20.04.2003 Prof. Dr. Christoph Markschies - über Mk 16,1-8

Prof. Dr. Christoph Markschies,

 

Predigt über Markus 16,1-8 (20. April 2003)

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt!

 

Predigttext für das heutige Osterfest ist in diesem Jahr das alte Evangelium des Ostersonntags, es steht bei Evangelisten Markus im sechzehnten Kapitel, die Verse 1-8:

Lesung Markus 16,1-8

Ja, liebe Gemeinde, wer wälzt eigentlich uns den Stein von des Grabes Tür? Wer, liebe Gemeinde, hilft uns, Zugang zu finden zu dieser lakonisch kurzen Geschichte von drei trauernden Frauen, denen ein Engel erscheint und die Jesus doch dort nicht finden, wo sie ihn suchen? Wer wälzt uns den Stein von der Tür, die uns den Weg zur wahren Osterfreude verbaut? Denn darauf kommt es doch wohl heute morgen an, daß wir nicht starr und stumm stehen bleiben vor dem Grab und der ganzen Geschichte, daß wir „weyter kommen“, daß wir „Frucht und Nutzen der Auferstehung“ begreifen, daß wir ihre Kraft erfahren – wie Martin Luther in einer Predigt über unseren Text die Aufgabe rechter christlicher Osterverkündigung formuliert hat (WA 17/I, 183b,10-12).

Denn auch die Steine, liebe Gemeinde, die auf unserem Wege liegen und uns das Verstehen dieser Geschichte blockieren, sind ja sehr groß, für viele mindestens so groß wie der Stein vor des Grabes Tür im Osterevangelium nach Markus. Ich denke dabei zunächst gar nicht an die immer wieder einmal unter Theologen aufflammende Debatte über die Frage, welche Züge der Osterbotschaft einem neuzeitlichen Menschen eigentlich noch zumutbar oder verständlich sind – nein, wenn ich von den Steinen auf unserem Wege rede, meine ich etwas anderes, etwas, was gerade durch das Osterevangelium des Markus in ein taghelles Licht gerückt wird: Während sich die drei Frauen über die Osterbotschaft noch entsetzen und zitternd davon machen, entsetzt uns Ostern überhaupt nicht mehr. Wir haben uns irgendwie an die Botschaft von der Auferstehung gewöhnt, uns mit ihr in der einen oder anderen Form arrangiert und nehmen ruhig hin, daß und wie sie uns umgibt in Bildern, Worten und der Musik. Höchstens ein paar Universitätstheologen streiten noch über Auferstehung und dann – wie zum Ausgleich für das allgemeine Schweigen – besonders lautstark.

Nicht wahr, liebe Gemeinde: Wir glauben doch für gewöhnlich zu wissen, was Leben, was Tod ist und lassen uns diesen unseren Glauben von der Auferstehungsbotschaft, vom Osterevangelium auch nicht wirklich erschüttern. Wir glauben genau zu wissen, was Leben ist; wenn wir Biologen hören, meinen wir sogar, es ziemlich exakt sagen zu können – und sind nur mäßig irritiert, wenn beispielsweise uns viel beschäftigte und überarbeitete Professoren dann mal jemand fragt, ob wir denn in aller dieser Hatz wirklich leben würden. Und was der Tod ist, meinen wir auch irgendwie zu wissen oder jedenfalls zu ahnen. Manche glauben sogar, es besser zu wissen als andere. Im November habe ich in Berlin mit einem ungarischen Schriftsteller diskutiert, der ein faszinierendes Buch unter dem Titel „Der eigene Tod“ geschrieben hat. Péter Nádas, der darin sehr eindrücklich das beschreibt, was die Mediziner „Nahtoderfahrungen“ nennen, war nicht sehr glücklich, als im Laufe dieser Diskussion deutlich wurde, daß er trotz aller von ihm so bewegend geschilderten Licht- und Einheitserfahrungen über den eigenen Tod praktisch genauso wenig wußte wie vor seinem Herzinfarkt – er war eben doch nicht gestorben. Mors definiri nequit, den Tod kann man nicht definieren, so sagten die Alten; et vita quoque definiri nequit, und das Leben kann man auch nicht definieren, so möchte man gegenwärtig manchem Naturwissenschaftler entgegenrufen. Wir glauben, liebe Gemeinde, doch nur, etwas über Tod und Leben zu wissen, und halten unser stückweises Begreifen schon für Erkennen, obwohl es das gewißlich nicht ist.

Das Osterevangelium stört solche scheinbaren Gewißheiten über Leben und Tod, es zerstört unsere scheinbaren Gewißheiten über Tod und Leben. Denn zu Ostern tritt uns einer entgegen, der von sich sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25). Das meint: Wenn Ihr wirklich wissen wollt, was Tod und Leben sind, wie Leben und Tod zusammenhängen, dann müßt Ihr auf mich schauen, auf den Auferstandenen. Unser Predigttext aus dem Markusevangelium drückt das alles in der ihm eigenen lakonischen Kürze aus und verwendet ein einziges Wort dafür: ägértä, „er ist auferstanden“. Aber dieses eine einzige Wort führt die drei Frauen zu einem vollkommen neuen Verständnis von Tod und Leben. Plötzlich erkennen Maria aus Magdala, die andere Maria und Salome, daß es töricht war, für den Hingerichteten wohlriechende Öle und kostbare Salbe zu kaufen; plötzlich begreifen sie, daß sie nach Galiläa zurückgehen müssen, um ihn dort zu finden.

Wenn wir, liebe Gemeinde, die Fassung der Osterbotschaft ernst nehmen wollen, die uns der Evangelist Markus heute morgen erzählt, dann dürfen wir nicht unerschüttert bei dem bleiben, was wir über Tod und Leben schon immer zu wissen glaubten. Dann müssen wir uns wie die drei Frauen von der Osterbotschaft erschüttern lassen, dann müssen wir wie die drei Frauen ihm – dem Auferstandenen – nachlaufen und von ihm neu lernen, zu leben und zu sterben, Leben und Tod neu verstehen lernen von ihm her. „Er ist nicht hier“ – nicht in unseren Bildern von Tod und Leben, nicht in den Bergen von Literatur, die wir darüber verfassen, nicht in unseren Debatten über Nahtoderfahrungen und nicht in den Drittmittelanträgen der Lebenswissenschaften. Er ist anderswo.

Der Evangelist Markus sagt uns heute morgen: Wir müssen Jerusalem verlassen, wenn wir die Auferstehung Jesu Christi begreifen, wenn wir Tod und Leben wirklich verstehen wollen. Wir müssen den engen Gedankenkreis der Grenzen unseres bisherigen Verstehens verlassen – aber eben diese scheinbare Zumutung der Osterpredigt ist ja auch das herrliche Geschenk des Osterevangeliums: Wie elend wäre unsere Welt, wenn die Grenzen unseres Verstehens zugleich die Grenzen der Wirklichkeit, ja die Grenzen unseres Lebens wären? Die lakonisch knappe Osterbotschaft des Markusevangeliums – „er ist auferstanden“ – impliziert ein neues Verständnis der Wirklichkeit, will uns in eine neue Wirklichkeit führen. Wir bleiben, Gott sei dank, nicht immer bei uns, nicht immer bei unseren alten Gedanken und diese arge Welt bleibt auch nicht immer bei sich selbst. Wir können am Ostermorgen erfahren, was Leben in seiner ganzen Fülle ist. Ostern können wir begreifen, daß die Mächte und Gewalten der Finsternis, deren Realität wir doch so häufig und so bedrängend erleben, nicht das letzte Wort haben. Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern: „das Leben, das behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen“ (EG 101,4).

Aus dem alten Osterevangelium nach Markus können wir heute morgen aber noch ein Zweites lernen: Wir müssen gar nicht so besorgt nach dem Wie und Wo der Auferstehung Jesu Christi fragen. Vielmehr will Gott selbst die Wahrheit und Wirklichkeit seiner Auferstehung bei uns bekräftigen. Wir müssen ihn nur lassen. Die Ostererzählung des Markus macht diese Zusammenhänge wieder ganz plastisch deutlich. Die Sorge der drei Frauen – „Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“ – war vollkommen unnötig. Der riesengroße Stein war schon weg und die Frauen bemerkten es auch sofort, als sie richtig hinsahen – im Griechischen wörtlich: als sie aufsahen, aus ihren eigenen trüben Gedanken aufschauten. Markus will uns sagen: Gottes Handeln kommt unserer Aktivität zuvor. Gottes Reden kommt unserem Fragen zuvor. Wir müssen Gott nur lassen. Damals kam er den Fragen der Frauen offenbar durch irgendeinen Jüngling in weißen Gewändern zuvor, heute kommt er unseren Grübeleien vielleicht durch einen schlichten Sonntagsgottesdienst zuvor, in dem uns die Osterbotschaft so weitergesagt wird, daß sie uns erreicht. Wie heißt es zu Beginn unseres Predigttextes? „Am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging“. Vermutlich hat Markus diese präzise Datumsangabe nicht allein aus Gründen historischer Genauigkeit an den Anfang seines Osterevangeliums gesetzt. Zu eben dieser Zeit feierte die christliche Gemeinde in der Antike ihren Sonntagsgottesdienst. Markus erinnert uns mit der Datumsangabe daran, daß Gottes Reden nicht nur einst, vor vielen hundert Jahren, den Fragen der Frauen zuvor gekommen ist, sondern bis auf den heutigen Tag unter Umständen durch einen schlichten Sonntagsgottesdienst unseren Fragen zuvorkommen will.

Diese enge Verbindung zwischen dem schier unbegreiflichen Ereignis der Auferstehung Jesu Christi und dem Alltag gottesdienstlicher Verkündigung gehört für mich zu den unmittelbar eindrücklichen Zügen des Osterevangeliums, wie es uns der Evangelist Markus überliefert hat: Keine Beschreibung der Auferstehung findet sich in diesem biblischen Buch, ja ursprünglich nicht einmal eine Erscheinung des Auferstandenen im Evangelium, keine Vision, über die wir grübeln müßten, deren ontologischen Status wir diskutieren müßten – nur das knappe Wort des Boten, das Wort der Botschaft: „Er ist auferstanden“, das eine knappe Wort, das eine ganze neue Welt erschließt, uns Tod und Leben neu verstehen läßt.

Dieses eine Wort wird weitergesagt in einer Welt, in der der Tod gern das letzte Wort behalten würde, es wird weitergesagt und so sollen auch wir es heute morgen weitersagen: „Er ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden“. Die drei Frauen bei Markus konnten das zunächst nicht. Wir, liebe Gemeinde, wenn wir ehrlich sind, können es oft auch nicht weitersagen und schweigen wie die Frauen. Markus nimmt solche Schwierigkeiten radikal ernst. Sein Evangelium schloß einst mit den Worten, mit denen auch unser Predigttext schließt: „Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich“ und bis weit ins Mittelalter hinein ist es teilweise auch in dieser Fassung tradiert worden. Aber Markus bleibt nicht beim Erschrecken und Schweigen der ersten Boten, sondern weist seine zeitgenössische Leserschar und so auch uns an den sonntäglichen Gottesdienst, an Predigt und Sakrament, die uns in unserem Schweigen und bei unseren Fragen zu Hilfe kommen und die Wahrheit der Osterbotschaft als unsere ganz eigene Gewißheit vermitteln können. Die österliche Gewißheit in uns befestigen, daß Christus unseren Tod auf sich genommen hat und uns dafür sein Leben schenken wird. Martin Luther hat in seiner erwähnten Predigt aus dem Jahr 1525 diese österliche Gewißheit viel plastischer formuliert, als wir uns das heute zu sagen trauen: „Christus wird ich und ich Christus .... So sehr ist er in mich gekrochen, daß er mein Alles hat“ (WA 17/I, 187b,7). Auferstehung bedeutet für Luther, daß Christus in unsere arme, dem Tod verfallene und daher verfallende Gestalt kriecht und wir dafür in seine herrliche Auferstehungswirklichkeit kriechen können (188b,1).

Nicht wahr, liebe Gemeinde, erst, wenn wir diesen fröhlichen Wechsel zu verstehen beginnen, werden wir wirklich wissen, wie es sich mit Tod und Leben verhält, wie es sich mit unserem Tod, mit unserem Leben verhält. Erst dann hat die Osterbotschaft uns wirklich erschüttert, erst dann erzittern unsere scheinbar festen Gewißheiten, erst dann sind wir aus Jerusalem aufgebrochen nach Galiläa. Im Markusevangelium sagt der Engel zu den Frauen: „Ihr werdet sehen“. Und auch uns heute morgen ist gesagt: „Ihr werdet sehen“. Wir werden das alles noch sehen, wir werden das alles, was wir jetzt nur stückhaft begreifen, noch vollständig verstehen. Denn wir erleben es doch schon ansatzweise in Gottesdiensten, erleben es jedenfalls dann, wenn das biblische Wort uns anspricht und der lebendige Christus uns im Abendmahl nahe kommt. Amen.

 

Kanzelsegen

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Letzte Änderung: 21.03.2016
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