Hans Walter Wolff: Exegese für Predigt und Gegenwart

Jürgen Kegler | Adobe Den Beitrag als PDF downloaden

 

 

Hans Walter WolffHans Walter Wolff

Hans Walter Wolff:

Geboren am 17. Dezember 1911 in Barmen; gestorben am 22. Oktober 1993 in Heidelberg

Professor für Altes Testament, Universitätsprediger ab 1967

 

 

In einer Mischung von Anerkennung und Schalk pflegten ältere Studierende Neuimmatrikulierten in Heidelberg zu empfehlen: „Die Vorlesungen von Hans Walter Wolff musst du unbedingt hören. Er predigt gern auf dem Katheder wie auf einer Kanzel.“ Dahinter stand eine kluge Beobachtung. Für Wolff war die exegetische Arbeit an den biblischen Texten kein Selbstzweck, sondern Dienst für Christus. Wissenschaftliche Arbeit sollte ebenso wie die Predigt der Aufgabe dienen, den Willen Gottes für die Gegenwart zu suchen. Er scheute sich deshalb nicht, auch sehr konkret zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung zu nehmen. Legendär ist sein engagiertes Eintreten für die Wehrdienstverweigerung – das war ja damals mit einem unsäglichen Gewissensprüfungsverfahren verbunden. Für ihn war die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe das eindeutigere Zeichen für die Nachfolge Christi.

Auch in der Reformationspredigt, die er 1983 in der Peterskirche in Heidelberg hielt, nimmt er Stellung zu politischen Fragen. Im Jahr 1983 bewegte Tausende von Menschen der Nato-Doppelbeschluss mit der drohenden Stationierung von Pershing II-Raketen. Wolff plädiert für vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung. Im selben Jahr war das Thema Gerechtigkeit und die zerstörerischen Auswirkungen der Weltwirtschaftsordnung auf der Vollversammlung der Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver von zentraler Bedeutung. Wolff greift das Anliegen auf, indem er für ein lokales Zeichen gegen Ungerechtigkeit aufruft, hier ganz konkret zu einer großen Kollekte für die Arbeit mit Kindern, Kranken und Flüchtlingen, die von katholischen Schwestern im vom Bürgerkrieg zerrissenen Libanon geleistet wurde. Und er ruft energisch zur ökumenischen Zusammenarbeit angesichts der Zerrissenheit der christlichen Kirchen auf und verwirklicht dies auch sehr konkret: Der Gottesdienst selbst war der erste ökumenische Reformationsgottesdienst in Heidelberg und die Kollekte war ja auch ein ökumenisches Projekt.

Am Reformationsfest geht natürlich auch der Blick hin zu Martin Luther. Er kommt in dieser Predigt an zentralen Stellen vor: im Eingangsteil als der, der uns angeleitet hat, die Schäden der Kirche „unter dem Scheinwerfer der biblischen Schriften“ zu erkennen und an der Zukunft der Kirche zu arbeiten, und im Schlussteil, wo er die auf dem Universitätsplatz 1983 in den Boden gelassene Gedenkplatte am Ort des einstigen Augustinerklosters nennt und die auf ihr eingravierte 28. Heidelberger These Luthers zitiert: „Menschliche Liebe liebt, was sie liebenswert findet. Gottes Liebe jedoch findet uns nicht liebenswert, aber sie macht uns liebenswert.“ Damit wird Luther zum Vorbild einer kritischen Haltung gegenüber der Kirche und ihrem realen Erscheinungsbild und zugleich Botschafter der Liebe Gottes, durch die wir in seinen Augen
verändert werden. Es ist dies auf ihr Zentrum konzentrierte Rechtfertigungsbotschaft.

Der rote Faden der Predigt ist jedoch das Prophetenwort Tritojesajas. Es wird homilieartig entfaltet. Dabei – und das ist für den Alttestamentler Hans Walter Wolff geradezu programmatisch – werden die an Israel gerichteten Worte als zugleich an uns, an die Kirche, adressierten Worte ausgelegt. Wir sollen Wächter sein, die Gott bestürmen und ihn nach seinem Willen für uns befragen. Wir sollen Gott keine Ruhe geben, denn nicht unsere, sondern seine Aktionen können uns verändern. Das Gebet zu Gott soll zu einem Hort der Hoffnung werden. Und der Prophet ruft die Kirche auf, ein Zeichen für die Völker aufzurichten. Wolff legt dies aus, dass Kirche sich zu Politischem äußern muss gemäß der Funktion einer Ampel: Rot steht für: so darf es nicht weitergehen, gelb für Nachdenken und grün für Unterstützung. Die Aufforderung Tritojesajas, Steine hinweg zu räumen, versteht Wolff als Aufgabe der Kirchen, an der Einheit zu arbeiten. Nichts ist so „schaurig“ wie die Vielfalt der Kirchen, Sekten und Gemeinschaften, die sich gegenseitig entwerten.

Im Schlussteil spricht Wolff als Seelsorger. Kirche ist Botin der Versöhnung. Sie ist Verkünderin der Liebe Gottes, die von einem heiligen, gültigen, heilenden Freispruch von uns und unseren Fehlern und Schuldlasten kündet, durch den wir erneuert und von den Zwängen gelöst werden als „Erlöste des Herrn“.

Das Predigen alttestamentlicher Texte, mehr noch: die Bedeutung des Alten Testaments für Christen wurde in der Bekennenden Kirche zu einem zentralen Thema. Angesichts der nationalsozialistischen Propaganda, die das Alte Testament als jüdische Schrift vehement ablehnte, formierte sich eine Gruppe junger Theologen, die die Bedeutung des Alten Testaments für das Verstehen des Neuen Testaments als zentrales Anliegen herausarbeiteten. Diese Fragestellung war mit dem Ende der Nazi-Ideologie noch nicht beendet. Für Hans Walter Wolff war die Frage so brennend, dass er im Jahr 1956 als Dozent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal „Erwägungen zur typologischen Auslegung des Alten Testaments“ formulierte. Als Voraussetzung formulierte er drei Thesen: 1. Nur durch Bezugnahme auf das Alte Testament kann das neutestamentliche Kerygma Jesus von Nazareth als den Christus Gottes erkennen und bezeugen. 2. Die Grundzüge des Gotteszeugnisses des Alten Testaments haben weder in der Umwelt Israels noch in der jüdischen Nachgeschichte Entsprechungen, nur das Neue Testament bietet die Analogie zum Alten Testament: ein auf Geschichtsfakten bezogenes Glaubenszeugnis von dem Bundeswillen Gottes, sich ein Volk zu erwählen und es zur Freiheit unter seine Herrschaft zu berufen. 3. Das alttestamentliche Zeugnis von Gottes Ziel mit Israel ist unabgeschlossen, es wartet auf Zukunft und Erfüllung.

Die Notwendigkeit einer typologischen Auslegung begründet Hans Walter Wolff so: Wir haben kein unmittelbares und ungebrochenes Verhältnis zu den alttestamentlichen Schriften. Aber in der Nachfolge Christi können wir nicht ohne das Alte Testament leben: In ihm wird derselbe Gott bezeugt, der sich in Christus als Gott Israels und der Völker zeigt. Das Neue Testament liest das Alte so, dass es in ihm Weissagungen auf Christus hinsieht, zugleich aber erkennt, dass das Offenbarwerden des Willens Gottes in der Geschichte mit Israel verknüpft ist. Das Alte Testament wird falsch verstanden, wenn es ausschließlich als Verheißung gedeutet, oder als Antithese zum Neuen angesehen oder gar für identisch mit der neutestamentlichen Botschaft interpretiert und allegorisch ausgelegt wird. Vielmehr muss das Alte Testament als Zeugnis von Gottes Offenbarung vor Christus in Israel verstanden werden, seine Bedeutung für das Verstehen neutestamentlicher Traditionen gesehen und zugleich die kerygmatischen Differenzen erkannt werden. Als Grundsatz typologischer Auslegung formuliert Wolff eine Leitfrage: „Was sagt der alttestamentliche Text in seinem geschichtlichen Sinn der im Neuen Bund mit Jesus Christus lebenden Menschheit?“ Diese Leitfrage kann man sehr deutlich hinter dem Duktus der Reformationspredigt erkennen. Das, was der Text sagt, muss durch intensive exegetische Arbeit erhoben werden – hier liegt eine der Wurzeln der immens umfangreichen exegetischen Forschungen, die Hans Walter Wolff im Laufe seines Lebens vorangetrieben hat.

Die Leidenschaft zum Predigen hat Hans Walter Wolff in den Jahren seines Pfarrdienstes in Solingen-Wald entwickeln können. Bevor er diese Pfarrstelle antrat, musste er sich entscheiden: Wo legte er – mitten im Kirchenkampf - sein Theologisches Examen ab? In einer gleichgeschalteten Landeskirche oder in der Bekennenden Kirche; es war eine entscheidende Weichenstellung für sein Leben. Er hatte seit 1931 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, an der Georg-August-Universität in Göttingen und an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Er entschied sich für den schwierigeren und unsicheren Weg in die Bekennende Kirche. Sein starkes Interesse an dem Alten Testament wurde durch dieses Engagement in der Bekennenden Kirche gefördert. Er legte sein Erstes Theologisches Examen 1935 bei der Bekenntnissynode im Rheinland ab. Als Vikar wurde er zunächst in Münster eingesetzt, doch schon bald als Seelsorger für die Studierenden an der neu gegründeten Kirchlichen Hochschule in Wuppertal versetzt; diese Hochschule musste quasi im Untergrund konspirativ geführt werden. Es sind wohl diese Erfahrungen in dieser Zeit, dass er zeitlebens zu politischen Entwicklungen engagiert Stellung nahm. Als Vikar lernte er, wie gefährlich es war, das Alte Testament in seinen Predigten zu würdigen, zugleich war er als Seelsorger der Studierenden mit den vielfältigen Problemen der Nazizeit, den Gefahren von Denunziation und gefährdeter Freiheit konfrontiert. Ab 1937 war er, so die etwas merkwürdige rheinische Bezeichnung, Hilfsprediger in Solingen-Wald. 1938 folgte das Zweite Theologische Examen. Er wurde zum Wehrdienst einberufen, konnte aber 1942 mit einer Arbeit über Jesaja 53, den leidenden Gottesknecht und seine Rezeption im Urchristentum, promoviert werden. In dieser Arbeit ging es zentral um die Frage nach der Bedeutung alttestamentlicher Prophetie für das Verständnis des Neuen Testaments.

Die Prophetie hat ihn zeitlebens beschäftigt. Sie wurde zu einem der Zentren seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Nach dem 2. Weltkrieg, von 1946 bis 1949, war er Pfarrer in Solingen-Wald, zusätzlich Dozent an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. 1952 wurde er dort auf den Lehrstuhl für Altes Testament berufen. Sieben Jahre später erhielt er einen Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz, von dort wurde er im Jahr 1967 an die Theologische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg berufen. Zusammen mit den Alttestamentlern Martin Noth und Hans-Joachim Kraus, später auch Siegfried Hermann, förderte er ein epochales Werk: den Biblischen Kommentar mit ausführlichen, wissenschaftlich fundierten, Kommentaren zu allen Büchern des Alten Testament. Das Projekt ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Hans Walter Wolff hat nicht nur die Herausgeber-Arbeit geleistet, sondern auch selbst Kommentare beigetragen. Mit ungeheurem Fleiß schrieb er Kommentare zu Hosea (1965), Joel, Amos (1969), Obadja, Jona (1977), Micha (1982) und Haggai (1986), dazu noch etliche Monographien (mitunter mit provozierenden Titel wie das Buch über Hosea: „Die Hochzeit der Hure“ (1979)) und Aufsätze zu prophetischen Texten. Seine literarkritischen Untersuchungen waren geleitet von Fragen nach den ursprünglichen, mündlich ergangenen Prophetenworten. Vor dort aus zeichnete er den Werdegang der prophetischen Schriften bis zu ihrer heutigen Endgestalt nach: Er ging von „Auftrittsskizzen“ der Propheten aus, die von Jüngerkreisen gesammelt wurden. Dem schloss sich die Bearbeitung der Sammlungen als erste Gestalt der späteren Prophetenschrift an, schließlich arbeitete er Bearbeitungsschichten, Ergänzungen, und - teilweise - hymnische Rahmungen heraus. Prophetenschriften waren so lebendige Zeugnisse eines langen, immer wieder
aktualisierten Entstehungs- und Überlieferungsprozesses. An der Historizität der Prophetengestalten hielt er fest.

Im Laufe seines akademischen Lebens erhielt er mehrere Ehrungen. Internationalen Ruhm erhielt Hans Walter Wolff vor allem für seine Arbeit an den Schriften der alttestamentlichen Propheten und für seine Anthropologie. Seine Kommentare wurden schnell zu Standardwerken der Prophetenforschung; zu seinem 70. Geburtstag erhielt er zwei Festschriften mit dem Titel „Die Botschaft und die Boten“ und „Das Alte Testament als geistige Heimat“. Die Festschrift zu seinem 75. Geburtstag mit dem Titel „Was ist der Mensch?“ stellte in den Mittelpunkt seine Arbeiten zur Anthropologie des Alten Testament (1973). Dieses Buch war forschungsgeschichtlich der erste Versuch einer umfassenden biblischen Anthropologie und wurde intensiv rezipiert und diskutiert. Bisher hatte es nur einzelne Veröffentlichungen zu einzelnen anthropologischen Fragen gegeben. Hans Walter Wolff hatte selbst einige Studien vor dem Buch zu anthropologischen Fragen geschrieben.

Im persönlichen Umgang spürte man seine seelsorgliche Grundhaltung verbunden mit klaren Positionen in politischen (und hochschulpolitischen) Fragen und einem enormen Fleiß. Als Doktorvater zeichnete er sich durch große Liberalität aus: Er wollte keine „Wolff-Schule“ begründen, sondern förderte die Eigenständigkeit seiner Doktoranden. Frank Crüsemanns sozialgeschichtlicher Ansatz wurde von ihm ebenso gefördert wie Christof Hardmeiers Forschungen zur Linguistik und ihre Fruchtbarmachung für die Exegese.

Der Heidelberger Fakultät blieb er treu. Seine Emeritierung im Jahr 1978 erfolge auf seinen Wunsch hin, da er Zeit für die Pflege seiner schwerkranken Frau haben wollte, die er bis zu ihrem Tod begleitete.

 

Predigtbeispiel: Predigt über Jesaja 62, 6-7 + 10-12: „Was wird aus der Kirche?“

 

LITERATUR

Wolff, Hans Walter: … wie eine Fackel. Predigten aus drei Jahrzehnten, Neukirchen-Vluyn 1980.

Wolff, Hans Walter: Anthropologie des Alten Testaments, hg. v. Janowski, Bernd, Göttingen 2010.

 

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 01.03.2017
zum Seitenanfang/up