der liturgische Text hierfür sind Klagelieder Jeremias, die mit den Worten beginnen:

 

Wie liegt die Stadt so verlassen, die voll Volks war! Wie eine Witwe ist die Fürstin unter den Völkern, und die eine Königin unter den Ländern war, muß nun dienen. Sie weint des Nacht, daß ihr Tränen über die Backen laufen. Es ist niemand unter allen ihren Liebhabern, der sie tröstet.

 

Die Klage über Jerusalem ist tief in der alttestamentlichen und jüdischen Tradition verwurzelt, sie begleitet die alttestamentliche Prophetie, und in dieser Linie steht auch das Weinen Jesu.

Zu diesem prophetischen Erbe gehört auch, daß Israel den Untergang Jerusalems nie als eine Art ‘böses Schicksal’ verstanden hat, das dem kleinen, macht- und wehrlosen Gottesvolk auf seinem Weg durch die Geschichte von fremden Großmächten bereitet wurde. In der Klage über Jerusalem bringt Israel immer auch das Bewußtsein des eigenen Scheiterns und Versagens zum Ausdruck. Der zerstörte Tempel steht als Symbol dafür, daß es seiner Erwählung nicht gerecht werden konnte, daß es – im Bild des Propheten Hosea – seinem Ehemann untreu wurde und sich mit anderen Verehrern einließ.

Das ist nichts Geringes: Es gehört große Demut und ein noch größeres Maß an Gottvertrauen dazu, die eigene Geschichte auch als eine Geschichte des Versagens und Scheiterns zu begreifen. Die Erwählung Israels und Jerusalems als Ort, an dem Gott seinen Namen wohnen lassen will, ist gerade kein Grund und keine Gewähr dafür, daß die Geschichte des Gottesvolkes auch eine ‘Erfolgsstory’ mit glücklichem Ausgang ist. Diese Erfahrung und Einsicht hat seit jeher in der prophetischen Klage Gestalt angenommen und durchzieht wie ein roter Faden die Geschichte Israels wie sie im Alten Testament überliefert ist, und in diese Tradition gehört auch Jesu Klage, von dem Lukas hier berichtet.

Wie aber betrifft uns das als Christinnen und Christen? Geht uns das überhaupt etwas an? Jesus sieht Jerusalem und weint über die Stadt, – kommen auch wir in diesem Bild vor?

Vielleicht ging es Ihnen beim Hören des Textes wie mir beim Lesen. Ich fand mich, ganz automatisch, neben Jesus wieder, schaute ihm gleichsam über die Schulter auf Jerusalem und den Tempel und hatte dabei im Geiste deren Untergang vor Augen. Die Dinge so sehen, heißt freilich auf der sicheren Seite sein, denn was sich vor dem geistigen Auge abspielt, ist ja nicht das eigene, sondern das Schicksal eines anderen. Das muß nicht bedeuten, daß man dem, was da geschieht, gleichgültig gegenübersteht. Und doch: man ist Zuschauer und man kommt, wenngleich berührt oder gar betroffen doch wieder heil aus diesem Bild heraus.

Möglicherweise ist daran etwas Typisches dafür, wo Christen sich und wo sie Israel finden. Gottes Zorn und Gericht, die Aussicht, aufgrund des eigenen Unvermögens an Gott zu scheitern, das ist für die, die auf Jesu Seite stehen, doch etwas schon Überwundenes, Vergangenes, auf das man zurücksieht – dahin, wo Israel immer noch ist. Auch die historische Auslegung unseres Textes hat immer wieder diese Perspektive eingenommen. Der Text spricht aus einer Zeit, in der sich das Christentum vom Judentum löste. In dieser Situation artikuliert sich in Jesu Weinen über Jerusalem nicht nur die prophetische Selbstkritik Israels, sondern nun eben auch der Vorwurf der frühen Christen an die Juden, Jesus nicht geglaubt, sondern von sich gestoßen zu haben. Die Zerstörung Jerusalems ist die Konsequenz daraus, daß das Judentum die Friedensboten Gottes und in deren Reihe nun auch Jesus aus dem Weg räumte. Die Geschichte Israels ist die der wiederholten und immer wieder vergeblichen Bemühungen Gottes um sein Volk. Gleichwohl gibt es ein ‘zu spät’ , einen Punkt, an dem alle Mühe, Geduld und Hoffnung zu Ende ist und Israel nun von seiner eigenen Verstockung überrollt wird. Israel hatte seine Chance – und hat sie verspielt. An die Stelle seiner Erwählung treten andere, tritt die Kirche. Die frühen Christen waren damit konfrontiert, daß ihr Glaube sie zunächst innerhalb des Judentums isolierte und sie schließlich aus der Synagogengemeinschaft hinaus drängte. Diese Trennung war schmerzhaft und vollzog sich nicht ohne Enttäuschung und Bitterkeit, die verarbeitet werden mußte. In dieser Situation deuteten die Christen die Zerstörung Jerusalem als Zeichen dafür, daß Gott sich von Israel abgewendet habe, und die Kirche nun dessen Erbe angetreten habe. Weil es Christus ablehnte, wurde es selbst verworfen. Wenige Verse weiter in der Deutung des Gleichnisses vom bösen Weingärtner heißt es: ‘Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen, auf wen er aber fällt, den wird er zermalmen.’

Angesichts der dunklen Wirkungsgeschichte der Vorstellung vom verworfenen Gottesvolk hat diese Auslegung ein sehr aufrichtiges Interesse: sie möchte die emotionale Härte, die aus dem Texten spricht, geschichtlich und das heißt: unter dem Vorzeichen geschichtlicher Distanz erklären. Wenn Geschwister sich entzweien – und so darf man das Verhältnis der Christen und Juden dieser Zeit beschreiben – sitzen Unverständnis und Enttäuschung tiefer als in anderen Beziehungen. Daß sich die Christen an Israels Stelle setzten, die Erstgeburtsrechte gewissermaßen für sich selbst in Anspruch nahmen, ist eine aus solcher Enttäuschung geborene Reaktion, – eine Reaktion, die man verstehen kann, die man sich aber – und darauf kommt es an – als heutiger Leser anzueignen kein Recht hat. Der Bruderkonflikt von einst, den das Neue Testament bezeugt, ist nicht mehr die Wirklichkeit der Leser, die darauf zurückblicken. Das Verhältnis von Juden und Christen heute ist nicht mehr das des 1. Jahrhunderts, und entsprechend gibt es christlicherseits weder Recht noch Anlaß, die eigene religiöse Identität in Abgrenzung zum und mit Ansprüchen an das Judentum zu definieren. Christen sind keine ‘Noch-Juden’ wie dies zur Zeit der Urkirche der Fall war, und Juden sind keine ‘Noch-nicht-Christen’ wie dies die frühe Kirche sehen konnte in der Hoffnung, eines Tages doch wieder mit Israel vereint zu sein. Diese Rollen sind heute nicht mehr zu besetzen oder gar dem jeweils anderen zuzuteilen. Wo dies dennoch geschieht und sei es aus guten Absichten und lauteren Hoffnungen, wird die Mündigkeit beider Religionen aufs Spiel gesetzt mit allen Gefahren, die dies nur haben kann.

Jesus weint über Jerusalem – fragen wir uns noch einmal, wo wir als Christinnen und Christen heute in diesem Bild vorkommen, ist die Antwort nunmehr: nirgends. Unsere Rolle ist die des außenstehenden Betrachters, mehr kann sie nicht sein. Und wenn wir als Kirche heute über unser Verhältnis zu Israel nachdenken, dann darf dies gerade nicht geschehen, indem wir uns irgendwie wieder in dieses Bild hinein stehlen.

Und doch: es scheint mir, liebe Gemeinde, daß wir bisher einen Ort dieses Bildes ausgelassen haben, an dem wir uns intuitiv vielleicht am wenigsten wiederfinden – in Jerusalem und im Tempel. Vielleicht gehören wir ja, mehr als uns aufs erste lieb ist, an den Ort, über den Jesus weint und in den er dann einzieht. Lesen wir den Text nochmals, diesmal aber von innerhalb der Stadttore.

Jesus kommt nach Jerusalem. Im Lukasevangelium ist dies ein ganz anderer Einzug als in den anderen Evangelien. Da säumt nicht die Bevölkerung die Straßen, breitet Kleider und Palmzweige aus und ruft: Gelobt sei dem, der da kommt im Namen des Herrn. Es ist nicht der Einzug eines messianischen Königs, der hier stattfindet. Lukas stellt uns ein viel schlichteres, bescheideneres Bild vor Augen. Auf diesen Jesus wartet niemand, er kommt als einer von vielen, die täglich in den Toren der Stadt ein und ausgehen. Dann sieht er die Stadt an und beginnt, über sie zu weinen: ‘Wenn du wüßtest, was dir zum Frieden dient; nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.’ Was aber sieht Jesus eigentlich, was macht Jerusalem eigentlich so friedlos und warum ist die Stadt dafür offenbar blind geworden?

Das ist keine abstrakte, sondern vor dem Hintergrund der Zeit eine sehr konkrete Sicht der Dinge: Jerusalem war der Brennpunkt des latenten Konfliktes zwischen römischen Besatzern und der jüdischen Bevölkerung, der immer wieder ausbrach und zu Blutvergießen führte. Zum Passahfest, das im Hintergrund unseres Textes steht, kamen überdies viele Juden aus nah und fern in die Stadt. Deswegen mobilisierten die Römer mehr als sonst Militär, um mögliche Unruhen schon im Keim zu ersticken. Das Passah ist das Fest der Befreiung Israels aus der ägyptischen Gefangenschaft und zugleich der Zeitpunkt, zu dem man die Wiederkehr des Messias erwartete. Allerdings verlief die Linie zwischen Römern und Juden nicht so klar wie man vielleicht meinen könnte. Auch seitens der jüdischen Autoritäten, der Hohenpriester, Schriftgelehrten und der ‘Oberen des Volkes’ hatte man wenig Interesse, daß der Konflikt ausbrach, denn gerade der Tempel als Marktplatz und Handelszentrum brachte ökonomischen Gewinn, und diese Einnahmen waren natürlich unter römischem Protektorat gesichert. Politische Konflikte, religiöse Hoffnungen, wirtschaftliche Interessen, die in schwer durchschaubarer Weise ineinander spielten und gleichzeitig die Lunte aneinander legten, das ganze Netzwerk von Macht und Intrige – für all das steht das Jerusalem, das keinen Frieden hat.

Nun wendet sich Jesus aber nicht mit Grausen ab, sondern geht hinein in die Stadt und in den Tempel, vertreibt die Händler und beginnt zu lehren, was nichts anderes bedeutet als die Schrift, Gesetz und Propheten, auszulegen. Und dann geschieht, was für Lukas so entscheidend ist: während die Oberen und die Priester, gewissermaßen die Lobbyisten der Zeit, ihre Strippen ziehen, um Jesus wie die Propheten vor ihm zu Tode zu bringen, kommt das Volk zu ihm und ‘hängt an seinen Lippen’. Da entsteht auf einmal ein ganz anderes Bild: Inmitten der Netzwerke von Macht und Intrige erscheint der Tempel, fast unmerklich und leise als das, was er immer sein sollte: ein Haus des Gebets und der Erkenntnis Gottes. Ein ganz merkwürdiges Doppelbild entsteht da: einerseits das Jerusalem, das an sich selbst zugrunde geht, aber andererseits die Stadt, in der – trotz allem – Gottes Nähe erfahren wird, in der Menschen in Gottes Gegenwart leben. Auch dieses Jerusalem gibt es, wenngleich in unscheinbarer Gestalt, so unscheinbar wie Jesus und das Volk. Dieses Jerusalem bleibt für Lukas Symbol von Hoffnung und Neubeginn: hier, nicht irgendwo in Galiläa, erscheint der Auferstandene seinen Jüngern und hier erfüllt sich die prophetische Verheißung der Ausgießung des Geistes über alles Volk, das Pfingstereignis. Die Hoffnungsbotschaft des Evangeliums gehört nach Jerusalem, – das ist bei Lukas so deutlich wie kaum an anderer Stelle im Neuen Testament.

Wo aber sind nun wir in diesem Bild: dort, wo Ideologie, Kommerz und Macht ihr friedloses Spiel treiben? Oder sind wir da, wo Gottes Gegenwart den Tempel und die Herzen der Menschen füllt? Fragen wir so, dann geht es in unserem Text gar nicht mehr so sehr um Juden hier und Christen da. Jerusalem und der Tempel – das ist der symbolische Ort, die symbolische Heimat beider Religionen. Dann kommt es aber darauf an, mit welchem Leben sie diesen Ort füllen. Ist es ein Leben, das das Gute dieser Religionen, Tora und Evangelium zum Leuchten bringt oder ist es das fried- und heillose Leben, das über das Jesus weint und für das es keine Zukunft gibt? Jerusalem hat Platz für die guten Kräfte beider Religionen und es stirbt daran, wenn diese guten Kräfte degenerieren, wenn Recht, Erbarmen und Gotteserkenntnis vor ideologischem Wahn, von Profit- und Machtkalkül in die Knie gehen.

Dazu ein letzter Gedanke. Wenn wir heute über diesen Text nachdenken, dann tun wir dies in einer Zeit, in der Jerusalem und der Tempelberg einmal mehr Ort von Gewalt und Unfrieden sind – und das nicht nur wegen der Ereignisse der vergangenen Woche. Dabei hat Jesu Klage eine Nähe zu unserer Zeit, die betroffen macht. Die Bilder, die sie weckt, und ihre Sprache sind vor dem Hintergrund der politischen Lage in Israel und Palästina von mehr als nur historischem Wert. Auch heute ist Jerusalem Symbol für eine unheilige, sich immer wieder neu und unabsehbar anfachendes Konfliktfeld aus politischen Interessen, ökologischem Kalkül und religiöser Ideologie. ‘Wenn Du wüßtest, was Dir zum Frieden dient, aber es ist vor dir verborgen!’. In der Tat scheint das auch heute keiner zu wissen, ja man hat den Eindruck, viele derjenigen, die im Nahen Osten auf israelitischer wie auf palästinensischer Seite Verantwortung tragen, haben unter dem Eindruck der täglichen Gewalt und des sich zementierenden Hasses die Orientierung darüber verloren, wie es auch anders sein könnte. So ist nicht mehr absehbar, ob das Verlangen und die Sehnsucht nach einem Frieden, der nicht nur der Sieg der eigenen Interessen ist, noch am Leben oder eher doch in den letzten Atemzügen ist. Terror und Vergeltung sind – auch für uns als Beobachtung aus der Ferne – in einer Weise selbstverständlich geworden, die danach fragen läßt, ob die tägliche Gewalt die Sensibilitäten für den Wert des Friedens nicht gänzlich verschlissen hat. Irgendwann wird Friede nicht mehr um seiner selbst willen begehrt, hört er auf ein ‘Gut’ zu sein, nach dem es sich auszustrecken lohnt, sondern wird zum Problem von Diplomatie und zur Frage, wer an wessen Verhandlungstisch die stärkeren Oberarme hat.

Itzak Rabin, der ehemalige israelische Ministerpräsident, nach dessen Ermordung sich der Friedensprozeß im Nahen Osten nicht wieder erholt hat, bezeichnete in seiner letzten Rede, wenige Minuten vor seinem Tod den Frieden als eine Sache, nach der sich der Wille, das Herz und die Geduld gleichermaßen ausstrecken müssen. Dies war eine Ermahnung eingedenk der Tatsache, daß die Energien zu einem solchen ‘sich ausstrecken’ nicht unbegrenzt sind. Auch Gewalt kann zu einem Lebensinhalt und zur Routine werden, und zwar so sehr, daß es irgendwann schon keine Rolle mehr spielt, ob man sie will oder nicht. Sie gehört dann auf einmal dazu, wird selbstverständlich, teilt die Welt in gut und böse ein und ist immer auf der Seite der Sieger. ‘Nun ist es verborgen vor Dir’ – , verborgen vor Dir, was dem Frieden dient. Es gibt ein ‘zu spät’, einen ‘point of no return’, an dem die Dinge ihren fatalen Gang zu Ende gehen. Da ist kein Sinn, kein Gefühl, kein Blick, keine Sprache mehr für das, was den Lauf des Unvermeidlichen ändern könnte.

Es breitet sich ein düsterer Realismus um diesen Text aus, wenn er beginnt, in unsere Zeit hinein zu sprechen. Da ist kein moralischer Zeigefinger und kein Aktionismus, der zur Umkehr mahnt, und auch kein Therapieprogramm, das Heilung anbietet, sondern nur das Weinen Jesu. Dieses Weinen wird kaum jemanden im Ränkespiel um Gebiete, ökonomische Vorteile und religiösen Eifer beeindrucken – ebenso wenig wie damals. Daß aber Jerusalem und der Tempelberg zu dem Ort werden, an dem Israelis und Palästinenser, Juden und Moslems erkennen, was ihnen zum Frieden dient, darauf haben gerade auch wir Christen um des neutestamentlichen Zeugnisses willen Grund zur Hoffnung und Grund zum Gebet – gerade heute am Israelsonntag.

Amen

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 22.03.2016
zum Seitenanfang/up