BMBF Verbundprojekt Teilprojekt 2 (Recht)

Teilprojekt 2: Rechtliche Aspekte der medizinischen Prädiktion durch genomweite Sequenzierung des menschlichen Genoms

Gefördert durch

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Projektmitarbeiter:

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Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Kirchhof

Universität Heidelberg
Institut für Finanz- und Steuerrecht
Friedrich-Ebert-Anlage 6–10
69117 Heidelberg
E-Mail: kirchhofp@jurs.uni-heidelberg.de

Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum

Max-Planck-Institut für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht
Im Neuenheimer Feld 535
69120 Heidelberg
E-Mail: sekrewol@mpil.de

 

Fruzsina Molnár-Gábor

Max-Planck-Institut für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht
Im Neuenheimer Feld 535
69120 Heidelberg
E-Mail: fmolnarg@mpil.de

Vorhabenbeschreibung

Die Durchführung einer Ganzgenomsequenzierung geht in der Regel mit der Entdeckung von prädiktiven Befunden einher. Dieser Umstand wirft neue rechtliche Fragen auf, die die einschlägigen Normen im geltenden Recht nur ansatzweise beantworten. Um einen angemessenen Schutz des Patienten zu gewährleisten, sollte von der informationellen Selbstbestimmung abgerückt werden, um auf das Verfassungsrecht und internationale Standards zurückgreifend eine neue Patientenaufklärung, -einwilligung und -beratung für die Ganzgenomsequenzierung auszuarbeiten.

Der genetische Informationseingriff ist ein medizinischer Eingriff, der den Erfordernissen von Indikation, Aufklärung, Einwilligung, Behandlung lege artis und Dokumentation genügen muss. Diese Zulassungsvoraussetzungen medizinischen Behandelns erfassen den genetischen Informationseingriff, der durch die prädiktiven Ergebnisse einer Ganzgenomsequenzierung geprägt wird, nicht sachgerecht. Auch wenn das genetische Wissen der individuellen Früherkennung einer Krankheit dient, ist die Indikation im prädiktiven Bereich vielfach nicht so verlässlich, dass sie konkrete Therapien mit der Sicherheit naturwissenschaftlicher Kausalitäten zur Folge hätte. Die Aufklärung des Patienten kann sich daher kaum auf die bereits manifestierte Krankheit und die mit der Behandlung verbundenen Risiken beschränken. Aufklärungsprozesse werden vielfach durch Informationen über den darüber hinaus gehenden genetischen Befund und seine Folgen beim Betroffenen Unsicherheit oder auch Erleichterung hervorrufen, insbesondere deshalb, weil das genetische Untersuchungsergebnis in jedem Fall sowohl aus Befunden besteht, die Aufschluss über das vermutete Krankheitsbild geben können, als auch aus Zusatzbefunden, die nur teilweise sichere Aussagen über andere Anlageträgerschaften zulassen. Dies macht die Belastungswirkung des Aufklärungseingriffs in besonderer Weise deutlich. Die Frage, ob Aufklärung Gunst oder Last ist, stellt sich hier in zugespitzter individueller Dramatik. Auf dem Feld der Medizin- und Bioethik wie der entsprechenden rechtlichen Regelungen ist die Achtung der Patientenautonomie ein normatives Schlüsselprinzip. Die Patientenautonomie verhindert die Verobjektivierung der Person des Patienten und ist somit Teil seiner unantastbaren Würde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Wesentliches Element der konkreten Umsetzung dieses Postulates ist der „informed consent“, die freiwillige Zustimmung des Patienten nach einer Aufklärung, die eine eigenständige Entscheidung ermöglichen soll. Die Einwilligung des betroffenen Patienten scheint bei der Ganzgenomsequenzierung ein fast untaugliches Rechtfertigungsprinzip zu sein. Zunächst willigt der Betroffene in der Regel nicht nur in einen Heilversuch ein, der ausschließlich ihm persönlich mit beachtlicher Verlässlichkeit in seiner Behandlungsbedürftigkeit hilft. Er willigt eher in ein Heilexperiment bezüglich der prädiktiven zusätzlichen Befunde ein, das sowohl der Forschung zugunsten der Allgemeinheit als auch der individuellen Heilung dienen kann. Vor allem aber kann der Angesprochene mit seiner Einwilligung nicht die Bekanntgabe von Wissen rechtfertigen, das wandert und etwa seine Familie betrifft, deren Lebenssicht und Lebenserfahrung dadurch grundlegend verändert werden kann. Die verbindende und trennende Kraft genetischen Wissens wurde in den privaten Begegnungen bisher vernachlässigt.

Die Behandlung lege artis ist problematisch, weil sich aus der Diagnose prädiktiver Befunde nicht notwendigerweise Behandlungsaufträge mit überschaubaren Erfolgschancen ergeben. Schließlich eröffnet die Dokumentation große Probleme des Datenschutzes. Daher lässt sich die gegenwärtige rechtliche Regelung der informierten Zustimmung nicht unmittelbar auf die Ganzgenomsequenzierung anwenden.

Bei der Ganzgenomsequenzierung ist nicht der Eingriff in die Körperverletzung, sondern die Beschaffung von genetischen Daten Gegenstand der Einwilligung. Die spezifische Besonderheit hierbei besteht darin, dass der Arzt Informationen erlangt, die für den Patienten entscheidungserhebliche Tatsachen darstellen können, welche er jedoch zugleich intellektuell oder aus der aktuellen Lebenssituation heraus mit der Einwilligung nicht begleiten kann. Durch die Gewinnung von Genmaterial erlangt der Arzt prädiktive Information über die Betroffenen, über die sie selbst nicht verfügt. Nach der informationellen Selbstbestimmung hat jeder das Recht zu bestimmen, wann und in welchem Umfang persönliche Sachverhalte offenbart werden. Die durch eine Ganzgenomsequenzierung gewinnbaren Sachverhalte sind im Voraus aber nicht genau zu spezifizieren (die künftigen Krankheiten sind noch nicht manifest) bzw. sind so zahlreich, ihre Interpretation an medizinisch-genetische Fachexpertise so stark gebunden, dass der Verständnishorizont eines durchschnittlichen Patienten weit überschritten wird. Zudem ist die wissenschaftliche Beurteilung prädiktiver Befunde in ständiger wissenschaftlicher Fortentwicklung. Hierdurch verändern sich Interpretationsmuster und weiterführende Informationen werden generiert. Unklar ist, ob in diesen Fällen  eine in die Zukunft gerichtete Benachrichtigungspflicht des Arztes über neue Befunde besteht, oder ob der Patient selbst proaktiv diese Informationen nachfragen muss. Daher reicht für den Schutz des Patienten im Bereich der prädiktiven Ganzgenomsequenzierung die bisherige Verwirklichung des informationellen Selbstbestimmungsrechts durch die gängige Praxis der Patientenaufklärung, -einwilligung und -beratung nicht aus.

Angesichts dieser Problemlage besteht die Herausforderung für das juristische Teilprojekt darin, Regelungen zu finden, die einen gerechtfertigten Einsatz der Ganzgenomsequenzierung in der medizinischen Diagnostik gewährleisten. Das Teilprojekt wird sich an der Entwicklung einzelner Bausteine beteiligen, die zur Lösung maßgeblicher Probleme in Hinblick auf die prädiktiven Potentiale der Ganzgenomsequenzierung gelten können. Die Bausteine stellen Elemente einer „Guten klinischen Praxis“ der Ganzgenomsequenzierung dar. Hierfür sollen gemeinsam mit den Experten der angewandten Ethik (TP 1) Mindestanforderungen an den Aufklärungs- Einwilligungs- und Beratungsprozess erarbeitet werden. Ein Element einer „Guten klinischen Praxis“ unter Bedingungen der Ganzgenomsequenzierung könnte die Regulierung der Fülle an möglichen Zusatzbefunden sein. Die Hypothese, dass ein medizinisch sinnvoller, ökonomisch rationaler und ethisch-juristisch adäquater Filter in Form einer Positivliste ein geeignetes Mittel zur Komplexitätsreduktion darstellt, ist zu prüfen. In persönlichem Austausch mit den involvierten Molekularbiologen, Bioinformatikern und Medizinern soll eruiert werden, ob eine Implementierung der Liste anzustreben ist.

Bei allen Bausteinen wird eine enge Abstimmung mit den gesundheitsökonomischen Auswertungen zur Ganzgenomsequenzierung unter prädiktiven Gesichtspunkten angestrebt, weil die ethisch-rechtliche Beurteilung auch Fragen der Gerechtigkeit in Hinblick auf die Ressourcenverteilung innerhalb der Solidargemeinschaft aller gesetzlich Versicherten zu berücksichtigen hat.


Teilprojekte: 1 (Ethik), 2 (Recht), 3 (Gesundheitsökonomie)

Webmaster: E-Mail
Letzte Änderung: 07.03.2016
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